Die elektronische Gesundheitsakte: Nutzen auch für Leistungserbringer

Hans-Jörg Gittler, Vorstandsvorsitzender der BAHN-BKK

Über viele Jahre fristete die in § 68 SGB V bereits seit Anfang 2004 den Kassen eingerichtete Möglichkeit zur finanziellen Unterstützung der Versicherten bei der Speicherung und Übermittlung patientenbezogener Daten mittels einer von Dritten bereitgestellten elektronischen Gesundheitsakte (eGA) weitgehend ein Schattendasein. Mangelnde Vernetzungsmöglichkeiten, nicht geklärte Fragen des Datenschutzes und technische Unzulänglichkeiten ließen für den Versicherten keinen Zusatznutzen erkennen. Erst mit der zunehmenden Digitalisierung in allen Lebensbereichen durch die breite Nutzung von Smartphones, Wearables und entsprechende Apps geriet die eGA wieder in den Fokus. Große Teile der niedergelassenen Ärzte fürchteten allerdings einen zusätzlichen bürokratischen Aufwand bei Administration zahlreicher Gesundheitsakten verschiedener Anbieter. Der Vorstandsvorsitzende der KBV, Dr. Andreas Gassen, hatte daher im vergangenen Herbst noch einmal treffend betont, dass digitale Produkte wie die eGA interoperabel, aufwandsneutral und für die Versorgung nutzbar sein müssten.  

Nachdem die TK sowie das AOK-System Anfang des Jahres bereits separate Lösungen einer eGA für ihre Versicherten präsentiert haben, hat nun ein Konsortium aus gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen und dem IT-Dienstleister BITMARCK mit der Firma Vivy GmbH eine digitale Gesundheitsplattform mit entsprechender App initiiert. Gegenstand des Gesamtsystems ist eine elektronische Gesundheitsplattform mit der Funktionalität einer elektronischen Gesundheitsakte und weitergehenden Funktionalitäten. Den von den Leistungserbringern geforderten Bedingungen wurde bei der Entwicklung Rechnung getragen.  

Während mittlerweile sämtliche Unterlagen in nahezu allen Lebensbereichen digital zur Verfügung stehen, war dies bei sensiblen Gesundheitsdaten – aus teilweise natürlich nachvollziehbaren Gründen – bislang nicht der Fall. Die Vorteile der Vivy-App für den Versicherten liegen insbesondere darin, dass dieser darüber nun Gesundheitsdaten wie beispielsweise Arztbriefe, Befunde, Laborwerte, Medikationspläne, Notfalldaten und Impfinformationen speichern und nach Bedarf mit Ärzten sicher austauschen kann. Für ihn erschließt sich also ein gewisses technisches Rationalisierungspotenzial. Die Entscheidung, welche Daten dem Arzt oder anderen Akteuren im Gesundheitssystem zur Verfügung gestellt werden sollen, obliegt dabei ausschließlich dem Versicherten selbst.  

Vivy-Nutzer können Unterlagen von ihrem Arzt anfordern. Hierzu wird über die Vivy Plattform an den Leistungserbringer eine E-Mail geschickt. Diese E-Mail beinhaltet einen temporär gültigen einmal verwendbaren Upload-Link, über den der Arzt Dokumente asymmetrisch Ende-zu-Ende verschlüsselt übermitteln kann. Diese Dokumente werden mit dem öffentlichen Schlüssel des Kunden verschlüsselt. Dadurch kann nur der Kunde, der über den Schlüssel verfügt, die Daten auf seinem Smartphone öffnen. Ärzte haben die Möglichkeit, die Daten per Fax (wie heute noch oft üblich) an die Akte des Nutzers zu übermitteln. Da das Fax-Protokoll keine Verschlüsselung vorsieht, findet eine Verschlüsselung erst bei Erhalt der Unterlagen statt. Ärzte haben die Möglichkeit, Daten über einen Druckertreiber direkt in die Gesundheitsakte zu übermitteln. Dokumente werden hierbei asymmetrisch Ende-zu-Ende verschlüsselt. Hierfür werden die Dokumente mit dem öffentlichen Schlüssel des Kunden verschlüsselt. Dadurch kann nur der Kunde, der über den Schlüssel verfügt, die Daten auf seinem Smartphone öffnen. Auch verbessern digitale Prozesse den Komfort für Patienten: Vivy bietet eine Erinnerungsfunktion für Arzttermine und die Medikamenteneinnahme und lässt Versicherte ihre Überweisungen oder Leistungsübersichten unkompliziert verwalten.  

Die Übermittlung von Daten in umgekehrter Richtung – also vom Versicherten zum Arzt – erfolgt durch Teilen eines einmaligen Links und eines Codes, über welchen der Arzt für einen begrenzten Zeitraum Zugriff zum jeweiligen Dokument erhält. Durch diesen unkomplizierten, aber sicheren Datenaustausch wird eine Voraussetzung für die ursprüngliche Intention digitaler Lösungen im Gesundheitssystem geschaffen: die Reduzierung von Mehrfachbehandlungen, die Identifikation von Medikamenten-Unverträglichkeiten und die Festlegung zielgenauerer Therapien. Zur Übertragung der Daten nutzt Vivy ein so genanntes KYC-Verfahren (Know-Your-Customer) mit Video-Identifikation, während andere Lösungen hier den klassischen Briefverkehr nutzen.  

Es wird damit deutlich, dass die eGA in dieser Ausgestaltung auch für Leistungserbringer – bei einfacher Handhabung – einen erheblichen Zusatznutzen impliziert. Ärzte können Untersuchungsdaten beispielsweise sehr einfach in der Vivy-App ihrer Patienten bereitstellen, ohne dafür eine spezielle Software installieren zu müssen. Ein Web-Upload aus der Praxissoftware heraus oder ein Fax an Vivy sind ausreichend. Die unterschiedlichen Übertragungsmethoden unterliegen dabei einem permanenten Optimierungsprozess. Die Anbindung von Krankenhäusern und anderen Einrichtungen im stationären Bereich, wie z.B. Rehakliniken, ist trotz der unterschiedlichen EDV-Systeme ebenfalls möglich. Die Vorteile – für den Versicherten wie für die Einrichtung – werden auch hier deutlich. So kann der Versicherte seine Unterlagen über die App künftig bei der Anreise bzw. Einweisung digital mit sich führen, in den Kliniken müssen diese dann nicht mehr aufwändig erfasst und eingescannt werden.  

Durch die Unterstützung der Lösung durch eine breite Kooperation zwischen verschiedenen privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen (Allianz, DAK, BKKen, IKKen) wird die von den Leistungserbringern gewünschte Homogenität zu einem erheblichen Teil sichergestellt. Die Nutzung der App ist dabei allerdings nicht von der Mitgliedschaft in einer bestimmten privaten oder gesetzlichen Krankenkasse abhängig. Es handelt sich also um eine offene Lösung, bei der zudem jeder Arzt die Möglichkeit hat, problemlos Dokumente mit seinen Versicherten auszutauschen. Da der Nutzer der Vivy-App Eigentümer seiner Daten ist und frei über sie bestimmen kann, besteht für ihn auch die Möglichkeit, seine Daten bei Bedarf zu exportieren und in die eGA eines anderen Anbieters einzuspielen, sofern diese einen Import ermöglicht. Aktuell ist die Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte (ePA) durch die gematik noch nicht abgeschlossen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat kürzlich betont, die Telematik-Infrastruktur aber in jedem Fall weiterentwickeln zu wollen, gerade hinsichtlich der Nutzung von mobilen Endgeräten. Eine Anbindung der Vivy-Lösung an die Telematik-Infrastruktur ist dabei grundsätzlich vorgesehen. Sie ist so aufgebaut, dass sie ohne große Probleme  mit anderen Lösungen gekoppelt werden kann und eine nutzbringende Ergänzung der ePA darstellen wird.  

Der Versicherte ist mit der eGA in dieser Ausgestaltung erstmals der Lage, grundsätzlich alle an seiner Versorgung beteiligten Akteure – Praxen, Labore, Krankenhäuser, Krankenkassen – zu verbinden. Die von der Ärzteschaft als Bedingung genannten Kriterien werden dabei erfüllt. Die ersten Kassen und Versicherungen werden nun zeitnah damit beginnen, ihren Versicherten die neue Gesundheitsakte anzubieten. Eine breite Nutzung und Akzeptanz durch alle Akteure würde einen wesentlichen Schritt zu einer sinnvollen, auf die Optimierung der Versorgung abzielende Digitalisierung im Gesundheitswesen darstellen.


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