„Sockel-Spitze-Tausch“ – Eine Initiative zur Reform der Pflegefinanzierung verschärft den Generationenkonflikt

Dr. Timm Genett, Geschäftsführer Politik beim Verband der Privaten Krankenversicherung e.V.

Der Bundesrat berät zurzeit über einen Antrag mehrerer Bundesländer zum Umbau der Pflegefinanzierung. Gegen diese Initiative sprechen gleich mehrere gravierende Argumente.

In der vergangenen Woche hatte die Bertelsmann Stiftung prognostiziert, dass durch die demografische Entwicklung in Deutschland die Summe der Beitragssätze von Gesetzlicher Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung bis zum Jahr 2045 auf bis zu 52,2 Prozent steigen werden. Vor diesem Hintergrund kommt die Stiftung zu dem Fazit: „Wenn wir aus so stark steigenden Sozialbeiträgen keine Konsequenzen ziehen, droht ein massiver Verteilungskonflikt zwischen Jung und Alt.“ (Zur Studie).

Zeitgleich befasste sich der Bundesrat mit einem Entschließungsantrag der Landesregierungen von Hamburg, Berlin, Bremen und Schleswig-Holstein zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Sollte er so umgesetzt werden, hätte das weitere Leistungsausweitungen in der Sozialen Pflegeversicherung zur Folge. Der vom Land Hamburg initiierte Antrag, mit dem sich Fachausschüsse nun Ende März befassen werden, sieht im Kern vor, den Eigenanteil der Pflegebedürftigen an den reinen Pflegekosten in einer Pflegeeinrichtung (derzeit 618 Euro/Monat im bundesweiten Durchschnitt) zu deckeln und alle darüber hinausgehenden Pflegekosten zukünftig von der Pflegepflichtversicherung tragen zu lassen, das nennt sich in der Fachdiskussion auch „Sockel-Spitze-Tausch“. Außerdem soll die soziale Pflegeversicherung einen dynamisierten Bundeszuschuss aus Steuermitteln erhalten. Zudem soll die medizinische Behandlungspflege von Pflegeheimbewohnern künftig von der Krankenversicherung finanziert werden (ca. 3 Mrd. Euro/Jahr), um den Eigenanteil an den Pflegekosten weiter zu reduzieren.

Der Vorstoß wird damit begründet, dass das Pflegerisiko noch immer mit einem Armutsrisiko verbunden sei, da Pflegebedürftigkeit infolge des selbst zu tragenden Eigenanteils nicht selten zu Sozialhilfebedarf („Hilfe zur Pflege“) führe − insbesondere im stationären Bereich. Hinzu komme ein zunehmender Druck auf diesen Eigenanteil durch die angestrebte tarifliche Vergütung der Pflegekräfte sowie durch das einheitliche Personalbemessungssystem.

Die Initiative ist das jüngste Indiz, dass demokratische Politik in einer alternden Gesellschaft unter massiven Umverteilungsdruck zugunsten der älteren Wählerschicht gerät: Die historischen Leistungsausweitungen in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung der vergangenen Jahre haben die Debatte nicht beruhigt, sondern befördern viel mehr den Ruf nach einer weiteren Ausweitung umlagefinanzierter Leistungen in der Pflegeversicherung – die in der Logik der Umlage immer mit einer finanziellen Quersubvention von jung zu alt einhergehen.

Bei näherer Betrachtung kann die aktuelle Länderinitiative allerdings keines ihrer Ziele erreichen: Weil sie von einer falschen Problemwahrnehmung ausgehend die falschen Finanzierungsinstrumente empfiehlt, würde sie in ihren Beitrags- und Leistungswirkungen am Ende sowohl bei den Jungen wie bei den Alten Frust auslösen und zugleich durch falsche Signale wertvolle Zeit für eine Stärkung der Eigenvorsorge verspielen.

Im Einzelnen sprechen die folgenden Argumente dagegen:

 

a) Kein Handlungsbedarf: Hilfe zur Pflege seit Jahren stabil

Die sozialpolitische Begründung, dass immer mehr Pflegeheimbewohner zum Sozialfall würden, weil sie ihren Eigenanteil nicht mehr aufbringen können, ist nicht überzeugend: Laut Statistischem Bundesamt erhalten heutzutage weniger vollstationär versorgte Pflegebedürftige Sozialhilfeleistungen als noch bei Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 1995. Dies spiegelt sich auch im rückläufigen Anteil der Pflegeheimbewohner wider, die die „Hilfe zur Pflege“ erhalten (2007: 29,3 Prozent, 2017: 28,5 Prozent). Grund dafür waren nicht zuletzt auch die Leistungsausweitungen durch Renten- und Pflegereformen zugunsten der Älteren.

 

b) Verteilungspolitisch ungerecht

Der Vorschlag, zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit eine Obergrenze für den Eigenanteil gesetzlich festzulegen und die Pflegeversicherung alle darüber hinausgehenden Pflegekosten tragen zu lassen, ist sozialpolitisch nicht gerecht. Nach Georg Cremer (Ex-Generalsekretär des Deutschen Caritas-Verbandes) führt dies zu einem „Zielgruppenmissbrauch“: Weil pflegebedürftigen Menschen angeblich die Beantragung von Hilfe zur Pflege nicht zuzumuten sei, wird eine beitragsfinanzierte Leistungsausweitung der Pflegeversicherung für alle gefordert, also auch zugunsten der Mittel- und Oberschicht. Letztere ist jedoch durchaus in der Lage, mit ihrem eigenen Vermögen und eigenem Einkommen für die Kosten bei Pflegebedürftigkeit aufzukommen bzw. vorzusorgen.

Bisher wird „Hilfe zur Pflege“ nur bei geprüfter Bedürftigkeit gewährt und von rund 28 Prozent der Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen bezogen. Da von einer Begrenzung des Eigenanteils indes künftig 100 Prozent der Pflegebedürftigen profitieren würden, birgt die Länderinitiative enorme Kostenrisiken und ist sozialpolitisch mehr als fragwürdig.

 

c) Verstoß gegen Generationengerechtigkeit – heute und morgen

Der Entschließungsantrag bedeutet eine langfristige Ausweitung der Umlagefinanzierung. Mit Blick auf die demografische Entwicklung mit immer mehr Älteren, die in erster Linie Pflegeleistungen in Anspruch nehmen, und immer weniger erwerbstätigen Beitragszahlern ist das nicht nachhaltig und erhöht die implizite Verschuldung der Sozialversicherung. Die Folge sind steigende Beitragssätze zu Lasten nachwachsender Generationen und steigende Lohnzusatzkosten zu Lasten des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Die zusätzlichen Steuerzuschüsse sind in diesem Kontext nur eine Variante der Umlage und stehen ebenfalls im Widerspruch zur Generationengerechtigkeit.

Eine derartige Lastenverschiebung in die Zukunft lässt sich auch nicht mit einer angeblichen Überforderung der älteren Generation rechtfertigen. Entgegen der derzeitigen öffentlichen Wahrnehmung hat sich die Einkommens- und Vermögenssituation der Rentnerhaushalte in den letzten Jahren nicht verschlechtert: Laut Studien des IW Köln[1] fielen seit Mitte der 1980er Jahre überdurchschnittliche Realeinkommenssteigerungen vor allem bei den über 55-Jährigen an. Die Generationen der 65- bis 74-Jährigen besitzen zudem im Vergleich zu 25-Jährigen nahezu das 30fache an Vermögen und mehr als das Doppelte als die 35- bis 44-Jährigen.

Zudem liegt das Armutsrisiko der über 65-Jährigen derzeit deutlich unter dem der Gesamtbevölkerung. Die heutigen rentennahen Kohorten und Rentner profitieren also von stabilen Erwerbsbiografien, die ihnen Vermögensaufbau und eine im Durchschnitt vergleichsweise auskömmliche Rente ermöglicht haben. Es ist heute schon absehbar, dass die Erwerbsbiografien der jüngeren Kohorten vor allem im Osten deutlich instabiler sein werden. Die jüngeren Generationen werden aber durch Leistungsausweitungen zugunsten der heute Älteren in den Sozialversicherungen zusätzlich belastet, womit ihr Spielraum für Eigenvorsorge sinkt.

 

d) Fragwürdige Verschiebungen in der Finanzstruktur der Kosten

In der Finanzierungsstruktur der Pflege würde es zu kritischen Verschiebungen kommen:

  • Die Haushalte der Länder würden entlastet, da sich das Leistungsvolumen bei der „Hilfe zur Pflege“ verringern wird, wenn die Eigenanteile der Pflegebedürftigen eingefroren werden.
  • Die Beitragszahler würden dagegen zusätzlich belastet – ebenso wie die Arbeitgeber, die den Beitrag zur Hälfte mittragen. Die wirtschaftspolitisch bedeutsame Begrenzung der Sozialabgabenquote auf 40 Prozent der Lohnsumme wäre nicht zu halten.
  • Der Bundeshaushalt würde durch die Einführung eines weiteren Steuerzuschusses zu einem Sozialversicherungszweig dauerhaft zusätzlich belastet, was mit der Einhaltung der Schuldenbremse nicht zu vereinbaren ist.

 

e) Falsches Signal

Von der Hamburger Initiative zur Pflegefinanzierung geht ein völlig falsches Signal für die Eigenvorsorge aus: sie suggeriert, nach den jüngsten historischen Leistungsausweitungen in der Pflegeversicherung würden bald schon weitere folgen − bis hin zum Einfrieren des Eigenanteils an den Pflegekosten. Dieses Versprechen weckt Erwartungen, die bitter enttäuscht werden müssen: Denn auch im Vorschlag der Länderinitiative wird der Eigenanteil an den Kosten für Unterbringung, Verpflegung und Investitionskosten in der Pflegeeinrichtung nicht etwa gedeckelt, sondern weiter wachsen. Deshalb ist auch eine erhebliche Verringerung der Anzahl der Bezieher von „Hilfe zur Pflege“ (entgegen den Versprechungen) nicht zu erwarten.

 

f) Notwendige Kurskorrektur wäre Stärkung der Eigenvorsorge

Wir brauchen eine Kurskorrektur in der Pflegefinanzierung, aber in eine ganz andere Richtung. Selbst bei optimistischen Zuwanderungsprognosen nimmt die Zahl der Erwerbstätigen (als wesentliche Einnahmequelle der umlagefinanzierten Sozialversicherung) ab: bis 2060 um über zehn Millionen. Unter diesen Bedingungen stößt das Umlageverfahren an Grenzen. Es sollte daher nicht ausgebaut, sondern sinnvoll ergänzt werden: durch eine Stärkung der Eigenverantwortung und der privaten Vorsorge. Dabei kann auf kapitalgedeckte private Pflegezusatzversicherungen zurückgegriffen werden, die es ermöglichen, ein relativ teures Risiko wie die Pflege mit relativ kleinen Beiträgen abzusichern.

Ein Beispiel: Der Beitrag für eine Pflegezusatzversicherung (Leistung: Tagegeld i.H. v. 2.190 Euro monatlich im Pflegegrad 5), beträgt für einen Arbeitnehmer, der 2004 bei Abschluss der Versicherung 34 Jahre alt war, im Jahr 2019 rund 32 Euro/Monat. Zusammen mit der Leistung aus der gesetzlichen Pflegeversicherung verfügt dieser Arbeitnehmer faktisch über eine „Pflegevollversicherung“. Neben den klassischen Pflegezusatzversicherungen gibt es seit 2013 zudem die ergänzende Pflegeversicherung mit staatlicher Förderung (GEPV). Bei dieser Form der Zusatzversicherung honoriert der Staat die Eigenvorsorge mit einem Beitragszuschuss.

Die überlegene Prämienperformance kapitalgedeckter Pflegeversicherungsprodukte im Vergleich zur umlagefinanzierten sozialen Pflegeversicherung zeigt, dass eine individuell maßgeschneiderte und zugleich generationengerechte Absicherung des Pflegerisikos zu bezahlbaren Preisen möglich ist. Das ist nicht nur gut für die Versicherten. Auch Pflegekräfte und Pflegeeinrichtungen dürften ein Interesse an einer langfristig stabilen und demografiefesten Basis ihrer Refinanzierung haben.

 

[1] Vgl. Kochskämper/Nihues (2017): Entwicklung der Lebensverhältnisse im Alter; Nihues (2015): Vermögensverteilung und Altersgruppeneffekte.


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