30.09.2024
„Wissensexplosion“ – über die Digitalisierung hinaus
Buchbesprechung: zur Rolle der KI im Gesundheitswesen
Dr. Robert Paquet
Die Techniker Krankenkasse (TK) will einen Beitrag zur Modernisierung des Gesundheitswesens leisten. Ihr Vorstandsvorsitzender Dr. Jens Baas sammelt zu den einschlägigen Themen regelmäßig Beiträge aus Wissenschaft und Praxis und gibt entsprechenden Sammelbände heraus. Diesmal steht die Künstliche Intelligenz (KI) im Mittelpunkt.[1]
Den Arbeitstitel „Wissensexplosion“ habe man schon gehabt; dann sei im November 2022 ChatGPT gekommen. So schreibt Baas in seinem Vorwort. Seitdem hagele es Beiträge, auch zur Rolle der KI im Gesundheitswesen. Ein zentrales Problem sei jedoch die „Wahrheitstreue“ solcher Systeme. Man müsse Ärzte und Patienten z.B. vor deren „Halluzinationen“ schützen, die in Randbereichen immer wieder vorkommen. Es gebe aber die unterschiedlichsten Anwendungsgebiete. Die Buchbeiträge wollen „ein Stück Orientierung in unübersichtlichen Zeiten geben“ (V). Zwei Warnhinweise werden (den Autoren und geneigten Lesern) gleich noch mitgegeben. Es gebe auch Modernisierung und Digitalisierung ohne KI. Und man müsse – wegen der angesprochenen Gefahren – sorgfältig zwischen generativer KI und anderen KI-Formen unterscheiden.
Das Buch hat drei große Teile. Im ersten „Herausforderung Wissensexplosion“ geht es eher allgemein um die Potentiale und Risiken von Digitalisierung und KI, ethische und juristische Aspekte etc. Im zweiten und dritten Teil um Anwendungen und neue Möglichkeiten, wobei im dritten Teil vor allem die Wirkungen auf das Gesundheitssystem in Deutschland eine Rolle spielen.
Wissensexplosion und neue Möglichkeiten
Im ersten Kapitel beschreibt der Herausgeber (zusammen mit seinem Mitarbeiter) die Chancen der KI in der Medizin: Die Sequenzierung des menschlichen Genoms werde immer kostengünstiger; die Analyse großer Datenmengen werde mit begrenztem Aufwand und immer schneller möglich etc. Daraus sehen die Autoren fünf Einsatzbereiche der KI in der Medizin. In der Prävention (1) ergäben sich neue Möglichkeiten. „Durch Genomanalysen lassen sich Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten bestimmter Erkrankungen bis zu 100% errechnen.“ Mediziner könnten die Betroffenen dann warnen und dem Ausbruch der Krankheit entgegenwirken. In der (bildgebenden) Diagnostik (2) sei die KI schon heute schneller und genauer als ein Mensch. Bei den Therapien (3) führe die KI zur schnelleren Entwicklung von neuen Therapieverfahren, Arzneimitteln und Implantaten. In der Dokumentation (4) stellen sich die Autoren vor, dass Ärzte künftig mit ihren Patienten „ganz normale“ Gespräche führen könnten, ohne gleichzeitig dokumentieren zu müssen: „Am Ende erstellt die KI ein strukturiertes Dokument und gleicht die Handlungsempfehlungen mit den aktuellen Leitlinien ab. Bis auf einen kurzen Check des fertigen Dokuments entfällt die Dokumentation bzw. das Erstellen von Arztbriefen“ (S. 8). In der Nachsorge (5) gebe es neue Möglichkeiten der Fernüberwachung via Telemedizin: „Geräte zur Überwachung von Vitalwerten werden immer kleiner und sind teilweise schon heute … von Laien handhabbar“ (S. 8).
Die Politik verhalte sich hier aber widersprüchlich. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz und der Opt-out-Lösung bei der elektronischen Patientenakte erhielten die Krankenkassen zwar viele neue Handlungschancen. Häufig fehle es jedoch an der Vernetzung und Interoperabilität. Die Politik habe durch Überregulierung und den Drang zum Perfektionismus die Probleme noch vergrößert, statt sie zu lösen. Angemahnt wird mehr Agilität. Das System müsse sich schneller ändern, sonst würden die Kosten ungebremst steigen. „Wäre das E-Rezept erst eingeführt worden, wenn es perfekt gewesen wäre, wären wahrscheinlich noch einmal zehn Jahre ins Land gegangen.“ (S. 12)
Daniel Dettling, Geschäftsführer von Gesundheitsstadt Berlin und „gefragter Keynote Speaker bei Unternehmen, NGOs, Ministerien, Verbänden, politischen Parteien und Stiftungen“ (S. 20) verbreitet Optimismus zum „Megatrend Wissenskultur“. Die ePA werde zum „Gamechanger“. Es gebe großartige Perspektiven der prädiktiven personalisierten Medizin, wir bewegen uns auf eine – nicht näher erklärte, gleichwohl schöne neue – „konnektive Gesellschaft“ zu. Und so weiter. Was man von Keynote Speakern eben so erwarten kann. – Demgegenüber fordert Andreas Meusch zu mehr Nachdenklichkeit im Hinblick auf die Nutzung der KI auf. Er fragt z.B.: Löst im gesellschaftlichen Diskurs „Wahrscheinlichkeit … die Wahrheit als Maßstab ab“? (S. 22) „Was will ich überhaupt über meine gesundheitliche Zukunft wissen? Was folgt für mich und meine Familie aus einem Wissen, das nicht zu Handlungen führt?“ (S. 24). So sei die Politik gefragt, den normativen Rahmen zu setzen. Die KI sei oft ein „Narrativ“ und werde „als Heilsversprechen zelebriert“ (S. 26). In Science-Fiction-Filmen werde sie meist in bestimmten Figuren „vermenschlicht“. „Dass diese Blechtypen (aber) besser sein sollen als wir Menschen, die Krone der Schöpfung, ist natürlich eine epochale narzisstische Kränkung“ (S. 25).
Weiter verweist Meusch auf die schlichte Tatsache, dass der Output von KI von der Qualität der Daten abhänge, mit denen sie trainiert worden sei. In diesem Sinne seien KI-Systeme „deterministisch“ (S. 27). Ihre Entwicklung sei „primär das Ergebnis von Designentscheidungen“. So bleibe es die Aufgaben der Menschen, die Zukunft zu gestalten. Im Gesundheitswesen ändere KI gleichwohl die Rolle der Patientinnen und Patienten. Sie würden durch mehr Wissen gestärkt. Aber auch die Rolle der Mediziner werde sich wandeln. Es werde in Zukunft darauf ankommen, „dass Ärzte und unterstützende KI ein gutes Team bilden“ (S. 29).
Für diese Veränderung des Arzt-Patientenverhältnisses mahnt der Arzt und Unternehmer André T. Nemat ethische Leitplanken an. Der Jurist Christian Dierks warnt umgekehrt vor zu vielen rechtlichen Restriktionen im Namen eines falsch verstandenen Datenschutzes. Bei Auswertungen pseudonymisierter Daten müsse der Patient nicht nur sein „Recht auf Vergessenwerden“, sondern auch sein „Recht auf Gefundenwerden“ realisieren“ können (S. 46). Nur so könnten ihm therapeutische Verbesserungen gezielt zugutekommen. Das gegenwärtige Regulierungssystem überlasse es jedoch dem Patienten, ob z.B. die „Medikationshistorie“ interpretierbar dokumentiert wird, zumal unter den Bedingungen der freien Arztwahl. „Um dieser vermeintlich hochstehenden Freiheit der Patientinnen und Patienten willen, die in Wahrheit nur den Konkurrenzkampf unter den Behandlern abbildet, leisten wir uns tausende medizinischer und wirtschaftlicher Schäden.“ Dierks fragt denn auch konsequent, warum der elektronische Medikationsplan erst ab vier Medikamenten greife und nicht schon früher (S. 49). Das deutsche Gesundheitswesen brauche dringend mehr Effizienz. „Koordinierte Behandlungs- und Verordnungswege müssen als Einsparpotenziale genutzt werden“ (ebenda). Das lasse sich nur „durch eine verbesserte Datennutzung … deutlich verändern“ (S. 50).
Eine Autorengruppe um Prof. Eckhard Nagel (Bayreuth) beschäftigt sich mit dem (potentiellen) Beitrag von „Datenspenden“ und der Datennutzung für den medizinischen Fortschritt. Das Potential sei enorm. In unserem Gesundheitswesen seien die Daten jedoch „häufig wenig strukturiert, kaum standardisiert und in verschiedenen Systemen und Organisationen fragmentiert“. Sie seien „meist in isolierten Systemen innerhalb der Organisationen gespeichert, was jeglichen Austausch erheblich erschwert“ (S. 56). Angesichts dieser Lage sei nicht nur die ethische Frage nach der Nutzung, sondern „auch der Nicht-Nutzung der Technologien und Daten“ zu stellen (ebenda).
Auch das Gespräch von Jens Baas mit Sarah Spiekermann dreht sich um ethische Aspekte. Spiekermann ist Professorin am Institut für Wirtschaftsinformatik & Gesellschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien), hat mit ihren Publikationen eine ISO-Norm für „ethisches Systemdesign“ initiiert und deren Entwicklung geleitet. Sie erklärt, man müsse „gleich zu Beginn der Entwicklung digitaler Produkte dafür … sorgen, dass es später keine Probleme gibt“ (S. 66). Das Auftauchen von ChatGPT im öffentlichen Raum sei ein „Wahrheitsmoment“ gewesen und habe damit ein Problem bewusst gemacht (ebenda): Transformer Technologien hätten keinen Zugang zur Wahrheit. Sie seien auch nicht „neutral“, wie manche immer noch glaubten, sondern hingen von den Daten ab, mit denen sie gefüttert werden (S. 69). „Jeder Bias in den Ausgangsdaten wird durch die Technik reproduziert und so verstärkt“ (S. 69). – Bemerkenswert auch ihre Haltung zu dem Vorschlag prominenter Tech-Unternehmer und Wissenschaftler, ein Moratorium für die Weiterentwicklung von KI zu setzen: „Ich habe das nicht ernst genommen und gleichzeitig fand ich es einen sehr guten und wichtigen Aufruf. Unterschrieben habe ich es nicht. Nicht, weil mir die Inhalte nicht gefallen, sondern weil ich dem Think Tank und den Personen, die hier dahinterstehen, nicht vertraue. Dort werden transhumanistische Ideen beforscht …“ (ebenda). Abschließend zum KI-Design: „So wie es im Qualitätsmanagement inzwischen unbestritten ist, dass man Qualität nicht am Ende des Produktionsprozesses in ein Produkt hineinkontrollieren kann, sondern die Qualität über den gesamten Produktionsprozess sichergestellt werden muss, muss in der Softwareentwicklung auch von Anfang an der Impact auf die Menschen mitgedacht werden“ (S. 73).
Anwendungen I
Alexander Birken und Manuel Grahammer, Vorstandsvorsitzender und Digital-Health-Beauftragter, berichten über die Wissensexplosion in der Otto-Group. Sie sei die wesentliche Grundlage der Entwicklung von einem „traditionellen Versandhandelsunternehmen zu einem digitalen Vorreiter“ des E-Commerce. Beide geben einen Einblick, wie sich das Unternehmen auf den Einstieg in den (digitalen) Gesundheitsmarkt vorbereitet. Ren-Yi Lo, Leiterin des Big Data Office von Siemens Healthineers in Princeton, fragt, was die „richtigen“ Daten (als Grundlage) für die KI im Gesundheitswesen sind. Auch hier die Klage: „Neben der Anzahl der verschiedenen Datentypen ist das Fehlen standardisierter Datenformate für einzelne Datenmodalitäten eine große Herausforderung.“ Auch die „geringe Interoperabilität zwischen den IT-Systemen“ stelle ein „Hindernisse für eine hohe Datenintegrität dar“ (S. 87). Sie erläutert vier Kernprinzipien, die sich für ein erfolgreiches Big-Data-Management im Gesundheitswesen herauskristallisiert hätten: Datenschutz, Sicherheit, Compliance und Transparenz/Vertrauen.
Ausgesprochen spannend ist der Bericht von Ursula Arning und Jasmin Schmitz vom Publisso beim ZB Med in Köln. Was ist das überhaupt? – Es geht um das „Informationszentrum Lebenswissenschaften“ bei der vormals so genannten „Zentralbibliothek“ der Uniklinika Bonn und Köln. Die Autorinnen berichten über die Veränderung des wissenschaftlichen Publikationsprozesses vom Print zum elektronischen Publizieren. Sie betrifft den Medizinbereich besonders stark, weil sich hier der wissenschaftliche Fortschritt besonders schnell entwickelt und eng mit der Digitalisierung verknüpft ist. Beschrieben wird der Übergang von der Bezahlung des Leserzugriffs zu Publikationsgebühren, die Finanzierung des Open Acces, die Probleme der wissenschaftlichen Qualitätssicherung durch Peer Reviews und die Vor- und Nachteile von Preprint-Veröffentlichungen.
Stefan Ebener, Leiter einer Expertengruppe der Google Cloud für „Datenmedizin“, informiert über die „Google Health“-Initiative und die damit zusammenhängenden Forschungskooperationen. Ein Autorenteam von PwC Deutschland stellt dar, wie die Digitalisierung in Entwicklungsstufen abläuft. Eine „frühe Stufe der Digitalisierung“ sei „die Robotic Process Automation, kurz RPA. … Beispiele für den Einsatz von RPA sind das Einlesen von Rechnungen oder die automatische Erstellung von Berichten. Auch Chatbots, die Krankenversicherungen beispielsweise im Kontakt mit ihren Kundinnen und Kunden einsetzen, sind eine Form der RPA“ (S.116). Darauf aufbauend würde die KI schließlich auch das „Denken“ übernehmen und Diagnostik und Therapie verbessern. Die KI könnte auch die Geschäftsprozesse der Krankenkassen durch „digitale Lösungen“ nützlicher für die Versicherten und Patienten gestalten.
Aude Vik, CIO der TK, berichtet eher allgemein, wie die TK „Wissensmanagement“ betreibt. Ihr Vorgänger in der Kasse, Markus Schlobohm, macht sich Gedanken über die Entwicklung über ChatGPT hinaus. Er präsentiert Beispiele über die Grenzen und Einschränkungen von LLMs (großer Sprachmodelle). Sie hätten kein „Verständnis von Tiefe und Nuancen“, litten unter „Kontextverlust“ und seien anfällig für Bias. Vor allem im besonders sensiblen Bereich der Medizin seien sie daher mit Sicherheitsrisiken behaftet und anfällig für Manipulationen. Aber die Entwicklung führe darüber hinaus: Zum Beispiel könnten „fortgeschrittene KI-Systeme … in der Lage sein, nicht nur menschliche Emotionen zu erkennen, sondern auch empathisch auf sie zu reagieren“ (S. 145). Künftige Systeme könnten „lernen“, d.h. sich selbst (auch im Wettstreit untereinander) zu optimieren.
Christof von Kalle und Petya Zyumbileva von der Charité skizzieren den Nutzen der KI als Brücke zwischen Forschung und Praxis in der Arzneimittelforschung. Zum Beispiel eröffne „die Anwendung von KI-Technologien für die Identifizierung und Optimierung von Molekülen und Antikörpern … neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Medikamenten“, beschleunige die Impfstoffentwicklung und unterstütze die „personalisierte Krebsmedizin“ (S. 151f.). „Durch die Anwendung von KI könnten (auch) Effizienz und Genauigkeit bei der Identifikation und Auswahl geeigneter Patientinnen und Patienten für klinische Studien erheblich verbessert werden“ (S. 154). Ausführlicher dazu berichten im dritten Abschnitt Forscher der Bayer AG darüber, „Wie KI die Pharmaforschung (r)evolutioniert“ (S. 224ff.).
Eva Hilus und Anke Seitz, beide in der „strategischen Unternehmensentwicklung“ der TK, stellen sich der Herausforderung durch die „Tech-Giganten im Gesundheitswesen“. Die großen Technologie-Unternehmen zeigten „seit einigen Jahren vermehrt Interesse an der Gesundheitsbranche und (entwickeln) weltweit Angebote für den Gesundheitsmarkt“ (S. 161). Die Autorinnen geben einen Überblick über div. Apps und Wearables und beleuchten die unterschiedlichen strategischen Ausrichtungen von Google, Apple, Amazon und Microsoft. Dabei unterscheide sich Microsoft von den anwender-orientierten Unternehmen und suche „mit dem Fokus auf den B2B-Bereich eher die Rolle des Enablers im Hintergrund“ (S. 166). Das gelte in Fachkreisen als sehr erfolgversprechend. Angesichts der Sensibilität von Gesundheitsdaten und der Gefahr einer „zunehmenden Privatisierung medizinischen Wissens“ werden „politische und rechtliche Rahmenbedingungen“ angemahnt, „die die Chancen nutzbar machen und die Risiken abmildern. Denn die Frage ist längst nicht mehr ob, sondern wie die Technologiekonzerne das Gesundheitswesen prägen werden“ (S. 168).
Anwendungen II
Die Digitalisierung hat inzwischen auch die Pflege erreicht. Darüber berichten Karin Wolf-Ostermann und Kathrin Seibert von der Universität Bremen. Neben den Digitalen Pflegeanwendungen (DiPAs), von denen nach Auskunft der Autorinnen bisher noch keine im Verzeichnis des BfArM gelistet sei (S. 175), spielt die Digitalisierung bisher vor allem bei den administrativen Aspekten eine Rolle. „Telepflege-Anwendungen und Pflegeportale unterstützen die professionelle Zusammenarbeit; Informations- und Beratungsbedarfe, digitale Dienst- und Tourenplanung sowie Pflegedokumentation werden zur Steuerung und Verwaltung in der Pflege genutzt.“ Bei den zu Pflegenden finden sich aber z.B. auch schon „aktive Exoskelette, intelligente Inkontinenzprodukte, intelligente Pflaster oder Sensoren zur Sturzerkennung und Serviceroboter“ (S. 176). Worum es beim Einsatz von KI ganz praktisch gehen könnte, zeigt der Artikel in wenigen und immer noch sehr futuristischen Beispielen: Die „KI-gestützte Vorhersage eines Delir-Risikos … durch dessen Visualisierung in der Patientenakte“, die „Unterscheidung eines Dekubitus und einer Inkontinenz-assoziierten Dermatitis auf Grundlage von Bilddaten einer Wunde“, die „Entwicklung eines Sprachassistenten für das Smartphone“, bei dem die Gesundheitsfachkräfte die Dokumentation frei und interaktiv einsprechen können (S. 178). Trotz einer grundsätzlichen Bereitschaft der Pflegekräfte zur Technologienutzung sei ein Hindernis vor allen „die fehlende Informatikkompetenz“ (S. 180).
Tatjana Dunkel und Ute Seeland kritisieren den Data Bias in der medizinischen Forschung im Hinblick auf die Geschlechtersensibilität. – Hardy Müller und Dagmar Lüttel, Der eine früher, die andere heute bei der TK für dieses Thema zuständig, kümmern sich um die Patientensicherheit. Dabei geht es exemplarisch um Entwicklung und Einsatz von „Critical Incident Reporting Systemen“ (CIRS). Zwar seien seit 2014 z.B. alle Krankenhäuser zu deren Einsatz verpflichtet. Nach einer BQS-Evaluation nehmen im März 2024 jedoch nur „61% der Krankenhausstandorte an einrichtungsübergreifenden Systemen teil“ (S. 205). In England – zum Vergleich – sei der Einsatz von CIRS sehr viel häufiger und sie würden ganz selbstverständlich genutzt. „Angesichtes von Milliarden Behandlungsanlässen in Deutschland pro Jahr machen wir zu wenig aus unseren Erfahrungen. Ein systematisches Lernen aus kritischen Ereignissen findet kaum statt“ (S. 210). Auch Ruth Hecker beschäftigt sich (eher allgemein) mit der Patientensicherheit; sie ist Vorsitzende des gleichnamigen Bündnisses. Durch die Digitalisierung und den Einsatz von KI stünde den Patienten immer mehr medizinisches Wissen zur Verfügung. Sie „könnten (jedoch) Schwierigkeiten haben, zwischen vertrauenswürdigen und unzuverlässigen Quellen zu unterscheiden“ (S. 237). Der einzige KI-Bezug des Artikels besteht schließlich in der Andeutung, digitale Tools könnten den „Patienten dabei … helfen, medizinische Studien zu lesen und zu verstehen“ und sich damit aktiver an ihrer Behandlung zu beteiligen (S. 239).
Zum Abschluss des Bandes spricht die TK wieder für sich selbst. So beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe der Kasse mit den Chancen des Einsatzes „synthetischer Daten“. Bei ihrer Generierung „arbeiten komplexe Algorithmen im Hintergrund. Sie lernen zunächst Muster der echten Daten und modellieren auf dieser Basis das synthetische Abbild“ (S. 244). Damit werde eine Art „höherwertige Form der Anonymisierung“ erreicht, die dabei helfe, „Daten einfacher und schneller auszuwerten, ohne hohe Standards an Datenschutz und -sicherheit zu verwässern“ (S. 248f.) Spezialisten für Datenanalyse werden an diesem Konzept ihre Freude haben. – Abschließend stellen Thomas Ballast, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der TK und sein Mitarbeiter Thomas Nebling die TK als „Wissenspartner“ ihrer Versicherten vor. Der Begriff scheint etwas aufgesetzt, gemeint sind aber die Möglichkeiten, die entstehen, wenn Versicherte bzw. Patienten ihre Behandlungs-, Diagnose- und Befund-Daten mit ihrer Krankenkasse teilen. Die Kasse kann so z.B. bei Pflegebedürftigen eine effektive Lotsenfunktion wahrnehmen und bedarfsgerechte Angebote machen. Oder aufgrund der Analyse von Gesundheitsdaten (vgl. den neuen § 25b SGB V) die Versicherten gezielt auf Leistungsangebote hinweisen oder die Beratung mit dem Hausarzt empfehlen. Das reicht vom gezielten Impfmanagement bis zum Hinweis, nach einem Schwangerschaftdiabetes aktiv in die Prävention einer dauerhaften Diabetes-Typ 2-Erkrankung zu investieren. Die Versicherten könnten bei dieser Datennutzung den gesetzlichen Krankenkassen voll vertrauen, weil diese keine eigenen bzw. fremden Interessen verfolgen (S. 265).
Abschließende Bemerkungen und eine Bewertung
Trotz der ethischen Abwägungen im ersten Teil des Buches dominiert die Technik-Begeisterung. Das Recht des Versicherten auf Nicht-Wissen wird zwar gestreift (bei Meusch), aber latent schimmert die Verpflichtung durch, der Patient müsse sich im Sinne einer wohlverstandenen Selbstverantwortung für seine Gesundheit auf alle möglichen – und ganz im Wortsinne – alle möglichen Datenauswertungen und KI-Unterstützungen einlassen. Hier würde es den Rezensenten freuen, wenn noch etwas ausführlichere und kritische Überlegungen dazu angestellt würden.
Die Zukunft winkt. Viele Möglichkeiten grüßen schon herüber. Unsere politischen und datenschutzrechtlichen Regelwerke stecken jedoch noch im Beton der Grundsätze aus dem vorigen Jahrhundert: Datensparsamkeit und strikte Zweckbindung der Datenverwendung. Der notwendige Mentalitätswandel in der Breite der Bevölkerung ist noch nicht im Gange. Der Umgang z.B. mit Wahrscheinlichkeitsbegriffen fällt vielen schwer und löst oft Ängste aus. Auch hier geht es um eine grundlegende Frage der digitalen (Gesundheit-)Kompetenz. Mit dem schlichten Hinweis auf Umfrageergebnisse, nach denen die Mehrheit der Nutzung der Digitalisierung positiv gegenübersteht, ist es nicht getan. Da liegen die Probleme und Bedenken tiefer.
Das hat sich zuletzt und prominent an der elektronischen Patientenakte gezeigt. Dabei spielt die ePA für viele der im Buch beschriebenen Möglichkeiten eine wesentliche Rolle. Ihre Nutzung weist aber zwei grundlegende Probleme auf. Gerade die Versicherten, für die sie den größten Nutzen bringen könnte, sind mit der selbstverantwortlichen Führung der ePA überfordert. Ihre (digitale) Gesundheitskompetenz reicht nicht und wird auch nicht vermittelt (wo auch? in der Schule? Ärzte weigern sich, das System zu erklären und ergehen sich in Obstruktion[2] etc.). Das zweite Problem ist: Die ePA selbst ist dumm. Sie funktioniert ohne eingebaute KI, die ordnet, priorisiert, aktualisiert etc. Den größten Nutzen für die (sektorenübergreifende) Behandlung und den Patienten hätte dagegen eine automatisierte bzw. vollständige „Befüllung“ und Dateneinspeisung. Dieses Ziel wird jedoch dem Grundsatz einer (falsch verstandenen) individuellen Autonomie geopfert. – Es drängt sich die Frage auf: Wenn schon die ePA (als Schlüsseltechnologie) auf einem wenig glücklichen Wege ist, wie groß sind dann die Chancen, erfolgreich sehr viel weitere Schritte der Digitalisierung und der KI-Nutzung zu gehen?
Abgesehen von solchen Überlegungen, zu denen das Buch immerhin doch anregt, bietet es einen beeindruckenden Überblick über die Chancen und Probleme der KI-Anwendung im Gesundheitswesen. Viele Branchen, viele Beispiele, viele Anwendungsgebiete. Die Autorinnen und Autoren dieses breiten Spektrums zu gewinnen und beim Thema zu halten, dürfte nicht einfach gewesen sein. Neben dieser Leistung der TK als Herausgeber zeigt die Kasse natürlich wieder einmal, dass sie selbst als Anwender der KI die Nase vorne hat.
[1] Jens Baas (Hrsg.): „Wissensexplosion – KI & Co. für mehr Gesundheit“, Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2024, 269 Seiten. ISBN: 978-3-95466-899-1
[2] Der MEDI Baden-Württemberg e.V. hat gerade seine Mitgliedsärzte aufgefordert, ihre Patienten zum Opt-out zu drängen. Dabei werden – überwiegend unzutreffende – Argumente vorgebracht, die die Glaubwürdigkeit des ePA-Projekt insgesamt untergraben sollen („zentrale“ Datenspeicherung „auf Servern privater Firmen“; „intransparenter europäischer Datenraum“; Datenzugriff „auch international“ von „Forschungseinrichtungen oder auch privaten Firmen“ etc.). Das „Informationsblatt“ für die Patienten bedient sich dabei einer alarmistischen Sprache, die irrationale Ängste mobilisieren soll. Siehe: www.medi-verbund.de/epa/
Zu diesem Buch ist ein weiterer Beitrag erschienen:
Dr. Jens Baas, Dr. Sarah Spiekermann-Hoff: „Wie kann die Digitale Transformation zum Erfolgsprojekt werden?“ Observer Gesundheit, 2. September 2024.
Lesen Sie vom Autor auch diese Beiträge zu Buchveröffentlichungen der TK:
„Viele Perspektiven, auch von außerhalb der üblichen ´Community`“, Observer Gesundheit, 9. Oktober 2023,
„Auf dem Weg in ein digitales Gesundheitswesen – Chancen und Hindernisse“, Observer Gesundheit, 20. April 2022,
„Training für die kommende Wahlperiode“, Observer Gesundheit, 3. Juni 2021.
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