Evidenz in der GKV-Finanzierung: Abbildung vulnerabler Gruppen im Morbi-RSA

Bettina am Orde, Vorsitzende der Geschäftsführung der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See und Geschäftsführerin der KNAPPSCHAFT

Die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist ein Dauerthema mit vielfältigen Facetten. Die langfristige Stabilisierung der GKV-Finanzen hat für die Beitragszahlenden und für die Krankenkassen Priorität. Die Krankenkassen erwarten von der Bundesregierung, die fehlenden Mittel nicht allein durch die Beitragszahlenden zu generieren, sondern im Gegenteil deren Entlastung durch Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen.

Unabhängig davon ist es wichtig, die in jedem Fall begrenzten finanziellen Ressourcen der GKV fair auf die Krankenkassen zu verteilen, damit alle GKV-Versicherten – losgelöst davon, wo sie versichert sind – eine qualitativ hochwertige und effiziente gesundheitliche Absicherung bekommen. Insofern gilt es, die Krankenkassen insgesamt in die Lage zu versetzen, ihre unterschiedliche Klientel gut zu versorgen – und zwar zu einem angemessenen Preis, d. h. ohne dies im Zusatzbeitrag abzubilden. Deshalb gibt es seit 2009 den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA), der von Beginn an so ausgelegt ist, dass er beständig weiterentwickelt werden muss, um seine Zielgenauigkeit zu verbessern und zu erhöhen. Unter anderem macht die demografische Veränderung in Deutschland den Druck zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA offenkundig.

Neben dem allgemeinen demografischen Aspekt geht es bezüglich des Veränderungsdrucks auch um die sogenannten vulnerablen Gruppen, die sich über die gesetzlichen Krankenkassen ungleich verteilen. Gemeint sind erwerbsgeminderte Menschen ebenso wie Pflegefälle, insbesondere in der häuslichen Pflege, und auch zuzahlungsbefreite Versicherte. Die Zahlen der KNAPPSCHAFT begründen berechtigte Zweifel daran, dass diese vulnerablen Gruppen zurzeit ausreichend im Morbi-RSA berücksichtigt sind. Konsequenz ist, dass Krankenkassen, die überdurchschnittlich viele Versicherte dieser Gruppen versichern und adäquat versorgen (Versorgerkassen), finanziell das Nachsehen haben gegenüber Krankenkassen, bei denen diese Klientel nicht vergleichbar stark vertreten ist.

 

Faire Wettbewerbsbedingungen für die Kassen

Systematisch zu geringe Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für die Leistungsausgaben müssen im Grundsatz durch höhere Zusatzbeiträge ausgeglichen werden, wodurch sich die Position der sogenannten Versorgerkassen im Wettbewerb verschlechtert. Risikoselektion kann eine Folge sein. Der Morbi-RSA hat die Aufgabe, Risikoselektion zu vermeiden. Die Krankenkassen sollten daher von der Politik mit fairen Wettbewerbsbedingungen unterstützt werden. Meiner Einschätzung nach wird darüber hinaus die Berücksichtigung vulnerabler Gruppen im Morbi-RSA nicht mehr lange vorrangig im Fokus von Versorgerkassen stehen, die vermehrt ältere und multimorbide Menschen versichern. Die demografische Entwicklung wird über kurz oder lang GKV-weit ein vermehrtes Interesse an entsprechender Evidenz wecken.

Gesetzliche Änderungen am Morbi-RSA gab es zuletzt mit dem „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz“ in der vergangenen Legislaturperiode. Mit ihm wurden in den Morbi-RSA eine Manipulationsbremse aufgenommen, die die Finanzplanung der Krankenkassen nicht sicherer macht, ein Risikopool für sogenannte Hochkostenfälle und ein kompromisshaft als Sammelmerkmal eingeführter Regionalfaktor. Letzterer setzt sich aus ganz unterschiedlichen Komponenten zusammen, von denen eine Komponente Pflegebedürftigkeit abbildet. Dies erfolgt jedoch nicht etwa versichertenindividuell, sondern pauschal auf eine Region bezogen und somit nicht zielgenau. Das Merkmal zur Berücksichtigung von Erwerbsminderung wurde gestrichen.

Trotz vieler gesetzlicher Änderungen am Morbi-RSA gibt es jedoch weiterhin Hinweise darauf, dass die Leistungsausgaben der Krankenkassen für Pflegebedürftige, zuzahlungsbefreite Versicherte und Beziehende von Erwerbsminderungsrente durch die Zuweisungen über den Morbi-RSA aus dem Gesundheitsfonds nicht gedeckt werden. So liegen beispielsweise die Zuweisungen aus dem Morbi-RSA für Pflegebedürftige bei der KNAPPSCHAFT jährlich rund 800 Millionen Euro unter den Ausgaben.

 

GKV-weite Evidenz erforderlich

Mein Punkt ist, dass wir nicht nur Erkenntnisse einzelner Krankenkassen, sondern GKV-weite Evidenz darüber brauchen, ob vulnerable Gruppen im Morbi-RSA derzeit so abgebildet werden, dass Risikoselektion verhindert wird. Dazu ist es zunächst notwendig, wissenschaftliche Evidenz zu erzeugen. Und wenn diese vorliegt, sollte politisch über die Weiterentwicklung des Morbi-RSA entschieden werden.

Herbeiführen lässt sich Evidenz dadurch, dass die Evaluation des wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs beim Bundesamt für Soziale Sicherung im Jahr 2024 um die Begutachtung der Merkmale vulnerabler Gruppen ergänzt wird. Allerdings liegen ihm die dafür notwendigen versichertenbezogenen Daten zumindest über Pflegebedürftige und Zuzahlungsbefreite aktuell nicht vor. Und wo keine Daten, da auch keine Evidenz. Deshalb halte ich es für erforderlich, dass die zur Untersuchung notwendigen Daten dem wissenschaftlichen Beirat geliefert werden. Sie sind bei den Krankenkassen vorrätig. Damit diese Datenlieferung erfolgen kann, bedarf es einer rechtlichen Grundlage. Voraussetzung dafür ist ein Commitment der politisch Verantwortlichen noch im Sommer 2023. Dies würde keine gesetzliche Änderung am Morbi-RSA selbst bewirken, sondern den Wissenschaftlichen Beirat in die Lage versetzen, Evidenz hinsichtlich vulnerabler Gruppen zu schaffen.

 

Evaluation des Morbi-RSA rechtzeitig beginnen

Diese unabhängige Prüfung stellt die bestmögliche Entscheidungsgrundlage für eine eventuelle gesetzliche Weiterentwicklung des Morbi-RSA dar. Insofern müsste im Zuge einer Erweiterung des Evaluationsauftrags des Wissenschaftlichen Beirats ein einheitlicher Datensatz festgelegt werden. Anschließend müssten entsprechende Softwares angepasst werden, damit die Krankenkassen die Daten übermitteln können. Die Programmierung für eine Datenmeldung im Rahmen der turnusgemäßen Evaluation des Morbi-RSA in 2024 müsste rechtzeitig begonnen werden, allerspätestens im Oktober 2023.

Die gesetzlichen Krankenkassen nehmen gerade in den schwierigen Zeiten, in denen sich unsere Gesellschaft befindet, eine wichtige Rolle der Absicherung eines Lebensrisikos und des Zusammenhalts wahr. Sie sollten politisch durch faire Wettbewerbsbedingungen, die letztlich allen Versicherten und Beitragszahlenden dienen, unterstützt werden. Insofern plädiere ich für das Schaffen von Grundlagen, um darauf aufbauend eine rationale Entscheidung zur Weiterentwicklung des Morbi-RSA treffen zu können. Wir sollten nicht mehr warten, sondern uns jetzt vorbereiten.


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