Warum Jens Spahns Digitalisierungsstrategie kränkelt

Prof. Dr. Nils C. Bandelow

Johanna Hornung

Lina Y. Iskandar

Digitalisierung soll das zentrale Thema des ehrgeizigen Gesundheitsministers sein. Mit der „App auf Rezept“ hat das Ministerium hier erste öffentlichkeitswirksame Erfolge zu verzeichnen. Die Fachwelt konnte Jens Spahn aber trotz des großen Aktionismus noch nicht von einer Strategie überzeugen. Die Kommunikation des eigentlichen Profilierungsthemas Digitalisierung könnte für ihn zur politischen Schicksalsfrage werden.

 

Hinkt die Spahnsche Kommunikationsstrategie?

Jens Spahn glänzt in der Öffentlichkeit mit seiner großen Reformaktivität. Die Fachwelt sucht aber immer noch nach einer überzeugenden Verbindung der vielen Einzelmaßnahmen zu einer Gesamtstrategie (Geschonneck, 2019). Selbst bei seinem eigentlichen Profilierungsthema Digitalisierung hat er es noch nicht geschafft, die verabschiedeten Reformen in einen überzeugenden Zusammenhang einzubetten, die auch die Stakeholder im Gesundheitswesen mitnimmt; obwohl die konzeptionelle Stärke in diesem Feld noch am größten sein dürfte. Die fehlende Überzeugungsstrategie könnte für Jens Spahn damit zur politischen Schicksalsfrage werden. Was fehlt ihm im Diskurs mit den sektoralen Akteuren der Fachebenen?

Seit Beginn seiner Amtszeit als Bundesgesundheitsminister versucht Spahn mit großer gesetzgeberischer Aktivität zu glänzen, möchte für die Bevölkerung einen spürbaren Unterschied im Alltag machen und das Vertrauen zurückgewinnen. Im jüngst verabschiedeten Digitale-Versorgung-Gesetz ist insbesondere der bereits im 2016 erschienenen Buch angekündigten „App vom Arzt“ der Weg in die Regelversorgung frei gemacht worden. Dennoch gibt es vor allem bei der Vernetzung zwischen den Leistungserbringern, Kostenträgern und Patienten im Hinblick auf die Telematikinfrastruktur und elektronische Gesundheitsakte sowie elektronische Patientenakte weiterhin Handlungsbedarf. Auch die großen drängenden Probleme wie Pflege und Krankenhaus konnten durch Digitalisierung noch nicht merklich gelöst werden Die inhaltliche Bedeutung der „App auf Rezept“ und anderer Einzelmaßnahmen ist noch nicht absehbar.

Sicher ist aber: Ein nachhaltiger Erfolg wird neben schnell verabschiedeten Gesetzen vor allem kommunikative Überzeugung brauchen, um die jeweils relevanten Stakeholder mitzunehmen und dadurch die Akzeptanz und langfristig erfolgreiche Umsetzung zu ermöglichen – und auch Vertrauen zu schaffen (Meusch, 2019). Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich die Frage, ob sich – wenn nicht in den Inhalten – wenigstens auf kommunikativer Ebene eine zusammenhängende Digitalisierungsstrategie des Gesundheitsministeriums erkennen lässt und inwiefern die gesundheitspolitischen Akteure in diese Kommunikation eingebunden sind. Wo gibt es Konsens und somit Möglichkeiten für die Bildung eines inklusiven Narrativs? Wo gibt es Konfliktpunkte, die nicht nur inhaltlich, sondern auch kommunikativ überwunden werden müssen? Was fehlt der Spahnschen Kommunikationsstrategie beim Thema Digitalisierung?

 

Narrative: Theoretische Perspektive und Anwendung auf den politischen Diskurs

Die Politikwissenschaft versteht unter einem Narrativ eine Verbindung von sinnstiftenden Elementen, die eine zusammenhängende Storyline darstellen. Diese ist nicht wertneutral, sondern versucht gezielt eine Interpretation von bestimmten Sachverhalten nahezulegen und die Kommunikation über ein Thema zu dominieren, um ein Vorhaben oder eine zusammenhängende Politikstrategie zu legitimieren. Zentrales Element von Narrativen ist die klare Benennung von Problemen und deren Opfern, aber auch Schuldigen und Lösungen. Die Funktion von Narrativen ist folglich die Verknüpfung zweier Ebenen: Einer sachlichen Argumentationsebene, die scheinbare Fakten und Tatbestände aufzeigt und einer emotionalen, deutenden Ebene, die diese in einen Sinnzusammenhang bringt, der unterschiedliche Reformelemente integriert und begründet (Shanahan, Jones, McBeth, & Radaelli, 2018). Ein Beispiel dafür ist der aktuelle Klimadiskurs, in dem es gelingt, eine emotionale und bildliche Verknüpfung zu Reformvorhaben herzustellen und dabei auch Sachinformationen mit einzubinden. Auch sind vermeintliche Opfer und Schuldige bei vielen Streitfragen eindeutig benannt. Das Narrativ steht damit den theoretischen Konzepten des Framings (Rahmung von Informationen durch Selektion und Hervorhebung bestimmter Aspekte (Crespy & Szabó, 2018; Entman, 1993)) und der argumentativen Diskursanalyse (Analyse von Vokabular, Storylines und bestehenden Denkmustern (Hajer, 2003; Lynch, Glasby, & Robinson, 2018)) nahe, weshalb auch die Begriffe „Frames“ und „Storylines“ weitgehend synonym verwendet werden können.

Darauf aufbauend knüpfen narrative Ansätze in der Politikwissenschaft den Erfolg von politischen Ideen an eine kohärente Kommunikationsstrategie, die neben einer klaren Problemdefinition auch konkrete konsensfähige Lösungsstrategien bereithält. Nur wenn es gelingt, eine Reformstrategie mit einer geeigneten Storyline zu versehen, mit dem sich alle relevanten Akteure in einem Subsystem identifizieren können, ist der Erfolg dieser Strategie wahrscheinlich. Eine Analyse des Diskurses um die Digitalisierung im Gesundheitswesen identifiziert, inwiefern Probleme und Lösungen innerhalb des Gesundheitswesens einheitlich wahrgenommen werden und wo ein potenzieller gemeinsamer Narrativ liegt. Besonders im Fokus die bisher unzureichende Umsetzung der Vernetzung über die Telematikinfrastruktur. Darüber hinaus werden auch Diskursnetzwerke aufgedeckt, bei denen bestimmte Akteure durch eine gemeinsame Sichtweise auf Probleme, Lösungen, „Helden“, „Opfer“ und „Schurken“ verbunden sind. Eine Diskrepanz zwischen den Interpretationen von Spahn einerseits und sektoralen Akteuren andererseits würde eine uneinheitliche und wenig erfolgversprechende Digitalisierungsstrategie indizieren.

Empirische Basis unserer Analyse sind die auf der Internetseite des BMG veröffentlichten Interviews von Jens Spahn seit Amtsbeginn. Für das Thema Digitalisierung wurden dabei alle Interviews nach zentralen Schlagworten wie „Digitalisierung“, „eGK“ und „ePA“ durchsucht und die jeweiligen Treffer miteinbezogen. Daneben wurde unter den gleichen Stichworten bei der Datenbank des Observers 4.0 nach Veranstaltungen (und deren Zusammenfassungen) gesucht. Insgesamt ergab die Recherche 79 Dokumente, die zur Analyse verwendet wurden. Das Programm „Discourse Network Analyzer“ ermöglichte eine Übersicht und anschließende Untersuchung der inhaltlichen Narrative. Von besonderem Interesse waren dabei die Konzepte der „Schurken“ und „Helden“ sowie die Probleme und Lösungen für die Einführung der eGK und ePA, die von den Beteiligten genannt wurden. Opfer wurden nahezu nicht genannt und folglich bei der Interpretation vernachlässigt.

 

Viele Akteure, keine zusammenhängende Story

In dem daraus folgenden Netzwerkbild sind die Akteure (Kreise) zu Diskurselementen (Dreiecke und Rechtecke) zugeordnet. Farblich markiert sind die Problemwahrnehmungen (flieder), Lösungsvorschläge (rosa), parteipolitischen Akteure (pink), Leistungserbringer (türkis) und Kostenträger (gelb). Zusätzlich sind noch die narrativen Elemente Held (grün) und Schurke (rot) eingefärbt sowie der Anfang der aus der jeweiligen Akteurssicht identifizierten Problemlage und das entsprechende Ziel/der Endpunkt. Schwarze Verbindungen symbolisieren Zustimmung, rote Linien stehen für Ablehnung eines Diskurselements.

 

 

Zunächst fällt auf, dass der Diskurs von wenigen Akteuren dominiert wird. Jens Spahn ist – wenig überraschend – die Person, die in Berichten und BMG-Interviews am häufigsten als Kommunikator zum Thema Digitalisierung auftaucht. Unterstützt wird er dabei von einigen Mitarbeitern des BMG. Politikwissenschaftlich gesagt ist seine Gradzentralität im Netzwerk am höchsten. Auf parteipolitischer Ebene äußern sich zudem überwiegend CDU-Politiker. Aussagen von anderen Parteipositionen sind ausschließlich und im geringeren Maße von gesundheitspolitischen Experten zu finden, darunter Dirk Heidenblut (SPD), Maria Klein-Schmeink (Bündnis 90 / Die Grünen) und Christine Aschenberg-Dugnus (FDP). Wenngleich dieses Bild auch von der Auswahl der Artikel beeinflusst ist, scheint Digitalisierung im Gesundheitswesen eine klar sektorale Konfliktlinie zu sein, die im Parteienwettbewerb nicht relevant ist.

Die netzwerkspezifische Zentralitätsanalyse zeigt außerdem, welche weiteren Akteure des Gesundheitssektors stark im Diskurs vertreten sind. Neben Jens Spahn sind das Thomas Kriedel (KBV), Gottfried Ludewig (BMG), Andreas Storm (DAK Gesundheit), Ulrike Elsner (vdek) und Andreas Gassen (KBV). Das zeigt die intersektorale Bedeutung des Digitalisierungsdiskurses. Es gibt aber noch kein übergreifendes und alle Akteure umfassendes Narrativ, das eine gemeinsame Digitalisierungsstrategie indizieren würde.

 

Safety First! Was den Digitalisierungsdiskurs dominiert

Ausgehend von den relevanten Akteuren ist von besonderem Interesse, welche Inhalte und Narrative im Diskurs zentral sind. Wenn man die Probleme und Lösungen genauer betrachtet, wird deutlich, dass viele Probleme wahrgenommen, aber nur wenige und unkonkrete Lösungen konsensual getragen werden. Einig sind sich Akteure, dass der Datenschutz ein noch ungelöstes Problem bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens darstellt. Viele sehen auch die Gematik bzw. die mangelnden klaren Vorgaben vom Gesetzgeber als Problem. Interoperabilität wird im Diskurs als Lösung ausgewiesen, ist aber gleichzeitig auch eine Herausforderung für die aktuelle Politik. Dagegen herrscht bei den Lösungsvorschlägen noch ein differenzierteres Bild. Es besteht zwar weitgehend Einigung darüber, dass die Zusammenarbeit aller Beteiligten sowie ein sicheres Netz und der Anschluss der Konnektoren notwendig für das Gelingen einer Digitalisierungsstrategie sind, weitere Lösungen werden allerdings nur von Spahn kommuniziert.

In Bezug auf zusätzliche Diskurselemente gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wo die Digitalisierungsstrategie „beginnt“, ob mit der Einführung der eGK im Gesetz oder der Verfügbarkeit erster Anwendungen. Die Ziele sind jedoch erneut klar definiert und Konsens unter den genannten Akteuren. Als Schurken bezeichnen sich die Akteure der Selbstverwaltung gerne gegenseitig, während sie sich jeweils selbst als Helden sehen. Vereinzelt werden aber auch positive Vorbilder aus dem Ausland genannt, darunter Estland, Österreich und die Schweiz.

 

Zentralisiert aber isoliert – Jens Spahn im Zentrum eines noch fragmentierten Diskurses

Das Diskursnetzwerk zeigt die Dominanz sektoraler Akteure um Jens Spahn. Allerdings hat sich hier auch sinnbildlich für seine restlichen politischen Aktivitäten kein erfolgreiches Narrativ etabliert, der seine Vorhaben begründet und miteinander sowie mit den sektoralen Akteuren in Verbindung setzt. Zwar beeindruckt der Minister auf den ersten Blick mit vielen Gesetzen und scheint auch ein gutes Gespür dafür zu haben, was die Menschen im Bereich Gesundheit bewegt, jedoch scheitert Spahn an etwas anderem. Ihm fehlt die passende Story. Es gelingt ihm nicht, ein einheitliches, zusammenhängendes und mit Emotionen geknüpftes Narrativ im politischen Subsystem zu etablieren. Dies ist vor allem wichtig, um den Zuspruch der Stakeholder zu gewinnen und zu verdeutlichen, für welche konkreten Probleme seine Digitalisierungsvorhaben Lösungen bieten (können). Gerade die sektoralen Akteure sind im Hinblick auf den nachhaltigen Erfolg seiner vielen Gesetze unentbehrlich und notwendig, um mehr als nur durch kurzfristige Erfolge zu glänzen. Daneben wird auch durch die Fülle an Gesetzen die Etablierung eines einheitlichen verbindenden Narrativs erschwert.

Vor dem Hintergrund, dass Spahn seine Amtszeit mit dem großen Thema der Digitalisierung überschrieben hat, ist es umso überraschender, dass es ihm selbst bei der Strategie seines eigentlichen Profilierungsthemas nicht gelungen ist, für die identifizierten problembezogenen Lösungen – sofern diese bereits vorhanden sind – ein Narrativ zu kreieren, mit dem sich die sektoralen Akteure verbinden und zur Realisierung dieser Idee zusammenarbeiten. Um auf der Erfolgspur zu bleiben, muss Spahn es schaffen, dass sich die Akteure mit seiner Politik identifizieren können und eine Vertrauensbasis schaffen. Schafft er das nicht, wird Digitalisierung für Spahn zur politischen Schicksalsfrage, die auch über seine Amtszeit hinaus Spuren von Erfolg oder Misserfolg hinterlassen wird. Nötig ist eine Storyline, die die Qualitätsdiskussion im Gesundheitssystem aufgreift und eine Begründung für seine an Digitalisierung ausgerichteten Reformen begründen kann. Dann ist es möglich, ein gemeinsames Ziel und damit einen gemeinsamen Nenner zwischen den verschiedenen Akteuren zu finden. Denn einig sind sich die Akteure aktuell vor allem in einem: Es gibt viele Probleme mit der Digitalisierung!

 

Literatur

  • Crespy, A., & Szabó, I. (2018). Healthcare Reforms and Fiscal Discipline in Europe: Responsibility or Responsiveness? European Policy Analysis, 4(2), 214-233. doi: 10.1002/epa2.1041
  • Entman, R. M. (1993). Framing: Toward Clarification of a Fractured Paradigm. Journal of Communication, 43(4), 51-58. doi: 10.1111/j.1460-2466.1993.tb01304.x
  • Geschonneck, F. (2019). Vom Koalitionsvertrag zur Spahn-Bilanz. Observer Gesundheit https://observer-gesundheit.de/vom-koalitionsvertrag-zur-spahn-bilanz/ (zuletzt eingesehen am 8. Januar 2020).
  • Hajer, M. A. (2003). A Frame in the Fields: Policymaking and the Revinvention of Politics. In M. A. Hajer & H. Wagenaar (Eds.), Deliberative Policy Analysis. Understanding Governance in the Network Society. (pp. 88-110). Cambridge: Cambridge University Press.
  • Lynch, J. K., Glasby, J., & Robinson, S. (2018). If Telecare is the Answer, What Was the Question? Storylines, Tensions and the Unintended Consequences of Technology-supported Care. Critical Social Policy, 39(1), 44-65. doi: 10.1177/0261018318762737
  • Meusch, A. (2019). Was will Jens Spahn mit einem Populismus-Experten im BMG? Observer Gesundheit https://observer-gesundheit.de/will-jens-spahn-mit-einem-populismus-experten-im-bmg/ (zuletzt eingesehen am 9. Januar 2020).
  • Shanahan, E. A., Jones, M. D., McBeth, M. K., & Radaelli, C. M. (2018). The Narrative Policy Framework. In C. M. Weible & P. A. Sabatier (Eds.), Theories of the Policy Process. Fourth Edition (pp. 173-213). New York: Westview Press.

 

Prof. Dr. Nils C. Bandelow
Professor für Politikwissenschaft und Leiter des Chair of Comparative Politics and Public Policy, Institut für Sozialwissenschaften, TU Braunschweig

Johanna Hornung 
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Chair of Comparative Politics and Public Policy, Institut für Sozialwissenschaften, TU Braunschweig

Lina Y. Iskandar
Wissenschaftliche Hilfskraft am Chair of Comparative Politics and Public Policy, Institut für Sozialwissenschaften, TU Braunschweig


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