„Praxis 2030“: Nur echte Digitalisierung schließt Versorgungslücke

Vlad Lata, Founder & CEO, Avi Medical

Es ist ein Dilemma. Immer weniger Ärzt:innen stehen zur Verfügung, um zunehmend mehr Menschen zu versorgen. Schon heute klafft eine riesige Lücke in der ärztlichen Versorgung, die viele Patient:innen mit voller Wucht triftt: 30 Prozent der Ärzt:innen arbeiten nur noch in Teilzeit. Allein in Berlin sind 100 freie Kassensitze nicht belegt. Bis 2035 werden 11.000 Hausärzt:innen aus dem Berufsleben ausscheiden.

Damit liegt die wichtigste Frage auf der Hand: Wie stellen wir langfristig eine qualitativ hochwertige und zeitgemäße ambulante Versorgung sicher? Ohne eine starke Allianz aus innovativen Anbietern und Gesundheitspolitik wird sich diese Frage nicht beantworten lassen. Deshalb plädiere ich dafür, die folgenden Schritte gemeinsam anzugehen: Damit der Fachkräftemangel von etwa 2030 an nicht die komplette ärztliche Versorgung lahmlegt, bedarf es neben einzelner Vertragsärzt:innen vermehrt Arztnetzwerken, MVZs oder Gesundheitszentren, die Ärzte im Anstellungsverhältnis beschäftigen und effizienter in der Patientenversorgung sind. Entscheidend sind dabei die richtigen Rahmenbedingungen: Neben standardisierten und automatisierten Prozessen müssen wir Ärzt:innen attraktive und flexible Arbeitsbedingungen bieten und sie von zeitraubenden bürokratischen Aufgaben entlasten. Gleichzeitig sind die Potenziale des nicht ärztlichen Personals bei weitem noch nicht voll ausgeschöpft. Denn Medikamentenmanagement, Patientenberatung, Unterstützung in der Anwendung von Medical Devices – all das müssen nicht immer nur die Ärzt:innen machen.

Der überwiegende Anteil der im Gesundheitssystem aktuell genutzten Softwarelösungen hat lediglich prozessunterstützende Wirkung – statt auf Papier schreiben wir an einem Computer. Dabei könnten Arztpraxen schon heute viel effizienter arbeiten: durch Automatisierung der Terminkoordination, intelligente Aufgabenverteilung in der Praxis, zeitgemäßen Informationsaustausch zum Patienten und zurück, z.B. per Apps. Alleine das sparte uns enorme Ressourcen.

Gleichzeitig ist unbestritten, dass moderne Technologie auch die Arzt-Patienten-Beziehung selbst auf ein neues Level bringt. Die Möglichkeiten sind schier unbegrenzt: vom hochauflösenden Videodienst mit dem Arzt, über eine eAU oder ein E-Rezept, bis hin zur Überweisung zum Labor oder zu Fachärzt:innen – all das lässt sich in einer App abbilden. Self-Service-Anwendungen wie Terminmanagement, automatisierte Erinnerungsfunktionen oder Symptomchecker unterstützen Patient:innen darüber hinaus.

 

Sektorentrennung durchbrechen

Konkret muss eine Arzt-App zum „verlängerten Arm“ des Arztes werden, alle organisatorischen Aufgaben zu übernehmen in der Lage sein und rund um die Uhr für die Patient:innen da sein, um im richtigen Zeitpunkt die richtige Empfehlung abzugeben und im Notfall die erforderlichen Beteiligten zu informieren. Wenn nicht aus jedem Grund ein Besuch in der Praxis notwendig ist, schont das die Ressourcen im Praxisalltag und hilft zudem ganz besonders den vielen Patient:innen mit chronischen Erkrankungen, die schon jetzt ganz besonders unter dem steigenden Ärztemangel leiden.

Noch ist unser Gesundheitssystem durch eine starke Sektorentrennung gekennzeichnet. Der existierende „Flickenteppich“ aus unterschiedlichen Softwarelösungen mit seinen inkompatiblen Schnittstellen verstärkt diese Trennung, die den so wichtigen Datenaustausch schlicht und ergreifend blockiert. Hier ist dringend die Politik gefragt, Regulierungen so auszugestalten, dass Daten interoperabel und damit vernetzt nutzbar werden. Denn nur die kontinuierliche Messung und Dokumentation von Gesundheitsdaten ist in der Lage, Ärzt:innen mithilfe von KI-gestützten Systemen in ihrer Behandlungsentscheidung zu unterstützen und individuelle Therapien zu ermöglichen.

 

Medizinischen Beruf neu strukturieren

Unsere Gesundheitsversorgung wird sich nur durch einen gemeinsamen großen Wurf sicherstellen lassen, sprich: Wir müssen uns trauen, die medizinischen Berufe neu zu strukturieren und einer echten Digitalisierung eine Chance zu geben. Im privaten Sektor ist in den letzten Jahren bereits ein schnell wachsendes Ökosystem an Med-Tech-Startups entstanden. Hervorragend ausgebildete und motivierte Teams, die ihren Teil zur Sicherung unserer Gesundheitssysteme beitragen wollen. Das geht aber nicht ohne die Unterstützung der Politik. Meine Forderungen: Bereitstellung der notwendigen IT-Infrastrukturen, Förderung von Innovationen und Start-ups, Investitionen in Telemedizin und KI sowie Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für die vollumfassende Nutzung und den Austausch von Gesundheitsdaten. Nur durch einen gemeinsamen Kraftaufwand von Privatwirtschaft und Staat schaffen wir die Blaupause für die „Praxis 2030“, Synonym dafür, unser Versorgungsniveau nicht nur zu halten, sondern langfristig durch den Einsatz von Technologie und Expertise sogar weiter zu verbessern!


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