02.07.2024
Zurück in die Zukunft?
Die Parteien und ihre Gesundheitspolitik vor dem Bundestagswahljahr 2025
Robin Rüsenberg
Wencke Rüsenberg
Das deutsche Parteiensystem ist in Bewegung. Nach langen Jahren der Dominanz zweier großer Volksparteien existiert nach der Bundestagswahl 2021 eine plurale Landschaft mehrerer größerer und kleinerer Parteien, die durch die Europawahl 2024 noch einmal neu sortiert worden ist. Dabei gründen sich neue Parteien, von denen etwa das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei den Wahlen zum Europäischen Parlament ein beachtliches Ergebnis erzielt hat.
Alte Schwergewichte wie die CDU und die CSU haben sich hingegen programmatisch neu ausgerichtet. Was lässt dies inhaltlich für die Gesundheitspolitik erwarten? Welche programmatische Rolle spielt der Parteienwettbewerb?
Die Parteien spielen eigentlich für konkrete Gesundheitsreformen deutlich weniger eine Rolle als – auf Bundesebene – das Bundesministerium für Gesundheit (jüngst auch das Bundesministerium der Finanzen) und die eine Koalition tragenden Regierungsfraktionen. Diese bestimmen die tagesaktuelle Gesundheitspolitik und bringen sich auch hinter den Kulissen in die Formulierung von Wahlprogrammen ein. Daran ändert der Umstand, dass – etwa bei SPD und CDU – Vertreterinnen und Vertreter der Parteizentralen an den Sitzungen der Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitiker der Bundestagsfraktionen teilnehmen, wenig. Auch die fachspezifischen Arbeitsgruppen der Parteiorganisationen spielen schlussendlich weniger eine Rolle. Abseits der Tagespolitik sind die Parteien für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems allerdings sehr wohl bedeutsam: Ihre langfristige ideologische Ausrichtung prägt Grundsatz- und Wahlprogramme, die wiederum Koalitionsverträge beeinflussen und in Regierungshandeln einfließen. (Nie zu unterschätzen sind natürlich persönliche Präferenzen und Wertvorstellungen von führenden Gesundheitspolitikerinnen und Gesundheitspolitikern, aber in der vorliegenden Analyse soll dieser Aspekt nicht im Mittelpunkt stehen.)
Wettbewerbsdimensionen im Parteiensystem
Analysiert man den Parteienwettbewerb, macht es Sinn, sich die Parteienlandschaft zweidimensional vorzustellen (Debus 2022, Decker 2019): Das sog. Konfliktlinienmodell sortiert die ideologisch-programmatischen Grundpositionen der Parteien auf zwei Achsen (siehe die Abbildung). Auf der (1) sozioökonomischen Konfliktachse stehen sich – grob zusammengefasst – die Grundpositionen der Marktfreiheit (rechts) und der sozialen Gerechtigkeit (links) als Pole gegenüber. Die Frage, ob etwa der Wohlfahrtsstaat ausgebaut werden und welche Rolle der Staat spielen soll, wird hier unterschiedlich beantwortet. Auf der (2) soziokulturellen Konfliktachse werden hingegen gesellschaftspolitische Fragestellungen und unterschiedliche Wertvorstellungen verhandelt, die von konservativ/autoritär (rechts) bis liberal (links) reichen.
Damit kann man das Konfliktlinienmodell mit der Rechts-Links-Unterscheidung politischer Parteien verbinden, die durch die erwähnte Zweidimensionalität vielschichtiger wird. So sind etwa viele liberale Parteien auf der kulturellen Achse eher links und auf der ökonomischen Achse eher rechts anzutreffen. Die Abbildung stellt dies sehr grob zusammenfassend dar. Das BSW treffsicher einzuordnen fällt noch schwer. Insgesamt handelt es sich um ein Mischungsverhältnis sehr verschiedener verteilungspolitischer und wertebezogener Vorstellungen, die durch die Parteien unterschiedlich aufgegriffen werden. Die inhaltliche Ausrichtung des Debattenraums hat sich seit Sommer 2023 schwerpunktmäßig nach rechts entwickelt (Korte 2024).
Der programmatische Parteienwettbewerb ist desto polarisierter, je größer die ideologischen Unterschiede der Parteien in der sozioökonomischen und der soziokulturellen Wettbewerbsdimension sind. Allerdings reichen inhaltliche Differenzen dafür nicht aus (vgl. Debus 2022). Es geht auch darum, welche Bedeutung ein Thema in der Öffentlichkeit, beim Wählerklientel einer Partei und bei ebendieser Partei selbst hat. Hier können dann also neben ideologischen auch machtstrategischen oder wahltaktischen Motiven eine Rolle spielen. Erst das Zusammenspiel dieser Faktoren ergibt die Tiefe und Schärfe einer inhaltlichen Auseinandersetzung.
Die politischen Mehrheiten im Bundestag lassen reine Lagerkoalitionen – also gebildet ausschließlich mit Partnern von der linken oder der rechten Seite der Parteienlandschaft – kaum mehr zu, seit 2005 gab es eine solche nur einmal. Es muss vielmehr lagerübergreifend koaliert werden. Mittlerweile existiert ein fluid-komplexer Parteien- und Koalitionsmarkt (Korte 2024). Und so erklären sich auch die Schwerpunkte des Koalitionsvertrages sowie die Probleme der Ampel-Koalition politikwissenschaftlich (vgl. die Abbildung): Die drei Ampelparteien haben vor allem im soziokulturellen Bereich Schnittmengen, und der Koalitionsvertrag sieht insbesondere dort größere Reformen vor. Bei den sozioökonomischen Fragen sind die grundsätzlichen Gemeinsamkeiten viel geringer. Es gehört zum Dilemma der Ampel, dass sich durch den Ukrainekrieg und das Karlsruher Haushaltsurteil die politische Agenda ins Ökonomische verschoben hat. Gern gewählte Lösungen der Vergangenheit, Problemen durch zusätzliche finanzielle Ressourcen abzuhelfen, fallen nicht zuletzt durch die unterschiedliche Verortung der Regierungsparteien auf der sozioökonomischen Konfliktlinie (etwa bei der Schuldenbremse) aber aus.
Die Probleme der Ampel ergeben sich also nicht zuletzt aus den Erfordernissen einer unerprobten lagerübergreifenden Dreierkoalition, bei der die Vorstellungen der Partner auf den beiden Konfliktachsen sehr unterschiedlich verteilt sind. Dass Reformerfolge eher im gesellschaftspolitischen Bereich verortet sind, kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen. Auch die Stellung des Bundeskanzlers ist in solchen Regierungskonstellationen fragiler, weniger auf Führen denn auf Moderieren ausgelegt (Korte 2024). Das Medizinforschungsgesetz ist hingegen ein aktuelles gesundheitspolitisches Beispiel, in dem das Bundeskanzleramt eine starke Rolle gespielt hat.
Derartige lagerübergreifende Regierungskonstellationen sind in dem beschriebenen fluid-komplexer Parteien- und Koalitionsmarkt künftig aber eher Regel als Ausnahme. Die Vielfarbigkeit von Länderregierungen gibt hiervon beredet Auskunft. Um programmatische Verhärtungen aufzubrechen und tiefgreifenden Politikwechsel durchzusetzen, sind dann üblicherweise externe Schocks notwendig. Soweit zumindest eine verbreitete Theorie (Hintergründe z. B. bei Nohrstedt 2022). Die gesundheitspolitischen Reaktionen auf die Krisen der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart – eher keine tiefgreifenden Reformen, sondern vielmehr zusätzliches Geld – lassen an dieser Regel allerdings etwas zweifeln.
Gesundheitspolitik als Thema des Parteienwettbewerbs
Was hat dies nun mit der Gesundheitspolitik zu tun? Überträgt man die gemachten Überlegungen, zeigt sich, dass die Bedeutsamkeit der verschiedenen Politikfelder für die Parteien sehr unterschiedlich ist. Ein gern genutzter Indikator hierfür ist, wieviel Platz ein Thema im Wahlprogramm einnimmt. Am Beispiel der Bundestagswahl 2021 sieht das wie folgt aus (zum folgenden Minas et al. 2023): SPD und Linke sehen ihre inhaltlichen Schwerpunkte bei der Arbeitsmarkt- und Sozialstaatspolitik, CDU und CSU hingegen in der Innenpolitik. FDP und Grünen etwas überraschend in der Europapolitik bzw. ebenfalls in der Innenpolitik, wohingegen die AfD ohne klaren Schwerpunkt ist, am ehesten aber in der Innenpolitik. Die anderen Politikfelder fallen im Vergleich ab. Darunter auch die Gesundheitspolitik. Am bedeutendsten ist sie noch bei Grünen und AfD (bei letzterer insbesondere durch die Corona-Pandemie), gefolgt von Union und Linken, am wenigsten prominent bei FDP und bemerkenswerterweise der SPD.
Zwar können politische Streitfragen auf beiden Konfliktdimensionen gleichzeitig bearbeitet werden – dennoch dominiert üblicherweise eine Arena (vgl. auch zum folgenden Decker 2019). Gesundheitspolitische Streifragen drehen sich üblicherweise um Zugang, Angebot, Ausmaß, Honorierung und Finanzierung gesundheitsbezogener Leistungen. Sie werden fast immer auf der sozioökonomischen Konfliktachse verhandelt, die zudem den Vorteil hat, dass Streit um sozioökonomische Ressourcen und Positionen durch (mehr oder weniger) Umverteilung halbwegs verlässlich in Form von Kompromissen befriedet werden kann. Idealtypisch stehen sich hier FDP und Linke (künftig vielleicht auch BSW) an den Enden der jeweiligen Pole gegenüber. Etwas anders sieht dies bei den kulturellen Streitfragen aus. Hier fallen Kompromisse schwerer, ist die Debatte oft unversöhnlicher, stehen sich AfD und Grüne als Protagonisten mit der meisten Distanz gegenüber (vgl. die Abbildung). Allerdings hält die Gesundheitspolitik in dieser Wettbewerbsdimension weniger Themen bereit. Die Debatte um den § 218 StGB könnte sich aber in diese Richtung entwickeln und den Parteienwettbewerb – vor allem von den Rändern her – polarisieren. Die ersten Reaktionen des Bundeskanzlers im April nach Bekanntwerden der Ergebnisse des Abschlussberichts der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin zeigen, dass dieses Potenzial erkannt wurde. Dabei ist der Kern der Diskussion – Strafrecht ja oder nein – keine sozialrechtliche Regulierungsfrage. Das gilt auch für die Cannabislegalisierung, die aber dem Bundesgesundheitsminister politisch zugeordnet wird und ebenfalls in den Rang eines Zankapfels des Parteienwettbewerbs aufgestiegen ist. Beide Themen sind wahlkampftauglich, wie die Europawahlprogramme zeigen.
GKV-Finanzierung als zentrales Streitthema
Gesundheitspolitische Triggerpunkte (vgl. Mau et al. 2023) für den Parteienwettbewerb sind dennoch klassischerweise immer noch vor allem Fragen der GKV-Finanzierung (inkl. der Systemgrenze GKV/PKV). An dieser Stelle lässt sich recht gut eine in rechts und links aufgeteilte Lagerbildung identifizieren (Gerlinger 2011). War der Parteienwettbewerb früher hier noch mit zwei konkurrierenden Konzepten – Gesundheitsprämie (als „Kopfpauschale“ verschrien) und Bürgerversicherung – unterfüttert, die die Parteien links vehement und rechts eher verhalten vertreten haben (im Falle von FDP und CSU wenig bis gar nicht), hat sich das Bild mittlerweile gewandelt: Die Debatte dreht sich nur noch um Zustimmung und Ablehnung der Bürgerversicherung. Das war früher anders: Die Debatte um den Standort Deutschland führte Ende der 1990er Jahre auch zu Diskussionen um Kürzungen des GKV-Leistungskataloges und schließlich zu den rivalisierenden Finanzierungskonzepten von Bürgerversicherung und Gesundheitsprämie, die auf SPD- und CDU-Parteitagen 2003 prominent beschlossen wurden. Spätestens mit der Großen Koalition 2013 versandete die Gesundheitspolitik aber als großes Profilierungsthema des Parteienwettbewerbs dann wieder. Lediglich in Wahlkämpfen taucht die Thematik Bürgerversicherung bei linken bzw. Mitte-Links-Parteien verlässlich auf. Der grundlegende Konflikt ist aber noch vorhanden, wenngleich, wie beschrieben, in etwas anderer Gestalt.
Die Bedeutung der GKV-Finanzierung für den Parteienwettbewerb lässt sich gleichwohl gut sehen, wenn man die jüngsten Koalitionsverhandlungen betrachtet (zum folgenden Rüsenberg et al. 2023): Die Konfliktlinie zieht sich durch die Koalitionsverhandlungen. Es ist wenig überraschend, dass sie bei lagerübergreifenden Koalitionen besonders ausgeprägt war. Für die Gespräche 2005 ist gut dokumentiert, dass insbesondere die Themenkomplexe GKV-Finanzierung und das Verhältnis GKV und PKV zwischen den Parteien umstritten waren. Auch bei Schwarz-Gelb 2009 kam es zu Auseinandersetzungen, die im Kern auf unterschiedliche Solidaritätsvorstellungen zurückgehen. 2013 verlagerte sich die Debatte auf die konkrete Ausgestaltung des Zusatzbeitrages, 2018 hingegen auf ein zugangspolitisches Thema (Mindestsprechstunden, Honorarordnung), nachdem die Parität bereits in den Sondierungen SPD-seitig durchgesetzt wurde. 2021 findet sich das strittige Thema in Bezug auf die GKV gar nicht mehr und wurde schon im Sondierungspapier herausgenommen.
Auf Bundesebene blockieren sich die Partner in lagerübergreifenden Koalitionen gegenseitig. An dieser Stelle wirkt der Konflikt wie eingefroren. Seit September 2021 haben zudem acht Landtagswahlen stattgefunden, die folgenden Regierungsbildungen brachten viermal lagerübergreifende Koalitionen mit sich. Zwar haben die Länder bei der großen gesundheitspolitischen Streitfrage der GKV-Finanzierung keinen Gestaltungsspielraum (mit dem „Hamburger Modell“ – Beihilfen für Beamte auch bei freiwilliger Mitgliedschaft in der GKV – als wichtiger Ausnahme, die auch in Ländern mit CDU-Regierungsbeteiligung umgesetzt wird), dennoch können auch von Länderebene heraus wichtige Reformimpulse gegeben werden. Die Neuordnung der Krankenhauslandschaft in Nordrhein-Westfalen etwa, die jetzt im Großen und Ganzen als Blaupause für das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz gilt. Schaut man in die Koalitionsverträge zeigen sich gleichwohl wenig bemerkenswerte inhaltliche Neuerungen. Auffällig ist aber, dass das Thema iMVZ in Koalitionen jedweder Couleur gesetzt zu sein scheint.
Das Finanzierungsthema gewinnt seine parteipolitische Aufladung aber erst vollumfänglich, wenn auch Solidaritätsfragen berührt werden, was aber normalerweise der Fall ist. Wie weit Gleichheit im Sinne eines gleichen Zugangs zum Versorgungssystems der gesamten Bevölkerung unabhängig vom Einkommen gehen soll, wird nämlich sehr unterschiedlich interpretiert (Bandelow et al. 2022). Einerseits als gleicher Zugang zu gesundheitlichen Leistungen im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Solidarität. Andere Solidarkonzepte gehen andererseits von kleineren Einheiten aus, etwa des oder der Einzelnen, der Familie oder andere Gruppen, so etwa das aus der katholischen Soziallehre stammende Subsidiaritätsprinzip: Erst bei der Überforderung der untergeordneten Einheit greift eine übergeordnete Solidarität. (Es wird übrigens oft übersehen, dass sich beide Solidarkonzepte bereits in der GKV wiederfinden.) Die entscheidende (sozioökonomische) Frage ist also, wie weit Eigenverantwortung abgelehnt oder eingefordert wird. Die dazugehörige Antwort wird zwischen (linken und rechten) Parteien sehr unterschiedlich gegeben. Das gilt auch heute noch – bei Fragen des Leistungskataloges, Zuzahlungen, Leistungsberechtigten, etc. In den letzten Jahren hat dieser Aspekt aber kaum eine Rolle gespielt. Nun spricht durchaus einiges dafür, dass er gesundheitspolitisch nach der nächsten Bundestagswahl eine Renaissance erlebt. Schließlich spielt eine Rolle, welchen Interessen- und Beschäftigtengruppen des Gesundheitswesens sich die Parteien verbunden fühlen und für wen sie sich stark machen. An dieser Stelle ist das – ansonsten enttäuschende – Empfehlungspapier des BMG zur GKV-Finanzierung im Übrigen eindeutig: Verbliebene Effizienzreserven bei Leistungserbringern seien durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz 2022 gehoben worden, eine weitere Kostendämpfung ausgabenseitig auch nicht möglich, da sonst der Fachkräftemangel verschärft und die Attraktivität der Gesundheitsberufe geschmälert würde. Das BMG-Papier ist natürlich keine Parteiprogrammatik, aber mit dieser inhaltlichen Stoßrichtung passt es, cum grano salis, recht passabel zu den jüngsten inhaltlichen Einlassungen aus den Parteizentralen.
Aktuelle Programmatik der Parteien
Wie hat sich also die gesundheitspolitische Programmatik zwischen Bundestagswahl 2021 und Europawahl 2024 weiterentwickelt? Wie haben sich Parteitage, -präsidien und -vorstände positioniert? (in aktueller Reihenfolge der Fraktionen und Gruppen im Bundestag, keine Konzepte von Fraktionen/Gruppen und Regierungen):
SPD
Die SPD hat sich gesundheitspolitisch als Partei seit der Bundestagswahl wenig profiliert. Der Leitantrag zum Parteitag im Dezember 2023 streift zwar alle Politikfelder, betrachtet aber das Gesundheitswesen nur durch die digitale Brille (KI, Telemedizin, etc.) und schweigt sich zu GKV-Finanzierungsthemen aus. Umfassend ist jedoch der Beschluss des SPD-Parteivorstandes zur Drogenpolitik von März 2023, der aber faktisch die Cannabislegalisierung des BMG unterstützt. Überhaupt findet sich das Thema Cannabis wie auch der Themenkomplex §§ 218, 219a StGB auffällig oft in Positionen und Beschlüssen der untersuchten Parteien und trennt die politischen Kräfte halbwegs treffsicher in eine linke und rechte (soziokulturelle) Seite der Parteienlandschaft.
CDU und CSU
Anders CDU und CSU, die sich beide – einem Diktum Wolfgang Schäubles (2024: 96), Oppositionszeiten für inhaltliche Erneuerung zu nutzen, folgend – in Grundsatzprogrammen auch gesundheitspolitisch neu aufgestellt haben: Das neue Grundsatzprogramm der CDU hat einige Aufmerksamkeit erfahren, da es in vielen Themenbereichen die Partei wieder inhaltlich deutlich stärker nach rechts verschiebt, als man es aus der Ära Merkel gewohnt war. Gesundheitspolitisch gilt das zwar auch ein wenig, aber in die in die 2000er Jahre mit der „Kopfpauschale“ will man nicht zurück (expressis verbis war diese auch bis Mai noch eine programmatische Forderung der CDU – erst das neue Grundsatzprogramm setzt seitdem auf eine „solidarische Beitragsfinanzierung“). Allerdings hatte man den Subsidiaritäts-Gedanken in einem Vorentwurf vor einem Jahr noch prominenter lesen dürfen, Stichwort Eigenbeteiligung und Praxisgebühr (Rüsenberg 2023). Dies findet sich jetzt so explizit nicht mehr, die Position beim Bürgergeld lässt aber die grundsätzliche Richtung erahnen. Die Schwesterpartei CSU bleibt sich dafür in ihrem neuen Grundsatzprogramm im Wesentlichen treu. Für beide gilt zudem: Die Gesundheitspolitik steht deutlich im Schatten anderer Politikfelder.
Bündnis 90/Die Grünen
Bündnis 90/Die Grünen setzten im Europawahlprogramm auf eine stärkere europäische Zusammenarbeit. Insgesamt stehen bei den Grünen aber andere Politikfelder im Mittelpunkt, etwa die Energie- und Wirtschaftspolitik mit Rückkoppelungseffekten auf Krankenhäuser, etc.
FDP
Bei der FDP spielt die Gesundheitspolitik keine große Rolle. Es sind eher Nebeneffekte der grundsätzlichen Ausrichtung in der Finanz- und Haushaltspolitik: Priorität für die „Schuldenbremse“, Kapitaldeckung (in der Rentenpolitik), das sozialpolitische Moratorium vom Parteitag im April 2024 (nimmt man dieses genau, wären auch gesetzlich initiierte Leistungserweiterungen des SGB V für drei Jahre tabu), etc. Für die Gesundheitspolitik gilt immerhin: „Die Arbeiten an den Reformen des Gesundheitssystems gehen in die richtige Richtung. Aber es muss mehr passieren.“ („Fünf Punkte für eine generationengerechte Haushaltspolitik“). Offen bleibt in dem (kostendämpfenden) Kontext, was genau passieren soll.
AfD
Bei der AfD ist Gesundheitspolitik nach Vorlage eines sozialpolitischen Konzeptes im November 2020 kein besonderes Profilierungsthema. Lediglich der Themenkomplex Corona sticht wirklich heraus.
Die Linke
Selbiges kann man über Die Linke nicht sagen: So hat sich der Parteivorstand in ausführlichen Beschlüssen im November 2022 und Juli 2023 – wenig überraschend kritisch – mit der Krankenhausreform von Minister Lauterbach beschäftigt, sich mit den Beschäftigten solidarisiert und dabei auch den Klassiker Bürgerversicherung erneut gefordert. Klassische linke Gesundheitspolitik auch im Konzept von der Parteivorsitzenden Janine Wissler und EU-Spitzenkandidat Gerhard Trabert von März 2024, wobei die Idee, bundesweit kostenfreie Gesundheitsberatungs- und Behandlungsstellen an Autobahnraststätten für LKW-und Busfahrer einzurichten, neu ist. Im Strategiepapier der Partei- und Gruppenvorsitzenden (April 2024) ist das Politikfeld Gesundheit zwar prominent, aber ohne neue Akzente.
Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW)
Interessant ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das für eine Neugründung in Umfragen bemerkenswert hoch gehandelt wird und bei der Europawahl stark abgeschnitten hat. Politikwissenschaftlich wird dem BSW das Füllen einer Angebotslücke zugestanden, nämlich sozioökonomisch links und soziokulturell rechts verortet zu sein (in den Worten der Namensgeberin: „Wir sagen bewusst, wir sind linkskonservativ“, zitiert nach Buchsteiner/Feldenkirchen 2024: 17), was es so bisher in der deutschen Parteienlandschaft noch nicht gibt (vgl. Wagner et al. 2023, Wurthmann et al. 2024). Schaut man sich die Wählerwanderung bei der Europawahl an (Tagesschau 2024), so hat das BSW deutlich mehr Zustimmung von vormaligen Wählerinnen und Wählern von Links- und Mitte-Links-Parteien als von solchen aus Rechts bzw. Mitte-Rechts. Gesundheitspolitisch ist die BSW-Programmatik noch ziemlich lückenhaft, so gibt es bisher keine Positionierung zur Finanzierung (auf Landesebene gibt es diese allerdings schon: Das Wahlprogramm zur Landtagswahl in Sachsen am 1. September bekennt sich zu Bürgerversicherungen bei Gesundheit und Pflege). Was bisher skizziert wird, erinnert hingegen sehr stark an Die Linke, was elektoral also zur beschriebenen Wählerwanderung passt. Das gilt auch für den ersten BSW-Gruppen-Antrag im Bundestag zur Krankenhausreform vom 15. Mai 2024. Vom Füllen einer Angebotslücke kann also nicht gesprochen werden. Aber beim BSW kommt bereits eine Konfliktlinie zum Vorschein, die künftig sehr wichtig werden wird für den Parteienwettbewerb, konkret das (vermeintliche oder tatsächliche) Priorisieren von finanziellen Ressourcen für die Verteidigungspolitik anstelle der Sozialpolitik. Das Thema wird im Bundestagswahlkampf 2025 gewiss nicht nur beim BSW auftauchen.
Und noch etwas gilt es zu bedenken: Nämlich ein Spezifikum, das aus der heutzutage alltäglichen Personalisierung der Politik herrührt. Es geht wie folgt: Erfolge wie Misserfolge der Koalition zahlen nicht zuletzt beim verantwortlichen Minister und seiner Partei ein. Das gilt vor allem bei einer so bekannten und gesundheitspolitisch verorteten Person wie Karl Lauterbach. Verfolgt man als Koalitionspartner ähnliche Inhalte, macht es also aus der Perspektive des Parteienwettbewerbs wenig Sinn, sich mit Verve für diese einzusetzen. Im Falle der Opposition (oder auch als weiterer Koalitionspartner) verhält sich dies zwar anders, sofern man andere Ziele oder Ideen vertritt, allerdings liegen die inhaltlichen Prioritäten, wie gesehen, eben weitgehend in anderen Politikfeldern.
Was folgt daraus?
Die Parteienlandschaft ist in Bewegung. Ein fluid-komplexer Parteien- und Koalitionsmarkt hat sich herausgebildet, wobei sich der Debattenraum gesamtgesellschaftlich nach rechts zu entwickeln scheint (Korte 2024). Die Europawahl im Juni 2024 hat dies für Deutschland bestätigt. Auf die Gesundheitspolitik hat dies inhaltlich aber bisher wenig bis gar keinen Einfluss. Dies liegt zum einen daran, dass das BSW als – den Umfragen zufolge – neue relevante Größe im Parteienwettbewerb eine kulturell rechte und verteilungspolitisch linke Position (soweit bisher erkennbar) einnimmt. D. h. es stärkt gesundheitspolitisch ohnehin vorhandene Positionen, die bei Links- und Mitte-Links-Parteien nichts Neues sind – und vor allem von Der Linken vertreten werden. Zum anderen liegt es daran, dass auf der rechten Seite des Parteienspektrums die Gesundheitspolitik nicht hoch im Kurs steht. Andere Fragen der Sozialpolitik aber durchaus, was man in der Debatte über das Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung gut sehen kann. Die Gesundheitspolitik steht aber insgesamt betrachtet im Schatten anderer Politikfelder. Die vielen Krisen der Gegenwart haben sie in den Hintergrund rücken lassen. Auch wenn an dieser Stelle keine Ursache besteht, ist es doch bezeichnend, dass mit der Die Linke gerade die Partei, die ihr gesundheitspolitischen Profil am schärfsten konturiert, momentan in sehr schwieriges Fahrwasser geraten ist.
Gesundheitspolitische Fragen werden klassischerweise als sozioökonomische Verteilungsfragen verhandelt. Die Finanzsituation lässt eine Verschärfung der Debatte erwarten. Im Zentrum stehen dann die inhaltlichen Pole Solidarität und Subsidiarität. Sollte die These vom nach rechts verschobenen Debattenraum stimmen, würde sich dann der Schwerpunkt mehr in Richtung Subsidiarität (Stichwort Eigenverantwortung) verlagern. Die Richtung deutete CDU-Parteichef Friedrich Merz im Mai beim BPI an: Senkung der Sozialversicherungsbeiträge, Menschen müssten aus eigenen Einkommen etwas für ihre Gesundheit leisten. Es bleibt abzuwarten, wie „groß“ die Union dies künftig akzentuieren möchte. Die politischen Wettbewerber links der CDU würden sich freuen, da sie hier Wahlkampfmunition vermuten. Im Mittelpunkt des gesundheitspolitischen Parteienwettbewerbs bleibt sonst eher die Frage einer Zustimmung oder Ablehnung einer Bürgerversicherung als Chiffre eines einheitlichen Krankenversicherungsmarktes. Bei dieser Debatte gibt es aber keine neuen konzeptionellen Akzente. Auf Bundesebene blockieren sich die Partner in lagerübergreifenden Koalitionen gegenseitig. An dieser Stelle wirkt der Konflikt wie eingefroren.
Mit grundlegend neuen gesundheitspolitischen Ideen und inhaltlichen Konzepten sind die Parteien also seit der Bundestagswahl 2021 nicht aufgewartet (das gilt auch für parteinahen Stiftungen, wobei man die Friedrich-Ebert-Stiftung von diesem Urteil etwas herausnehmen kann). Allerdings sollte man gerade von Grundsatzprogrammen nicht zu viel erwarten. Diese bieten vor allem Orientierung über langfristige Ziele, weniger konkrete Umsetzungsstrategien. Das ist dann die Aufgabe der Fraktionen. Neue Ideen zur Abhilfe bei der GKV-Finanzierung finden sich aktuell keine, mal abgesehen vom potenziellen Revival der Eigenverantwortung. Allerdings droht eine Verschärfung: Finanzielle Mittel für die Verteidigung oder die Gesundheit wird eine Gretchenfrage sein, die vor allem auf den politischen Rändern gestellt werden wird. Das Thema Fachkräftemangel ist bei allen Parteien gesetzt. Die daraus folgenden Umsetzungsschritte sind aber nicht Teil des Parteienwettbewerbs – zumindest, solange sie steuerliche Aspekte außen vor lassen.
Auffällig ist aber, dass die jüngst generell dominanter gewordene soziokulturelle Konfliktachse auch in der Gesundheitspolitik wichtiger wird, konkret die Debatte um die §§ 218, 219a StGB sowie die Cannabislegalisierung. Allerdings sind beide eher rechtspolitischer Natur und die gesundheitspolitischen Aspekte sind Nebenprodukte der Debatte. Das ist anders als bei der GKV-Finanzierung, als die Parteien in den 2000ern detaillierte Konzepte erarbeiteten. Sollte die CDU allerdings wirklich im Wahlkampf 2025 auf das Thema Eigenverantwortung setzen, hätte man – so wie früher – einen sozioökonomischen Wettstreit Subsidiarität vs. Solidarität. Das wäre dann wirklich „Zurück in die Zukunft“.
Literatur:
- Bandelow, Nils/Hornung, Johanna/Iskandar, Lina (2022): Gesundheitspolitik. In: Wenzelburger, Georg/Zohlnhöfer, Reimut (Hg.): Handbuch Policy-Forschung, Wiesbaden: Springer VS, S. 1-24.
- Buchsteiner, Rasmus/Feldenkirchen, Markus (2024): Herrin am Reißbrett. In: Der Spiegel 77 (23), S. 14-19.
- Debus, Marc (2022): Parteienwettbewerb und Wahrscheinlichkeit verschiedener Koalitionsoptionen bei der Bundestagswahl 2021. In: Politische Vierteljahresschrift 63 (1), S. 73–88.
- Decker, Frank (2019): Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: eine neue Konfliktlinie in den Parteiensystemen? In: Zeitschrift für Politik 66 (4), S. 445-454.
- Decker, Frank (2018): Jenseits von links und rechts. Lassen sich Parteien noch klassifizieren? In: Aus Politik und Zeitgeschichte 68 (46-47), S. 21-26.
- Gerlinger, Thomas (2011): Gesundheitspolitik und Parteienwettbewerb:Konzeptionen zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. In: Schieren Stefan (Hg.) Gesundheitspolitik: Hintergrunde, Probleme und Perspektiven, Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, S. 55-79.
- Korte, Karl-Rudolf (2024): Wählermärkte. Wahlverhalten und Regierungspolitik in der Berliner Republik, Frankfurt/Main: Campus Verlag.
- Mau, Steffen/Lux, Thomas/Westheuser, Linus (2023): Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft, Berlin: Suhrkamp.
- Minas, Marius/Jakobs, Simon/Jun, Uwe (2023): Die programmatische Seite des Parteienwettbewerbs. Eine Analyse der Wahlprogramme und des Koalitionsvertrags 2021. In: Jun, Uwe/Niedermayer, Oskar (Hg.): Die Parteien nach der Bundestagswahl 2021, Wiesbaden: Springer VS, S. 41-76.
- Nohrstedt, Daniel (2022): When do disasters spark transformative policy change and why? In: Politics & Policy 50 (3), S. 425-441.
- Rüsenberg, Robin (2023): CDU-Gesundheitspolitik back to the future? Zum Entwurf des neuen Grundsatzprogramms. Online verfügbar unter https://observer-gesundheit.de/cdu-gesundheitspolitik-back-to-the-future/, abgerufen am 25.06.2024.
- Rüsenberg, Robin/Schleyer, Lorenz/Siefken, Sven (2023): In den Tiefen der Koalitionsverhandlungen 2005 bis 2021: Von der Arbeitsgruppe Gesundheit zum Koalitionsvertrag. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 54 (3), S. 483-508.
- Schäuble, Wolfgang (2024): Erinnerungen. Mein Leben in der Politik, Stuttgart: Klett-Cotta.
- Tagesschau (2024): Europawahl 2024. Wie die Wähler wanderten. Online verfügbar unter https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-06-09-EP-DE/analyse-wanderung.shtml, abgerufen am 25.06.2024.
- Wagner, Sarah/Wurthmann, Constantin/Thomeczek, Jan Philipp (2023): Bridging left and right? How Sahra Wagenknecht could shape the German party landscape. In: Politische Vierteljahresschrift 64 (3), S. 621-636.
- Wurthmann, Constantin/Angenendt, Michael/Thomeczek, Jan Philipp (2024): The “Free Voters”: A Decent Alternative for Conservatives? In: Politische Vierteljahresschrift 65 (1), S. 99–122.
Robin Rüsenberg
Lehrbeauftragter am Institute of Comparative Politics and Public Policy an der TU Braunschweig
Wencke Rüsenberg
Fachreferentin im Stabsbereich Politik, GKV-Spitzenverband
Die Autoren vertreten ihre private Meinung.
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