Triage: Regulierungsspirale und unendlicher Progress

Gesetz wird immer länger, aber ohne die Ex-Post-Triage

Dr. Robert Paquet

Am 13. Oktober fand die erste Lesung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“ statt[1]. Damit soll ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von Dezember 2021 umgesetzt werden, der den Bundestag verpflichtet, wirksame Vorkehrungen gegen eine Benachteiligung von Behinderten in einer Triage-Situation gesetzlich zu regeln. Die Debatte zeigt: Ob Beschluss und Gesetz die Rechtslage tatsächlich verbessern, ist zweifelhaft.

Zu befürchten ist dagegen mindestens, dass das Gericht eine Regelungsdynamik in Gang gesetzt hat, die das Gesundheitswesen auf Jahre hinaus beschäftigen wird. Denn Diskriminierung kann im Medizinsystem ubiquitär befürchtet werden. Mit dem expliziten Verbot der Ex-Post-Triage wird außerdem eine Fehlentscheidung getroffen, die sich für die gesamte Intensivmedizin als verhängnisvoll auswirken könnte. Ob die am 19. Oktober im Gesundheitsausschuss stattfindende öffentliche Anhörung – mit rund 70 Organisationen und Einzelsachverständigen – die Debatte weiterbringt, ist fraglich.

 

Regelungsspirale

Die Notwendigkeit der Triage ist eine Ausnahmesituation. Trotzdem gilt das Grundgesetz. Dabei geht es vor allem um Artikel 3 Absatz 3 (Gleichheit vor dem Gesetz). Das war für alle Sprecherinnen und Sprecher der ersten Lesung des Gesetzentwurfs am 13.10. völlig klar[2]. Die Abgeordnete Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat es treffend formuliert: Dass behinderte Menschen bei der COVID-19-Behandlung diskriminiert werden, war für sie „unvorstellbar. Denn wir haben unser Grundgesetz, und das stellt doch eindeutig klar, dass das Leben eines jungen oder nicht behinderten Menschen nicht mehr wert ist als das eines alten oder behinderten Menschen.“ (S. 6757) Doch heute wisse man, „dass es sehr wohl auch bei uns in Deutschland gravierende Engpässe bei der Versorgung von Coronapatientinnen und -patienten gegeben hat. Dort, wo die Inzidenzen besonders hoch waren, wurden insbesondere alte, aber auch jüngere behinderte Menschen nicht mehr im Krankenhaus behandelt. Wir wissen von Fällen, wo Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen der Behindertenhilfe gebeten wurden – ich zitiere – „Krankenhauseinweisungen besonders sorgfältig zu bedenken“. „Triage vor der Triage“ oder „graue Triage“ nennt man das.“ (ebenda).

Solche Fälle haben zur Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht geführt, das „den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern – glücklicherweise – weitgehend gefolgt“ sei[3]. Ob das so glücklich war, darf angesichts der fortschreitenden Debatte durchaus noch einmal in Frage gestellt werden. Ist es klug, wenn das Gericht vom Gesetzgeber verlangt, das, was eigentlich selbstverständlich ist, in diesem Gesetz noch einmal eigens hervorzuheben? Die Weichenstellung ist gravierend. Das Gericht hat auf die durchaus verbreitete Vorstellung reagiert, Behinderte hätten eine geringere Lebenserwartung (und im konkreten Fall geringere kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit) als Nicht-Behinderte. Um diesem Vorurteil vorzubeugen, müsse die Diskriminierung der Behinderten explizit verboten werden[4]. Die Richtlinien der Intensivmediziner seien nicht ausreichend und gälten nicht verbindlich. Das Problem dabei ist, wenn man den Grundgedanken weiterführt, dass bei jeder gesetzlich geregelten Entscheidungssituation einzelne Diskriminierungsfälle oder Vorurteile den Gesetzgeber verpflichten, sie zu benennen und ihnen mit Sanktionen vorzubeugen. Womit die verfassungsrechtliche Regelung jedoch im Wesentlichen nur noch einmal multipliziert wird. Welche Konsequenzen das hat, wird man gleich sehen.

Die Weisung des Gerichts kommt jedenfalls dem Regulierungseifer unseres Parlaments sehr entgegen. In dieser Logik erklärt insbesondere der frühere Behindertenbeauftragte Hubert Hüppe (CDU/CSU), der „Grundfehler“ des Regierungsentwurfs sei, „dass er die Triage im Infektionsschutzgesetz regelt, also nur für den Fall, dass es aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten gibt. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass alle anderen Triage-Situationen ungeregelt bleiben, also zum Beispiel bei Naturkatastrophen, bei einem Reaktorunfall, bei einem Flugzeugabsturz, Krieg oder Terroranschlag. Ungeregelt bleiben auch alle Situationen zur Zuteilung von Behandlungskapazitäten außerhalb der Intensivmedizin, zum Beispiel Arzneimittel, Blutkonserven oder Plätze im Rettungswagen.“ COVID-19 sei zwar der Anlass gewesen, man müsse aber das Diskriminierungsverbot generell für die Medizin regeln. Dafür müsse man „möglicherweise ein eigenes Gesetz schaffen oder es im AGG[5] regeln.“ (S. 6751)

Aus seiner Sicht verständlich, sieht Hüppe noch weiteren Regulierungsbedarf: Neben den im Gesetz vorgesehenen Regeln zum Mehraugenprinzip, Facharzterfordernis und Dokumentationspflichten mahnt er an: „Allerdings … gibt es, wenn man dagegen verstößt, weder eine Strafe noch ein Bußgeld. Meine Damen und Herren, schauen Sie sich das Infektionsschutzgesetz an! Hinten sind ganz viele Bußgelder aufgeführt, Meldepflichten aufgeführt, Strafvorschriften aufgeführt – alles steht dort, nur nicht bei (der) Triage, und da geht es um Leben oder Tod.“ Darüber hinaus moniert Hüppe im Zusammenhang mit den fehlenden Meldevorschriften, die Behörden „können überhaupt nicht prüfen, weil sie gar nicht wissen, ob so etwas stattgefunden hat.“ (ebenda)[6]

Aber auch das Ministerium ist regulierungsfreudig. Warum hat man es nicht wenigstens im ersten Anlauf mit einer sparsameren Formulierung versucht? Ein klarer Satz, dass auch in der Triage-Situation Behinderte nicht diskriminiert werden dürfen, hätte der Weisung des Bundesverfassungsgerichts Genüge getan. Das Gericht hat zwar Vorschläge zum Verfahren gemacht („Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen oder für die Dokumentation“ etc.), aber keine fein ziselierten Verfahrensregelungen gefordert. Im Gegenteil: Es hat den weiten Spielraum des Gesetzgebers bei der Umsetzung seines Beschlusses betont. Insofern hätte auch ein Erinnerungshinweis für die in der Ausnahmesituation handelnden Ärzte der Zielsetzung des Gerichts entsprochen und Problembewusstsein geschaffen.

Angesichts der ethischen Problematik haben einige Behindertenverbände eine Randomisierung vorgeschlagen. Auch bei den GRÜNEN wird der verzweifelte Vorschlag eines Losverfahrens diskutiert[7]. In der Bundestagsdebatte haben das Katrin Helling-Plahr (FDP) und Ates Gürpinar (DIE LINKE) aufgegriffen und abgelehnt: „Diese Variante überlässt die Entscheidung, wer nun behandelt wird, dem Zufall, gewissermaßen dem Schicksal. Das ist keine zufriedenstellende Variante; sie kann es nicht sein. Aber immerhin wäre sie diskriminierungsfrei.“ (Gürpinar, S. 6755) Auch Dirk Heidenblut (SPD) erklärt: „Ein Losverfahren, ein randomisiertes Verfahren ist unserer Verpflichtung dem Leben gegenüber nicht gerechtfertigt und ist im Zweifel für mich so ein bisschen wie die Flucht aus der Verantwortung.“ Damit wird man aber die Bürde des Wissens nicht los. Das Gebot Leben zu retten, kommt um das Wissen über unterschiedliche Überlebenswahrscheinlichkeiten nicht herum. Es wäre ein Rückfall hinter die Aufklärung, wenn man sich der rationalen Entscheidung auch in der Triage-Situation nicht stellen würde. Dass es – mit vielen Bauchschmerzen – dabei nur um Entscheidungen für weniger große Übel gehen kann, ist jedem klar.

 

Ex-Post-Triage

Auf dem besten Weg zu einer Fehlsteuerung ist der Gesetzentwurf auch in Sachen Ex-Post-Triage. Sie war in der Formulierungshilfe des BMG (vom 5.5.2022) für die Koalitionsfraktionen in § 5c Abs.2 Satz 4 IfSG noch explizit geregelt und auf Seite 22 gut begründet. Durch das Erfordernis der „einvernehmlichen Entscheidung“ dreier Fachärzte sei das Risiko der „unbewussten Stereotypisierung im Rahmen der Entscheidungsfindung zusätzlich verringert.“ Schon wenige Tage nach Vorlage der Formulierungshilfe aus seinem Hause hat sich Gesundheitsminister Lauterbach jedoch davon distanziert und nach Protesten von Behindertenverbänden vor allem die Ex-Post-Triage ausgeschlossen. Sie sei „ethisch nicht vertretbar“. Dem entspricht die aktuelle Fassung des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 20/3877), nach der in § 5c Abs. 2 die Ex-Post-Triage ausgeschlossen wird: „Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen.“ Das ist vorschnell und nicht sachgerecht. Es führt dazu, dass die Abgeordneten der Koalition nicht mehr nachdenken und/oder glauben, in der Debatte ihren Minister decken zu müssen.

Immerhin greift die CDU/CSU das Thema auf. Stephan Pilsinger, selbst Arzt, erklärt: „Nicht per se unmoralisch halte ich die Diskussion um eine Ex-Post-Triage. Denn die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit lässt sich bei vielen Patienten erst nach einem intensivmedizinischen Behandlungsversuch verlässlich abschätzen, wie auch die einschlägigen Fachgesellschaften betonen. Wenn ein klar dem Tode geweihter Intensivpatient das letzte Intensivbett besetzt, während ein anderer Patient mit absehbar höherer Überlebenswahrscheinlichkeit nicht behandelt wird und deswegen auch sterben muss, so ist das ethisch-moralisch zumindest fragwürdig.“ (S. 6757) Seine Fraktionskollegin Borchardt legt nach: „Bei einem starken Zustrom schwerkranker Intensivpatienten und Infektionspatienten (wären) die Intensivkapazitäten auf absehbare Zeit vollständig ausgelastet. Dadurch hätten später eintreffende Patienten – auch mit anderen lebensbedrohlichen Erkrankungen; und die gibt es nun mal auch noch, Herr Minister – eine deutlich verringerte Chance auf eine Intensivbehandlung. … Liebe Kollegen, die Triage ist nicht nur ein Thema der Pandemie. Es kann uns auch in anderen Lebenssituationen treffen. Daher verdient dieses Thema einen ganzheitlichen Ansatz.“ (S. 6758)

Hier sei nur exemplarisch auf die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie & lntensivmedizin hingewiesen[8]. Dort heißt es: „Das Verbot der „Ex-Post Triage“ und die Verlagerung der Entscheidung über Beginn oder Nicht-Beginn einer lebenserhaltenden (= intensivmedizinischen) Therapie in der Notaufnahme unterstellt, dass bereits in der Notaufnahme a) eine belastbare Aussage über die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten getroffen werden kann und b) sich die dort getroffene Prognose im weiteren (intensivmedizinischen) Behandlungsverlauf nicht mehr ändert. Beide Annahmen sind jedoch falsch. … Der Gesetzesentwurf geht weiterhin von der Annahme aus, dass in der Notaufnahme ausreichend Zeit vorhanden ist, bei kritisch kranken Patienten vor der Entscheidung über die Einleitung einer weiterführenden, lebenserhaltenden (und damit intensivmedizinischen) Therapie eine umfassende und konsentierte Bewertung der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit … zwischen zwei oder mehr spezialisierten Fachärzt:innen getroffen werden kann. Diese Annahme ist ebenfalls unzutreffend. In der Notaufnahme muss vielmehr regelhaft – und häufig in Unkenntnis der exakten Diagnose der Grunderkrankung des Patienten und auch in Unkenntnis von dessen Komorbiditäten – unmittelbar mit einer lebenserhaltenden Therapie (z.B. Beatmung) begonnen werden. Vielfach ist eine solche lebenserhaltende Therapie sogar bereits außerhalb der Klinik etabliert worden.“ (S. 4) Dadurch würde „ein archaisch anmutendes ‚First-come-first-served Prinzip‘ etabliert, welches – zu Recht – von den Ärztekammern praktisch aller westlichen Länder abgelehnt wird, weil es – ähnlich wie Losverfahren – mit einer insgesamt höheren Sterblichkeit verbunden ist.“ (S. 5)

Diese Problematik hat auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf aufgegriffen (Drucksache 410/22, Beschluss): „Der Bundesrat bittet daher, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob eine Regelung auch zur Ex-Post-Triage in das Gesetz aufgenommen werden kann, die insbesondere dem bei der Ex-Post-Triage relevant werdenden Aspekt des durch die Behandlungsaufnahme geschaffenen Vertrauens des Betroffenen auf Fortsetzung der Behandlung verfassungsrechtlich Rechnung trägt.“ (S. 2) In der Gegenäußerung der Bundesregierung wird der Bundesrat abgefertigt; dort heißt es nur: Mit dem Verbot der Ex-Post-Triage „wird dem Vertrauen der Patientinnen und Patienten auf Fortsetzung ihrer bereits begonnenen Behandlung Rechnung getragen.“ (BT-Drs. 20/3953, S. 2). Damit kommt eine neue Argumentationsfigur in die Diskussion: das Vertrauen der Patienten.

Der zuständige Minister und die Koalitionsabgeordneten, die das Verbot der Ex-Post-Triage im Gesetzentwurf nicht genug loben können, räumen dem Vertrauen eines Intensivpatienten in die Fortsetzung seiner begonnenen – aber ggf. aussichtslosen – Behandlung einen höheren Rang ein, als dem Vertrauen des Patienten in eine lebensrettende Behandlung, der kurz danach mit dem Rettungswagen ins Krankenaus gebracht wird. Das im Gesetz selbst gesetzte Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit wird für diese Fälle ausgesetzt bzw. ad absurdum geführt. Wo ist die ethische Rechtfertigung für die Höherrangigkeit des Vertrauens in die Fortsetzung einer etwas weiter fortgeschrittenen Behandlung gegenüber dem Vertrauen in die Fortsetzung der Behandlung (etwa durch Notfallmediziner), die sich in einem noch früheren Stadium befindet?

Auch die Intensivmediziner sehen durch diese Regelung ihre Entscheidungsfähigkeit insgesamt gefährdet: „Ohne rechtssichere ‚Ex-Post Triage‘ jedoch wird es überhaupt KEINE Zuteilungsentscheidungen im Bereich der Intensivmedizin geben (dürfen). Der Gesetzesentwurf läuft damit ins Leere und verhindert im Falle eines katastrophalen Ressourcenmangels eine Optimierung der Gesamt-Überlebenswahrscheinlichkeit kritisch kranker Patienten.“ (S. 6) In diesem Sinne haben auch vier einschlägig kompetente Juristinnen und Juristen mit einem eindringlichen Appell auf eine gesetzliche Regelung der Ex-Post-Triage gedrungen[9]: „Wenn wir mit dem Bundesverfassungsgericht die akute kurzfristige Überlebenschance als Kriterium anerkennen …, kann es keinen Unterschied machen, ob vor oder nach einem Behandlungsbeginn entschieden wird. Realer scheint eine andere Gefahr, die selten laut, aber am Rande jeder Diskussionsrunde geäußert wird: Wenn Ärzte die Ressourcen nicht neu zuteilen können, werden Patienten mit schlechterer Prognose womöglich gar nicht erst behandelt – um Plätze frei zu halten.“

In dem Artikel wird ergänzt: „Dass eine eingeleitete Behandlung wieder abgebrochen werden könnte, wirkt verunsichernd. Aber die Vorstellung, bei einem akuten Notfall gar nicht erst behandelt zu werden, dürfte kaum weniger beängstigend sein. … Das Leben des neu eingelieferten Patienten ist nicht mehr oder weniger schützenwert als das Leben desjenigen, der zufällig wenige Stunden vorher ins Krankenhaus kam.“ Der Entwurf treffe mit der Ablehnung der Ex-Post-Triage nicht nur eine „falsche Entscheidung“. Er schaffe „nicht einmal die versprochene Rechtssicherheit für Ärzte“, weil er sich zu den strafrechtlichen Aspekten überhaupt nicht äußere.

 

Weitere Aspekte und offene Fragen

Bemerkenswert wenig – im Gegensatz zu den eher abstrakt diskutierten ethischen Fragen – wird über die praktische Situation gesprochen. Der Stellungnahme der Intensivmediziner zufolge dürfte es nämlich schwierig sein, im konkreten Fall die Behinderung und die Komorbiditäten eines Patienten überhaupt zu erkennen. Die bekannten Probleme der elektronischen Patientenakte spielen auch hier mit herein. Auch die Verfügbarkeit der Fachärzte, die „über mehrjährige Erfahrung im Bereich Intensivmedizin verfügen“, dürfte in der akuten Situation nicht immer gewährleistet sein. Selbst dass sie die „von der Zuteilungsentscheidung betroffenen Patientinnen und Patienten unabhängig voneinander begutachten“, dürfte auf einer überbeanspruchten Intensivstation nicht einfach sein, zumal die Informationslage unvollständig ist und sich in wenigen Minuten ändern kann. Wenn Patientinnen und Patienten mit einer Behinderung oder einer Komorbidität von der Zuteilungsentscheidung betroffen sind, „muss die Einschätzung einer hinzuzuziehenden Person berücksichtigt werden, durch deren Fachexpertise den besonderen Belangen dieser Patientin oder dieses Patienten Rechnung getragen werden kann“ (§ 5c Abs. 3). Auch das ist in praxi schwer vorstellbar; sinnvoll wäre z.B. die Konsultation des behandelnden Facharztes der betreffenden Person. Wie würde er aber ausfindig gemacht und wie kann er erreicht werden. Reichte es aus, wenn ein Krankenhaus mit Intensivstation eine Liste mit (eigenen?) Fachärzten zu vielen (denkbaren/häufigen?) Behinderungen und Komorbiditäten pflegt, wozu die Kliniken nach § 5c Abs. 5 auch verpflichtet werden sollen. Dabei ist die eingeräumte Möglichkeit einer „telemedizinischen Konsultation“ immerhin eine Erleichterung. Nicht zuletzt ist die verlangte sorgfältige Dokumentation (Abs. 4) eine Anforderung, die in einer echten Katastrophensituation, die nicht nach einem Tag zu Ende geht, schwer einzulösen. Angesichts einer „Bergamo-Situation“ erscheinen diese Maßgaben als ziemlich treuherzig.

Treuherzig in der Debatte war auch die Einlassung von Ates Gürpinar (DIE LINKE): Er meint, das Gesetz mache „sehr deutlich…, wie unmoralisch das profitorientierte System“ sei, das im Gesundheitssystem voranschreite, dort aber nichts verloren habe. „Das profitorientierte System schafft künstliche Knappheit. Für Katastrophen und unvorhergesehene Ereignisse müssen Betten, Ressourcen und Personal vorgehalten werden – etwas, was finanziell nur ein Kostenpunkt ist, wenn es nicht zum Einsatz kommt. Da das Gesundheitssystem aber auf Profitorientierung und damit auch auf Sparen ausgelegt wurde, wurden jahrzehntelang Betten und Personal abgebaut.“ (S. 6754) Damit geht seine Analyse von völlig falschen Fakten aus. In Deutschland gibt es mehr Intensivbetten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl als in fast allen vergleichbaren Ländern. Die Behandlung auf Intensivstationen ist für die Kliniken vergleichsweise lukrativ. Die aufmerksamen Beobachter der Nachrichten werden sich daran erinnern, dass in den ersten Wellen der Pandemie gegenüber den Kliniken der Vorwurf erhoben wurde, sie würden sehr viel mehr COVID-19-Patienten auf Intensivstationen behandeln als in vergleichbaren Ländern bzw. als sinnvoll.

Dabei drängen sich weitere Fragen auf. Und da hat Gürpinar an anderer Stelle recht, wenn er fragt: „Wenn wir nun anfangen, den Grad der Überlebenswahrscheinlichkeit zu vergleichen, dann haben bestimmte Personengruppen unvermeidbar Nachteile. Dann diskriminieren wir. Auch wenn man dem Gesetz den verzweifelten Versuch ansieht, Diskriminierungen rauszuhalten, wird es niemals diskriminierungsfrei sein.“ (ebenda). Auch Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beklagt, dass eine „gründliche gesellschaftliche Diskussion“ nicht stattgefunden habe. Offen bleibe z.B. die Frage: „Ist der Gesetzentwurf überhaupt dazu geeignet, einen gleichberechtigten Zugang zu überlebensnotwendigen intensivmedizinischen Behandlungen zu gewährleisten? Oder ist das in dieser Form formulierte Kriterium der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ möglicherweise von vornherein immanent diskriminierend? Und wie kann gewährleistet werden, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung im Krankenhaus für alle Menschen gesichert wird und eine sogenannte Vor-Triage auch in Zukunft ausgeschlossen wird?“ (S. 6757f.) So kann man theoretisch die Welt umarmen, und sich zugleich der Klärung praktischer Fragen verweigern.

 

[1] Bundestags-Drucksache 20/3877

[2] Bundestags-Plenarprotokoll vom 13.10.2022, Seite 6749ff.

[3] Beschluss des Ersten Senats vom 16. Dezember 2021 – 1 BvR 1541/20 – https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/12/rs20211216_1bvr154120.html

[4] Der entscheidende Satz des Gerichtsbeschlusses findet sich in Randziffer 109: „Besteht das Risiko, dass Menschen in einer Triage-Situation bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt werden, verdichtet sich der Schutzauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu einer konkreten Pflicht des Staates, hiergegen wirksame Vorkehrungen zu treffen.“ „Anhaltspunkte“ für das Risiko sieht das Gericht in „subjektiven Momenten“ der Ärzte und den Darlegungen mehrerer „sachkundiger Dritter“, „dass eine unbewusste Stereotypisierung von behinderten Menschen diese bei medizinischen Entscheidungen benachteilige“ (Randziffer 113).

[5] Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

[6] Was übrigens die angeblich beabsichtigte Evaluierung des Gesetzes, die im Gesetz selbst jedoch nicht geregelt ist, praktisch verhindert dürfte.

[7] Tim Szent-Ivanyi: „Triage: Grüne kritisieren Gesetzentwurf und schlagen Losverfahren vor“, in rnd.de online vom 12.09.2022 https://www.rnd.de/politik/triage-gruene-kritisieren-gesetzentwurf-und-schlagen-losverfahren-vor-EEP4EWVEJNALXIOURJBA2NKPLI.html

[8] Siehe Stellungnahmen für die Anhörung am 19.10.2022 im Ausschuss: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw42-pa-gesundheit-triage-914490

[9] Tatjana Hörnle, Elisa Hoven, Stefan Huster und Thomas Weigend: „Wer darf weiterleben?“, in FAZ vom 28.07.2022, Seite 6


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