„Wollen wir noch mehr Markt- und Profitorientierung zulassen oder mehr Orientierung am Gemeinwohl?“

Bilanz und Ausblick der Gesundheitspolitik in der 19. Wahlperiode

Harald Weinberg MdB, Sprecher der Fraktion Die Linke für Krankenhauspolitik und Gesundheitsförderung/Prävention, stellvertretender Vorsitzender des Gesundheitsausschusses

Jens Spahn gilt als einer der fleißigsten Gesundheitsminister. Und sein Tempo war zunächst überaus beeindruckend: „20 Gesetze in 20 Monaten“, so hieß es, „das hat noch kein Gesundheitsminister zustande gebracht!“ Nur: Geschwindigkeit allein ist noch keine Qualität. Und so manch eine Ungenauigkeit in den Gesetzen dürfte dem/der künftigen Gesundheitsminister bzw. Gesundheitsministerin noch auf die Füße fallen.

Und anders als sein Vorgänger Hermann Gröhe hat sich Spahn nicht einfach auf die Abarbeitung des Koalitionsvertrages beschränkt. Er hat bereits weit vor der neuen Situation, die durch die Corona-Pandemie entstanden ist, versucht, eigene Duftmarken zu setzen. Aus meiner Sicht war das im Wesentlichen in drei Themenfeldern:

  • Die Digitalisierung im Gesundheitswesen
  • Die Krankenkassen und ihre Selbstverwaltung
  • Die Pflege im Krankenhaus und in der Altenpflege.

 

Erfolgreicher Krisenmanager mit Imageschaden

Mit der Corona-Pandemie kam dann natürlich ein alles überschattendes Megathema hinzu. Minister Spahn sah dies als eine große Chance, sich in dieser Krise als erfolgreicher Krisenmanager zu profilieren. Und das gelang ihm zunächst auch sehr gut. In dieser sehr kurzatmigen Zeit birgt ein rasanter Aufstieg in der Gunst der Medien jedoch auch immer das Risiko eines ebenso rasanten Absturzes. Die schleppende Impfstoffbelieferung und der sehr „ruckelnde“ Start der Impfkampagne ließen die Kritik an seinem Krisenmanagement immer lauter werden.

Er geriet in den Fokus einiger kritischer Journalisten, die dann weitere Vorgänge aufdeckten, die an der glänzenden Fassade kratzten. Zum Beispiel dieses Dinner mit Unternehmerfreunden in Leipzig, das zum Zwecke der Wahlkampfspendenakquise abgehalten wurde. Noch am Morgen dieses Abendessens hatte Spahn öffentlich vor den Infektionsgefahren eben solcher geselliger Zusammenkünfte gewarnt. Das hat Glaubwürdigkeit gekostet. Als dann im Zusammenhang mit seinen Aktionen zur Beschaffung von Schutzmasken die ersten Provisionszahlungen an Unionsabgeordnete ans Licht kamen, drohte mehr als ein Imageproblem. Diese Angelegenheit ist noch nicht ausgestanden.

 

Auf dem Weg in die digitale Staatsmedizin?

Jens Spahn hat die Digitalisierung zur Chefsache gemacht und hier zweifellos einiges in Bewegung gebracht. Dabei hat er wenig Rücksicht auf das Prinzip der Selbstverwaltung genommen. Die Selbstverwaltung ist ein tragendes Prinzip des deutschen Gesundheitswesens. Die Organisationen der Leistungserbringer und die Krankenkassen als Kostenträger sowie einige Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter (mit beratender Stimme) kümmern sich gemeinsam um die operative Umsetzung und Steuerung der gesundheitspolitischen Rahmensetzung, die durch den Gesetzgeber erfolgt. Die Politik beschränkt sich eben auf diese Rahmensetzung sowie eine Fach- und Rechtsaufsicht. Forderungen nach direkteren Eingriffen der Politik wurden von Jens Spahn zu der Zeit, als er noch gesundheitspolitischer Sprecher der Union war, als „Staatsmedizin“ zurückgewiesen. Als Minister sind ihm nun solche Skrupel ziemlich abhandengekommen.

Handstreichartig hat er die Gematik unter die Kontrolle des BMG gebracht, indem er 51 % der Gesellschafteranteile übernommen hat. Ein neuer Geschäftsführer, der sich offensichtlich in erster Linie dem Mehrheitsgesellschafter verpflichtet fühlt, wurde auch gleich eingestellt. Die bisherigen Gesellschafter der Selbstverwaltung wurden entmachtet.

Finanziert wird das Ganze jedoch weiterhin über Beiträge der Versichertengemeinschaft. Und nach einem aktuell in der Beratung befindlichen Gesetzesentwurf soll der Finanzierungsbeitrag von einem Euro pro Versicherten auf 1,50 Euro pro Versicherten heraufgesetzt werden. Der Budgetrahmen dieser Gematik würde damit auf rund 85 Millionen Euro im Jahr anwachsen. Inzwischen ist ein „Whitepaper“ im Umlauf, das gerne als unverbindliche Ideenskizze verharmlost wird, jedoch deutliche Hinweise enthält, dass die Gematik (und damit das Ministerium) in Zukunft unmittelbar unternehmerisch tätig werden will und somit den Charakter eines Leistungserbringers sehr nahe kommt.

Auch im Umgang mit den Krankenkassen und deren Spitzenverband hat Spahn mehrmals erkennen lassen, dass er nur dann ein selbsternannter „Fan der Selbstverwaltung“ ist, wenn die tut, was er will. Noch gut in Erinnerung ist sein Versuch, den Verwaltungsrat des GKV-Spitzenverbands durch die Etablierung eines übergeordneten Gremiums auszuhebeln. Dabei wurde ein Muster in seiner politischen Vorgehensweise erkennbar: Im Referentenentwurf steht eine sehr weitreichende Regelung, über die sich dann alle aufregen und heftig diskutieren. Am Ende wird das dann teilweise zurückgenommen, die Grundintention jedoch durchgesetzt. Ein Lenkungs- und Koordinierungsausschuss wurde als neues Gremium neben dem Verwaltungsrat geschaffen.

 

Konzertierte Aktion Pflege – vom großen Anspruch zur Luftnummer?

Es hat mehr als zehn Jahre und vor allem etlicher Proteste, Aktionen, Initiativen, Streiks der Betroffenen gebraucht, bis der bereits lange existierende Pflegenotstand in den Krankenhäusern und der Altenpflege endlich durch die Bundespolitik wahrgenommen wurde.

Nachdem die Selbstverwaltungspartner GKV-SV und Deutsche Krankenhausgesellschaft sich nicht einigen konnten, hat das BMG eine Pflege-Personal-Untergrenzen-Verordnung für bestimmte Bereiche im Krankenhaus erlassen, mit der allerdings weder die Pflegekräfte und ihre Gewerkschaft ver.di noch die Geschäftsführungen der Krankenhäuser besonders glücklich sind. Am Pflegenotstand haben diese statistisch ermittelten Untergrenzen nun auch rein gar nichts geändert.

Sehr überraschend für viele Beobachter war dann doch, dass mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) die Personalkosten für die Pflege aus den DRG herausgenommen werden und in Form eines Pflegebudgets zwischen den Kassen und den Krankenhäusern vereinbart werden sollen. Für viele war dies der „Einstieg in den Ausstieg aus der DRG-Finanzierung“. Die Umsetzung erweist sich indes weitaus schwieriger als gedacht. Die Verhandlungen über die Pflegebudgets verlaufen zäh und sind in vielen Häusern noch nicht abgeschlossen. Das mit dem Gesetz gegebene Versprechen, jede neu eingestellte Pflegekraft zu finanzieren, greift auch aus anderen Gründen kaum. Die Kliniken haben eher alle Hände voll zu tun, ihre Pflegekräfte zu halten und vom „Pflexit“ abzuhalten.

Die Bereitschaft der ausgeschiedenen Pflegekräfte zu den bestehenden Arbeitsbedingungen in den Beruf zurückzukehren, ist nicht besonders ausgeprägt. Und hier hat Corona voll zugeschlagen. Nachdem der anfängliche Applaus verhallt war, fühlen sich viele Pflegekräfte ziemlich allein gelassen und zunehmend verschaukelt. Die Situation ist sehr angespannt und bedrohlich. Viele Pflegekräfte erwägen aktuell, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Es besteht hier akuter politischer Handlungsbedarf.

Ähnlich ist es in der stationären und ambulanten Altenpflege. Versprechungen, die gemacht worden sind, wurden nicht gehalten. Statt eines Aufwuchses an Stellen erleben wir auch hier eine Abwanderung. Zwar wurde der Mindestlohn erhöht, aber der Versuch, einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag in der Altenpflege durchzusetzen, scheiterte an der Arbeitsgeberseite der arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. Es heißt, dass das BMG dabei seine Finger im Spiel hatte.

Jens Spahn wollte die Bedeutung der Pflege durch die Berufung von Andreas Westerfellhaus als Pflegebeauftragten der Bundesregierung und die Einrichtung einer „Konzertierten Aktion Pflege“ unterstreichen. Es wurden Studien in Auftrag gegeben und Arbeitskreise gebildet. Und die haben beide gute Ergebnisse und Vorschläge vorgelegt. Umgesetzt wurde davon bislang nichts. Und das, was man dazu in Entwürfen wiederfindet, hat mit dem, was da in Arbeitskreisen und Studien erarbeitet wurde, nicht viel zu tun.

Ein bedarfsgerechtes Personalbemessungsinstrument wird es in dieser Wahlperiode wohl weder in der Altenpflege noch in den Krankenhäusern geben. Dabei wäre das eine wichtige Voraussetzung für eine bedarfsgerechte Personal(einsatz)planung und damit für eine gezielte Ausbildung und Anwerbung von Pflegekräften.

 

Ausblick: Die To-Do-Liste für die nächste Wahlperiode wird länger

Für die/den kommenden Gesundheitsministerin bzw. Gesundheitsminister wird es wenig Zeit zum Durchschnaufen geben. Trotz des enormen Fleißes, den Spahn an den Tag legte, wird die To-Do-Liste mit den drängendsten Problemen immer länger.

Mit Blick auf die Länge des Artikels kann ich das nur in Stichworten aufführen:

  1. Nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch im Gesundheitswesen wird die Frage sein, wer denn für die Kosten der Corona-Pandemie aufkommt. Die einst gut gefüllten Kassen der Krankenversicherungen sind leer, der Gesundheitsfonds läuft ebenfalls auf die Mindestreserve zu. Es wird ein Defizit von zirka 16 Mrd. Euro erwartet. Und die Ausgabenwirkungen vieler der Spahnschen Gesetze haben sich noch nicht einmal voll entfaltet. Das dürfte die Diskussion über die Finanzierungssystematik wieder auf die politische Tagesordnung bringen. Ein Thema, um das es in den letzten 4 Jahren reichlich still geworden ist. Aber die Grundproblematik war ja nie verschwunden und lebt jetzt wieder auf. Der Streit um die Höhe des Steuerzuschusses und um alternative Finanzierungskonzepte („Bürgerversicherung“ versus „Kopfpauschale“) wird erneut geführt werden müssen.
  2. Die Krankenhausfinanzierung kommt auf den Prüfstand. Es gibt sehr viele unterschiedliche Vorstellungen, wie sie künftig ausgestaltet werden soll. Aber es gibt gleichzeitig eine große Einigkeit, dass sie nicht so bleiben kann, wie sie heute ist. Und mit diesem Thema kommt das gesamte politische Feld der Krankenhauslandschaft in den Blick. Es wird um Strukturen gehen, also die Frage, wie die Krankenhausversorgung bedarfsgerecht ausgestaltet werden kann und welches Krankenhaus dabei welchen Versorgungsauftrag zugewiesen bekommt. Das wirft gleichzeitig zwei Fragen mit auf: Nämlich die nach der Durchlässigkeit der Sektoren und der Rolle, die kleine Krankenhäuser auch in der ambulanten Versorgung spielen können.
  3. Und als zweite zentrale Frage, wie Krankenhausversorgung als öffentliche Daseinsvorsorge angesichts des bestehenden Privatisierungsdrucks garantiert werden kann.

Der Pflegenotstand in den Krankenhäusern und in der Altenpflege muss dringend angegangen werden. Die Begründung habe ich oben gegeben. Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie müssen einfließen in eine grundlegende Reform und Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.

Eine ganze Reihe von weiteren Baustellen des Gesundheitswesens sind noch zu bearbeiten: MVZ und Private Equity-Fonds, UPD-Zukunft, Weiterentwicklung Gesundheitsförderung, „Health in all Policies“, Patientensicherheit, Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses, Medizinprodukte, Arzneimittel und Preisfindung, Apotheken usw.

Grundsätzlich wird die Auseinandersetzung um die Ausrichtung der Gesundheitspolitik weiter gehen. Die Pole sind dabei wie gehabt. Wollen wir noch mehr Markt- und Profitorientierung zulassen oder wollen wir mehr Orientierung am Gemeinwohl?


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