27.10.2023
Genug geredet: Entbudgetierung muss jetzt kommen
Prof. Dr. med. Nicola Buhlinger-Göpfarth, Bundesvorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes
„Wo bleibt sie?“ Das ist die Frage, die wir Hausärztinnen und Hausärzte uns nun seit Monaten stellen. Gemeint ist natürlich die versprochene Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen. Diese wurde nicht nur im Koalitionsvertrag beschlossen, sondern seitdem von den verschiedensten Ampel-Politikerinnen und -Politikern immer wieder klipp und klar zugesagt – unter anderem auch mehrfach vom Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach.
Längst ist auch klar, wie die Entbudgetierung konkret umgesetzt werden müsste, damit die angestrebten Ziele vor dem Hintergrund des absurd komplizierten EBM-Systems am Ende des Tages wirklich erreicht werden: Es braucht eine so genannte MGV plus. Dabei steht dem hausärztlichen Versorgungsbereich auch zukünftig ein fester Geldbetrag für die Versorgung der Bevölkerung zur Verfügung. Wenn dieser nicht ausreicht und weitere Leistungen erbracht werden müssen, werden sie entsprechend von den Krankenkassen zusätzlich vergütet. Genau dieses Modell ist für die Kinder- und Jugendärzte auch schon gesetzgeberisch umgesetzt worden. Man würde hier also kein Neuland betreten.
Fatale Auswirkungen der Budgetierung
Es ist kein Geheimnis, dass nicht alle Regionen gleichermaßen von Budgetierungen betroffen sind. Dort, wo es der Fall ist, sind die Auswirkungen jedoch fatal. Beispiel Hamburg: Regelmäßig wird dort bis zu einem Viertel des Umsatzes gekürzt. Nächstes Quartal soll es sogar noch mehr werden. Was viele in diesem Zusammenhang nicht verstehen (oder verstehen wollen): Diese Kürzungen werden komplett vom Gewinn der Praxisinhaberinnen und Praxisinhaber abgezogen, denn die Kosten für Miete, Personal usw. bleiben ja unverändert – egal, ob budgetiert wird oder nicht. Konkret bedeutet das, dass sich in Hamburg oder dem ebenfalls stark betroffenen Berlin viele Kolleginnen und Kollegen nur noch stark gekürzte mini-Gehälter auszahlen können. Hier geht es nicht mehr um die Frage, ob die Hausärztinnen und Hausärzte eine faire Entlohnung für ihre Arbeit erhalten oder nicht, sondern, ob sie davon noch ihren Lebensunterhalt vernünftig bestreiten oder die Gehälter ihrer Praxisteams zahlen können. Es geht schlichtweg um wirtschaftliche Existenzen. Wie gesagt: Nicht überall ist die Situation identisch. Aber die Folge darf ja wohl nicht sein, dass in Kauf genommen wird, die betroffenen Kolleginnen und Kollegen im Stich zu lassen – und sie für die Versorgung zu verlieren!
Trotz dieser klaren Faktenlage gibt es dennoch immer noch Widerstand gegen eine Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen – sowohl in Teilen der Politik als auch von Krankenkassen. Dabei wird häufig mit Argumenten gearbeitet, die verdeutlichen, wie wenig viele der Protagonisten über die hausärztliche Tätigkeit wissen.
Ein Aspekt, der immer mal wieder in den Raum geworfen wird, ist, dass eine massive Leistungsausweitung drohen könnte. Das ist jedoch in weiten Teilen der hausärztlichen Versorgung überhaupt nicht möglich. Gesprächsleistungen, die ja einen Großteil unserer täglichen Arbeit ausmachen und die der Kern einer patientenorientierten Versorgung sind, können per Definition gar nicht unendlich ausgeweitet werden, denn diese erfordert ärztliche Arbeitszeit. Diese ist nicht nur endlich, sondern schon heute so knapp bemessen, dass eine Ausweitung de facto nicht stattfinden kann.
Persönliche Zuwendung ist ausschlaggebend
In diesem Punkt unterscheidet sich die hausärztliche Tätigkeit fundamental von der vieler fachärztlicher Kolleginnen und Kollegen. Die hausärztliche Tätigkeit ist eben nicht geprägt von technischen Leistungen, von denen immer mehr erbracht werden könnten, sondern von der persönlichen Zuwendung. Hinzu kommt: Viele Leistungen sind im EBM so schlecht bewertet, dass keine Kollegin oder Kollege mit ihnen reich werden kann. Um es einmal runterzubrechen: Man kann so viele Hausbesuche fahren wie man will – reich wird man damit unter Garantie nicht.
Wie weit der Gedanke der Leistungsausweitung an der Realität vorbei führt, zeigt auch die Tatsache, dass wir als Verband uns ja seit vielen Jahren massiv dafür einsetzen, mehr Pauschalen einzuführen und endlich davon wegzukommen, jeden Handgriff mit einer Punktzahl im EBM zu hinterlegen. In den Verträgen zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) machen wir dies ja schon sehr konsequent. Es liegt aber in der Natur von Pauschalen, dass sich diese nicht beliebig ausweiten lassen.
Ein zweites gern verwendetes Argument ist, dass eine Entbudgetierung hausärztlicher Leistungen die Krankenkassen, und schlussendlich die Beitragszahler, überfordern würde. Zunächst gilt es festzuhalten, dass, wie bereits beschrieben, nicht alle Regionen gleichermaßen von Budgetierungen betroffen sind und folglich auch nicht gleichermaßen von einer Entbudgetierung profitieren würden. Die Kosten sind also übersichtlich. Zum anderen muss berücksichtigt werden, was die Kosten wären, wenn man es nicht tut: Sollte sich die finanzielle Situation in den besonders betroffenen Regionen nicht schleunigst deutlich verbessern, dann wird es dort immer weniger Hausärztinnen und Hausärzte geben.
Wenn die hausärztliche Versorgung wegfällt, werden sich die Patientinnen und Patienten andere Wege ins Gesundheitswesen suchen, beispielsweise vermehrt direkt in den stationären Bereich oder die gebietsfachärztliche Versorgung. Dass das die Kosten weiter explodieren lassen würde, ist ein no brainer. Gerade in Zeiten klammer Kassen sollte es also im Interesse der Kostenträger und am Ende des Tages der Beitragszahlenden sein, mehr und nicht weniger hausärztliche Versorgung anzubieten. Und um das auch mal klar in Richtung der politisch Verantwortlichen zu sagen: Wer seit Jahren die Krankenhäuser mit Milliarden über Milliarden extra subventioniert und ebenfalls mit Milliarden Gesundheitskioske aus dem Boden stampfen will, dem nehmen wir es nicht ab, wenn er so tut, als ob der verhältnismäßig geringe Betrag für die hausärztliche Entbudgetierung nicht stemmbar wäre.
Hausärztliche Tätigkeit leichtfertig aufs Spiel gesetzt
In unzähligen nationalen und internationalen Studien wurde immer wieder belegt, dass eine starke primärärztliche Versorgung zu den zentralen Elementen eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems gehört. Das wird vor dem Hintergrund der immer weiter steigenden Morbidität von Tag zu Tag dringlicher. In Deutschland verfügen wir, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, glücklicherweise über eine sehr gute hausärztliche Versorgungsstruktur. Anstatt diesen Vorteil zu nutzen und zu stärken, wird er leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Eine Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen würde zum einen die besonders betroffenen Regionen kurzfristig entlasten und wäre gleichzeitig ein wichtiger Pull-Faktor für den hausärztlichen Nachwuchs, denn so würde eine Investitionssicherheit entstehen, die die Attraktivität des Berufsbildes nachhaltig steigern würde.
Natürlich kann die Entbudgetierung hausärztlicher Leistungen nur der erste Schritt eines ganzen Maßnahmenbündels zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung sein. Begleitend braucht es endlich eine Strukturpauschale für hausärztliche Versorgerpraxen, um diejenigen, die an vorderster Front die Versorgung sicherstellen, zu entlasten. Langfristig wird kein Weg daran vorbeiführen, die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) zur zentralen Versorgungsform auszubauen. Schon heute nehmen knapp neun Millionen Patientinnen und Patienten freiwillig teil – ohne dass sie in der Regel hiervon in irgendeiner Weise finanziell profitieren. Die HZV wächst mittlerweile besonders stark auch außerhalb der bekannten HZV-Regionen Bayern und Baden-Württemberg. Sie ist schon lange kein regionales Projekt mehr.
Klar ist aber natürlich auch, dass der EBM noch lange eine sehr zentrale Rolle spielen wird. Daher ist die Einhaltung des Versprechens, die Entbudgetierung zeitnah umzusetzen, von zentraler Bedeutung für viele Kolleginnen und Kollegen, ohne die Millionen Menschen ohne Hausärztin oder Hausarzt dastehen würden.
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