Welche Relevanz hat der Koalitionsvertrag?

Was aus früheren GroKos über die künftige Gesundheitspolitik gelernt werden kann

Robin Rüsenberg, TU Braunschweig

Weißer Rauch in Berlin: Der Prozess der Regierungsbildung war teilweise holprig, bei der Kanzlerwahl schrammte man sogar knapp an einem Desaster vorbei. Aber: Die GroKo 2025 steht. Friedrich Merz ist neuer Bundeskanzler, Nina Warken neue Bundesgesundheitsministerin. Die Erwartungen an die zukünftige Gesundheitspolitik sind groß, die Unsicherheit auch.

Die Umsetzung des Koalitionsvertrages werde den Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden, so die neue Ministerin bei der Amtsübergabe von ihrem Vorgänger Lauterbach (zitiert nach Observer Datenbank, Express 07.05.2025). Noch deutlicher wird Bayerns Ministerpräsident Markus Söder: „Der Koalitionsvertrag ist die Bibel“ (zitiert nach Bild Online, 11.05.2025).

Inhaltlich wird der Koalitionsvertrag der GroKo aus gesundheitspolitischer Sicht allerdings kritisch kommentiert: kein großer Wurf, unambitioniert etc. (z. B. Paquet 2025). Erschwerend kommt hinzu, dass der Koalitionsvertrag einen generellen Finanzierungsvorbehalt enthält – und damit die dort skizzierten Maßnahmen direkt wieder relativiert. Nach der Vorstellung des Koalitionsvertrages (und auch schon deutlich früher nach der Veröffentlichung des Sondierungspapiers) sind zudem unmittelbar Diskussionen darüber entbrannt, wie einzelne Passagen des Koalitionsvertrages – etwa zu Zurückweisungen an der Grenze, zur Höhe des Mindestlohns – zu interpretieren sind. Damit stellt sich die Frage: Welche Rolle kann der Koalitionsvertrag 2025 für die künftige Regierungsarbeit spielen? Und was lässt sich aus den bisherigen Koalitionsverträgen für die neue Legislaturperiode lernen? Die vergangenen GroKos (2005, 2013 und 2018) bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial.

 

1. Der Koalitionsvertrag 2025 und die (mögliche) politische Praxis

CDU, CSU und SPD konnten sich auch 2025 nicht der Prägewirkung detaillierter Koalitionsverträge entziehen. Koalitionsverträge erhöhen die Produktivität von Koalitionsregierungen; zumindest in sogenannten „minimal winning coalitions“ (vgl. Bergman et al. 2024) – und die GroKo 2025 ist eine solche Konstellation, in der jede beteiligte Partei zur Mehrheitsbildung benötigt wird. In der politischen Praxis sind Koalitionsverträge Fluch und Segen zugleich. Einerseits sind sie permanenter Referenzrahmen und Richtschnur politischer Planung (z. B. Schwickert 2011) und sichern so ex post das Handeln der Koalitionspartner und damit die Stabilität von Regierungen. Andererseits stehen sie in der Kritik: zu umfangreich, zu viele Detailfestlegungen, zu viel Festlegung und zu wenig Flexibilität für die folgende Legislaturperiode (z.B. Schäuble 2021). Die Unzufriedenheit der politischen Entscheidungsträger mit der Realität der Koalitionsverträge ist offensichtlich. Internationale Studien legen nahe, dass längere Verhandlungen dazu beitragen, inhaltliche Differenzen zu thematisieren und damit spätere Konflikte zu reduzieren (Bäck et al. 2024). Mit 27 Verhandlungstagen liegen Union und SPD in diesem Jahr allerdings eher im historischen Durchschnitt (vgl. Timmler 2025).

Wichtiger ist ohnehin ein anderer Punkt: Ein Blick in deutsche Koalitionsvereinbarungen zeigt, dass diese häufig „unvollständig“ sind (Müller & Strøm 2000). D. h. es werden Punkte offen gelassen, Formulierungen sind vage und interpretierbar etc. Im Koalitionsvertrag, so Friedrich Merz auf dem Kleinen Parteitag der CDU Ende April, sei man bei den Lösungen für die Bezahlbarkeit der Sozialsysteme „ziemlich vage“ geblieben. Dies gelte auch für die Vorhaben in der Gesundheitspolitik (zitiert nach Deutsches Ärzteblatt Online vom 28. April 2025). In der Tat ist das gesundheitspolitische Kapitel im Koalitionsvertrag der GroKo „unvollständig“: Es sieht zwar 125 Maßnahmen vor (vgl. Observer Datenbank, Monitor Bundestagswahl, Datumsfeld 15.4.2025) – was eine beachtliche Zahl ist. Davon sind aber nur wenige mit detaillierten Zahlen hinterlegt, wie z. B. bei den Apothekenhonoraren, oder mit Terminen, wie z. B. bei den Umsetzungsschritten der Krankenhausreform (die insgesamt recht detailliert sind). Wichtige Grundsatzfragen, nämlich die der GKV-Finanzierung und die der Pflegereform, wurden ohnehin zur Klärung in Kommissionen ausgelagert.

Koalitionsverträge nehmen in der Regel eine Priorisierung (in absteigender Reihenfolge) vor: „werden“, „wollen“ (bzw. „sollen“), „prüfen“.  So auch im aktuellen Koalitionsvertrag: „Wenn wir ´wir werden` schreiben, dann meinen wir das auch so“, beschreibt der damalige Erste Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Thorsten Frei die Systematik: Vorhaben mit der Formulierung „Wir wollen“ müssten hingegen durch Einsparungen an anderer Stelle gegenfinanziert werden (Frei 2025). Für die gesundheitspolitische Analyse ist dies jedoch nicht hilfreich. Das gesundheitspolitische Kapitel verzichtet nämlich weitgehend auf solche Priorisierungen. Die beiden Kommissionen „werden“ eingerichtet (Zielperspektive 2027 ist allerdings „wollen“). Die Übernahme des GKV-Anteils am Krankenhaustransformationsfonds ist nicht derartig markiert. Die Beitragssatzstabilisierung bei gleichzeitiger Sicherung des Leistungsniveaus der GKV ist als „wollen“ zugleich politisch nachrangig. Auf die Skizzierung konkreter Maßnahmen zur Zielerreichung wird ohnehin verzichtet.

Generell hat das BMG und insbesondere der/die Minister/in immer erhebliche Spielräume, als „first mover“ bei inhaltlichen Aufschlägen die Gesundheitspolitik im eigenen Sinne zu prägen, etwa durch eigene inhaltliche Ergänzungen und Konkretisierungen des Koalitionsvertrages. Ein „unvollständiger“ Koalitionsvertrag erleichtert es, die Gesundheitspolitik im eigenen Sinne zu gestalten. Genau daran knüpft Robert Paquet (2025) seine Hoffnungen für den Koalitionsvertrag 2025: Dieser sei kein großer Wurf. Positiv sei aber, dass der Koalitionsvertrag vieles offen lasse. Auf die neue Ministerin und das BMG kommt es also an. Der Koalitionspartner wiederum ist dann oft gezwungen zu reagieren, um aus seiner Sicht Schlimmeres zu verhindern und eigene Akzente zu setzen. Der Koalitionsvertrag 2025 sieht hierfür auf der makropolitischen Ebene einen gestärkten Koalitionsausschuss vor. Dieser soll monatlich tagen, um sich zwischen den Koalitionspartnern abzustimmen und Konsens in Verfahrens-, Sach- und Personalfragen herzustellen. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass gesundheitspolitische Themen bis dahin eskalieren. Hier werden die wöchentlichen Abstimmungsrunden zwischen BMG und Regierungsfraktionen relevanter sein.

 

2. Die Bedeutung der Koalitionsverträge 2005, 2013 und 2018 

Die „Abarbeitung“ der in Koalitionsverträgen vereinbarten Maßnahmen dient durchaus als Leistungsnachweis für Regierungshandeln. Bundeskanzler Scholz lobte im vergangenen Jahr, man sei auf dem Weg, „80, 90 Prozent“ umzusetzen (zitiert nach Tagesspiegel Online vom 8. April 2024). Auch in absoluten Zahlen war die Bilanz seiner Ampel-Koalition zwischenzeitlich nicht schlecht. Nachdem die beiden Vorgängerregierungen anteilig jeweils fast 80 Prozent ihrer Versprechen umgesetzt hatten, fällt die Ampel-Bilanz aber am Ende mit nur gut der Hälfte umgesetzter Versprechen weniger schmeichelhaft aus, was vor allem auf den vorzeitigen Koalitionsbruch zurückzuführen ist (Vehrkamp & Matthieß 2025). Ob die Erfüllung von Koalitionsverträgen zum Wahlerfolg beiträgt, ist allerdings mehr als fraglich (Ellger et al. 2023).

Dennoch ist die Umsetzungstreue der im Koalitionsvertrag festgehaltenen Maßnahmen ein guter Indikator zur Beurteilung der Rolle von Koalitionsverträgen. Für eine solche Analyse bieten sich die letzten GroKos (2005, 2013 und 2018) an (vgl. mit ähnlicher Methodik Vehrkamp & Matthieß 2018; 2021): Inwieweit wurden die in den jeweiligen Koalitionsverträgen vereinbarten Maßnahmen in der Folge auch umgesetzt? Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Themenfeldern und (partei-)politischen Prioritäten?

 

2.1. Koalitionsvertrag 2005: Ringen um den GKV-Finanzierungskompromiss

Mit dem Koalitionsvertrag 2005 begann die Ära der umfangreichen Koalitionsverträge. Auch in der Gesundheitspolitik war der Koalitionsvertrag umfangreich – aber auch „unvollständig“. Kernstück der Reformbemühungen von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt war das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 (vgl. Schroeder & Paquet 2009), aber auch z. B. das Vertragsarztrechts-Änderungsgesetz 2006 und das GKV-Organisationsstruktur-Weiterentwicklungsgesetz 2009, mit denen der Koalitionsvertrag umgesetzt wurde, sind nicht zu unterschätzen. Unter den 51 Versprechen des Koalitionsvertrages finden sich einige bereits in der letzten Legislaturperiode geeinte Gesetzesvorhaben, die zügig umgesetzt werden sollen (an diesen Stellen eine Parallele zu 2025). Die Umsetzungsquote ist mit 74,5 % (38 von 51 Maßnahmen, eine konnte nicht abschließend geprüft werden) sehr solide. Alle größeren Reformvorhaben wurden auf den Weg gebracht. Eher kleinere Projekte, aber auch die Präventionsgesetzgebung sowie der Umbau des BfArM zu einer „modernen deutschen Arzneimittel- und Medizinprodukteagentur“ stehen nicht auf der Habenseite. Dabei hatte es das BMG versucht: Die Vorhaben standen auf der Agenda, aber die Koalition konnte sich politisch nicht einigen.

Gleichzeitig hatte die GroKo 2005 erhebliche inhaltliche Konsequenzen: Der Finanzierungskompromiss im WSG bestand in der Schaffung des Gesundheitsfonds und der Zusatzbeiträge, die bis heute die Grundlage des GKV-Finanzsystems bilden. Auch der GKV-Spitzenverband wurde damals aus der Taufe gehoben. Versorgungspolitisch wurde, grob gesagt, auf Wettbewerb gesetzt. Wie sehr „focusing events“, also externe negative Ereignisse, die Maßnahmensammlung eines Koalitionsvertrages durcheinander bringen können, zeigte dann die Finanzkrise 2007/2008: Das Konjunkturpaket II erhöhte die Bundeszuschüsse an die GKV deutlich.

 

2.2. Koalitionsvertrag 2013: reibungslose Umsetzung durch Hermann Gröhe

Die Ernennung des CDU-Generalsekretärs Hermann Gröhe zum Bundesminister für Gesundheit im Jahr 2013 war eine große Überraschung (hier eine Parallele zu 2025). Ihm wird nachgesagt, den Koalitionsvertrag 2013 relativ geräuschlos und reibungslos umgesetzt zu haben. Die Zahlen bestätigen dies im Großen und Ganzen: Von den 92 vereinbarten Maßnahmen wurden knapp 87 Prozent umgesetzt (80 von 92 Maßnahmen, zwei konnten nicht abschließend geprüft werden). Gröhe konnte sich dabei auf einen von Jens Spahn und Karl Lauterbach federführend ausgehandelten Koalitionsvertrag stützen, der vergleichsweise wenig „unvollständig“ ist, dafür aber viele Konkretisierungen enthält – etwa acht Termine, aber auch zahlreiche Detailregelungen und umfangreiche Umsetzungsskizzen (z. B. beim Innovationsfonds, für den konkrete Finanzmittel genannt werden). Alle großen Reformprojekte wurden umgesetzt. Zentral waren Gesetzespakete wie das Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz 2015, das Versorgungsstärkungsgesetz 2015, das Krankenhaustrukturgesetz 2016 und das E-Health-Gesetz 2015, so dass zentrale Maßnahmen bereits 2015/2016 im Bundesgesetzblatt standen. Wie bei Ulla Schmidt sind es im Vergleich kleinere Vorhaben, die nicht umgesetzt wurden. Eine Ausnahme bildet die umfassende Reform des Psychotherapeutengesetzes, für die im Koalitionsvertrag eine Novellierung der Ausbildung vorgesehen war. Diese wurde zwar vorbereitet und politisch diskutiert, aber nicht umgesetzt. Dies geschah erst unter Jens Spahn.

Inhaltlich verlagerte die GroKo ihre Reformaktivitäten im Vergleich zu 2005 auf die Versorgungsstrukturen. Union und SPD versuchten, den Umbau der Strukturen durch kleinteilige Maßnahmen – wie Stärkung der MVZ, ambulante Öffnung der Krankenhäuser, Krankenhausstrukturfonds, Terminservicestellen – voranzutreiben. Die Finanzierungsthematik der GKV stand nicht im Vordergrund, auch weil die gesamtwirtschaftliche Lage günstig war. Gleichzeitig konnten Leistungen ausgeweitet werden. Allerdings zeigte sich auch im BMG unter Hermann Gröhe die Bedeutung von „focusing events“: Bestes Beispiel war das GKV-Selbstverwaltungsstärkungsgesetz 2017, mit dem die Kontrolle und Transparenz der Körperschaften gestärkt werden sollte. Auslöser waren die Anfang 2016 bekannt gewordenen Verluste aus Vermögensanlagen der KBV.

 

2.3. Koalitionsvertrag 2018: konsequente Umsetzung mit eigenen Akzenten durch Jens Spahn

Auf Hermann Gröhe folgte 2018 Jens Spahn als neuer Bundesgesundheitsminister. Er rückte die Gesundheitspolitik in den Fokus der Öffentlichkeit und legte ein hohes Tempo an politischen Initiativen vor. Spahn folgte dabei der Marschroute des Koalitionsvertrages 2018: Der Koalitionsvertrag enthielt 71 Vorhaben, von denen rund 80 Prozent in Angriff genommen wurden (57 von 71 Maßnahmen, vier konnten nicht abschließend geprüft werden). Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im März 2020 waren das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz 2019, das GKV-Versichertenentlastungsgesetz 2018, das Terminservice- und Versorgungsgesetz 2019, das MDK-Reformgesetz 2020 sowie das Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz 2020 zentrale Gesetzesvorhaben, um nur einige der wichtigsten zu nennen.

Spahns Politik bestand jedoch nicht nur darin, den Koalitionsvertrag konsequent umzusetzen, sondern auch eigene Akzente zu setzen (vgl. Bandelow et al. 2020) – die Übernahme der gematik durch den Bund ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Die großen Reformvorhaben wurden alle auf den Weg gebracht. Es gibt aber auch Ausnahmen: Das Verbot des Apothekenversandhandels, für das man sich „einsetzen“ wollte, kam nicht (dafür aber u. a. die Regelung, dass Versandapotheken gesetzlich Versicherten keine Rabatte auf verschreibungspflichtige Arzneimittel mehr gewähren dürfen, im Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken 2019). Auch die Einführung kostendeckender Beiträge für ALG-II-Empfänger (eine „Wir-wollen“-Regelung) wurde nie realisiert. Schließlich fiel die geplante Notfallreform der Pandemie zum Opfer. Diese verschob – Stichwort „focusing events“ – die politische Agenda ohnehin komplett.

Dennoch setzte Spahn später in den Sammelgesetzen Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz 2021, Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz 2021 und Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz 2021 noch einige Elemente des Koalitionsvertrages um. Abgesehen von der – allerdings wichtigen – Beitragsfinanzierung der ALG II-Empfänger spielte die politische Prioritätensetzung über „Werden“ und „Wollen“ keine Rolle. Die Vorhaben der Koalitionsparteien aus dem Koalitionsvertrag, die sich auf die Wahlprogramme zurückführen lassen, wurden ebenfalls aufgegriffen – ggf. abgesehen von der Idee der SPD eines Patientenentschädigungsfonds (allerdings auch nur eine zu „prüfende“ Idee).

Inhaltlich klammerten Union und SPD die Finanzierungsthematik als Reformthema erneut aus. Der Umbau der Versorgungsstrukturen wurde wie in der vorherigen GroKo durch finanzielle Impulse vorangetrieben. Neu war jedoch die direkte gesundheitspolitische Intervention durch die Politik (verstärkt durch die Covid 19-Pandemie). Die Selbstverwaltung wurde stärker als in der Vergangenheit durch konkrete politische Vorgaben „gelenkt“. Oder das BMG zog Kompetenzen direkt an sich bzw. an nachgelagerte Behörden (vgl. Kompendium zur Governance des deutschen Gesundheitswesens im Observer Gesundheit vom 3.5.2025). Die strukturellen Probleme des Versorgungssystems sollten auch durch eine verstärkte Digitalisierung angegangen werden.

 

3. Was zeigt die Vergangenheit für die angefangene Legislaturperiode?

CDU, CSU und SPD haben sich 2025 für eine klassische „minimal winning coalition“ entschieden, in der jede beteiligte Partei für die Mehrheit notwendig ist. Das hat Tradition in der Bundesrepublik. Koalitionspolitisch bedeutet das aber auch: keine wechselnden Mehrheiten. Alles muss geeint werden. Dafür sind Koalitionsverträge als ex ante-Festlegungen sehr hilfreich. In den Worten des damaligen Ministers Jens Spahn (2018): „Minister in Koalitionsregierungen setzen Vorgaben und Geist eines Koalitionsvertrags um. Tun, was nach einer Wahl zwischen Koalitionspartnern verabredet wurde: Das ist Demokratie, und das ist Minister-Arbeit als Amtsausübung auf Zeit und als ernst genommener Auftrag des Souveräns.“

Die gesundheitspolitischen Erfahrungen der bisherigen Regierungszusammenarbeit von CDU, CSU und SPD bestätigen dies. GroKos sind koalitionsvertragstreu. Die Analyse für 2005, 2013 und 2018 ergibt eine Umsetzungsquote – verstanden als politisch begonnene Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag – von 81,7 Prozent (ggf. höher, da nicht alle Maßnahmen im Nachhinein abschließend geprüft werden konnten). Das ist beachtlich. Der analytische Blick ist insofern erhellend, als er die Rolle des Koalitionsvertrages als entscheidende inhaltliche Weichenstellung und Agenda-Setting für die Regierungsarbeit der GroKo bestätigt. Vieles spricht dafür, dass dies auch in der gerade begonnenen Legislaturperiode der Fall sein wird. Die gesundheitspolitische Lektüre lohnt sich also. Aus gesundheitspolitischer Perspektive hatten Analysen dies bereits für Hermann Gröhe und Jens Spahn gezeigt (Vehrkamp & Matthieß 2018; 2021).

Der Koalitionsvertrag hat eine erhebliche inhaltliche Prägewirkung. Analysen zeigen zudem, dass der Anteil der Gesetze, die völlig unabhängig vom Koalitionsvertrag zustande kommen, gesundheitspolitisch vermutlich nicht übermäßig groß ist (Iskandar & Helmik 2019). Eine 1:1-Umsetzung ist jedoch nicht die Regel, dafür sind Koalitionsverträge zu „unvollständig“. Sie geben eher die Richtung vor, aber nicht unbedingt den konkreten Weg. Dieser muss dann im politischen Tagesgeschäft ausgehandelt werden. Um das Sprachbild von Markus Söder aufzugreifen: Der Koalitionsvertrag ist durchaus eine Art Bibel – aber entscheidend ist die Exegese. An dieser Stelle haben das BMG und insbesondere die/der Minister/in besondere Spielräume. Es kommt also auf die neue Ministerin und das BMG an.

Auch thematisch gibt es keine Bereiche, die in der Vergangenheit in der Umsetzung negativ aufgefallen sind, mit Ausnahme der in Aussicht gestellten Bundeszuschüsse. Generell sind die GroKos sehr pfadabhängig. Bei der Finanzierung der GKV blockiert man sich gegenseitig. Seit Ulla Schmidt hat man hier nicht mehr die Kraft zu tiefgreifenden Reformen aufgebracht. In den Versorgungsstrukturen wird versucht, in größeren Einheiten zu zentralisieren, meist über finanzielle Anreize. Der Wettbewerbsgedanke wird aber nicht mehr verfolgt. Es dominiert nun eine stärker etatistische Steuerung, die gerne auch direkt „durchregiert“. Auf „focusing events“ wird mit Bundeszuschüssen und staatlicher Steuerung, aber nicht unbedingt mit Strukturveränderungen reagiert. Der aktuelle Koalitionsvertrag macht einen grundlegenden Politikwechsel nicht unbedingt wahrscheinlich. Aber auch das zeigt die Vergangenheit: Wirtschaftliche Notlagen oder „focusing events“ wie Krisen aller Art können jederzeit auftreten. Insbesondere wenn sie die Bevölkerung beschäftigen und damit an die Politik herangetragen werden, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass politisch gehandelt wird. Ein Koalitionsvertrag kann dann schnell obsolet werden. Dann braucht es einen sog. Policy Entrepreneur – im Regelfall die/den Minister/in, der/die die Dinge in die Hand nimmt.

 

Literatur

  • Bäck, Hanna/Bergman, Matthew/Müller, Wolfgang (2024): Coalition Bargaining Time and Governments´ Policy-Making Productivity. In: European Journal of Political Research 63 (4), S. 1263-1285.
  • Bandelow, Nils/Eckert, Florian/Hornung, Johanna/Rüsenberg, Robin (2020): Der Politikstil von Jens Spahn – Von Konsensorientierung zu Konfliktbereitschaft. In: Gesundheits- und Sozialpolitik, 74 (1), S. 6-11.
  • Bergman, Matthew/Angelova, Mariyana/Bäck, Hanna/Müller, Wolfgang (2024): Coalition Agreements and Governments’ Policy-Making-Productivity. In: West European Politics 47 (1), S. 31-60.
  • Ellger, Fabio/Klüver, Heike/Alberto, Anthea (2023): The Electoral Consequences of Policy-making in Coalition Governments. In: Research & Politics 10 (3), S. 1-7.
  • Frei, Thorsten (2025): Interview, in: Der Spiegel vom 3. Mai.
  • Iskandar, Lina/Helmik, Ann Christin (2019): Inwiefern sind Koalitionsverträge relevant für die Politikgestaltung in der Gesundheitspolitik? Unveröffentlichte Seminararbeit an der TU Braunschweig.
  • Müller, Wolfgang/Strøm, Kaare (2000): Die Schlüssel zum Zusammensein: Koalitionsabkommen in parlamentarischen Demokratien. In: van Deth, Jan/König, Thomas (Hg.): Europäische Politikwissenschaft: Ein Blick in die Werkstatt, Frankfurt am Main/ New York: Campus Verlag, S. 136–170.
  • Paquet, Robert (2025): Wie der Koalitionsvertrag gelesen werden sollte. Online verfügbar unter https://observer-gesundheit.de/wie-der-koalitionsvertrag-gelesen-werden-sollte/, abgerufen am 11.05.2025.
  • Schwickert, Dominic (2011): Strategieberatung im Zentrum der Macht. Strategische Planer in deutschen Regierungszentralen, Wiesbaden: Springer.
  • Schäuble, Wolfgang (2021): Rede von Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble „Herausforderungen für die parlamentarische Demokratie“ beim Forum Verfassungspolitik der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Online verfügbar unter https://www.bundestag.de/parlament/praesidium/reden/2021/20210709-853572, abgerufen am 11.05.2025.
  • Schroeder, Wolfgang/Paquet, Robert (2009): Gesundheitsreform 2007. Nach der Reform ist vor der Reform, Wiesbaden: VS Verlag.
  • Spahn, Jens (2018): Wettbewerb in der Pflege ist kein Selbstzweck, in: Handelsblatt vom 18. August.
  • Timmler, Vivien (2025): Turbo-Verhandlungen und schlanker Koalitionsvertrag? Von wegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 10. April.
  • Vehrkamp, Robert/Matthieß, Theres (2018): Versprochen wird nicht gebrochen. Online verfügbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_EINWURF_1_2018.pdf, abgerufen am 11.05.2025.
  • Vehrkamp, Robert/Matthieß, Theres (2021): Versprechen gehalten – Schlussbilanz zum Koalitionsvertrag der GroKo 2018-21. Online verfügbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_EINWURF_3_2021.pdf, abgerufen am 11.05.2025.
  • Vehrkamp, Robert/Matthieß, Theres (2025): Erfolgreich gescheitert. Schlussbilanz zum Koalitionsvertrag der Ampel 2021–25. Online verfügbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/einwurf-032025-erfolgreich-gescheitert, abgerufen

 

Der Autor vertritt seine private Meinung.

 

Lesen Sie zu diesem Thema auch:

„Koalitionsverhandlungen – wie setzen sich Union und SPD durch?“, Observer Gesundheit, 28. Februar 2025.


Observer Gesundheit Copyright
Alle politischen Analysen ansehen