07.02.2025
Von Kontinuitäten, Scheinwelten und exekutivem Crash
Zur gesundheits- und pflegepolitischen Bilanz der Ampelkoalition
Dr. Christopher Hermann
Die Ampelkoalition ist in der Gesundheits- und Pflegepolitik Ende 2021 mit einem Großpaket vielfältigster Vorhaben an den Start gegangen. Die Übernahme des Erbes der gesetzgeberisch zwar quantitativ hyperaktiven, aber strukturpolitisch insuffizient abgetretenen letzten großen Koalition (GroKo III) ließ auch viel Aktivität erwarten.
Mit dem vorzeitigen Ende des sich selbst anfangs öffentlich als „Fortschrittskoalition“ apostrophierten Bündnisses (s. KOV-Titelzeile „Mehr Fortschritt wagen“; KOV 2021: 1) lohnt es sich nunmehr, den Fragen nachzugehen, was aus dem gesundheits- und pflegepolitischen Bauchladen geworden ist und in welcher Form er im Laufe des real existierenden Koalitionslebens gesetzgeberisch umgesetzt wurde. Dabei wird bald deutlich, dass die Palettenbreite aufgelisteter Vorhaben allein keineswegs als Garant dafür getaugt hat, angesichts der übernommenen strukturellen Baustellen gesundheits- und pflegepolitisch auch das systemisch Erforderliche zu „wagen“. Reichlich kleinteilige Gesetzeswerke mit anschwellender administrativer Detailregulatorik und einer zentral auf das BMG fixierten Systemlogik hatte auch die GroKo III schon opulent in ihrem Portfolio.
Die Perspektiven für das Gesundheits- und für das Pflegesystem sind deshalb zum Ende der aktuellen Legislaturperiode keineswegs ermutigender als zum Ende der letzten. Im Gegenteil hat die Ampelkoalition Strukturdefizite und Steuerungsmängel nochmals anwachsen lassen. Die lange schwelende finanzielle Schieflage der Systeme ist auch nach außen offenbar geworden und zum veritablen Finanzdebakel eskaliert. Auch in ihrer Governance verlängert sie die Schatten der Vorgängerkoalition. Wer wollte in dieser Gemengelage noch ein ordnungs- und steuerungspolitisch eigenständiges Profil der Ampelkoalition in der Gesundheits- und Pflegepolitik ausmachen?
1. Massenstart
Auch in der Gesundheits- und Pflegepolitik war die Ampelkoalition Ende 2021 medienwirksam mit ausladenden Absichtserklärungen gestartet. Das in ihrem Koalitionsvertrag (KOV) entrollte Potpourri gesundheits- und pflegepolitischer Änderungsvorhaben adressierte nicht weniger als 120 Einzelpunkte (KOV 2021: 81-88) und konnte es damit rein quantitativ problemlos mit jedem anderen KOV in der mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte währenden Geschichte der Berliner Republik aufnehmen (Hermann 2022b: Kap 2).
Was dem KOV freilich nicht entnommen werden konnte, war eine bei einer solchen Regelungsvielfalt dringend angezeigte thematische Priorisierung der angeführten Maßnahmenpalette. Ein durchgängig leitendes gemeinsames gesundheits- und pflegepolitisches Narrativ der Partner für die bevorstehende kollektive Arbeit erschließt sich nicht. Im Krankenhausbereich sollte zunächst eine „Regierungskommission“ zur Vorlage von „Empfehlungen“ eingerichtet werden (KOV 2021: 87), im Leistungserbringungsrecht der GKV der „gesetzliche Spielraum“ für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern ausgeweitet werden (ebd 85), als bestünden in diesen Bereichen objektiv Erkenntnis- oder Kompetenzdefizite und sei nicht eklatanter Umsetzungsabsentismus das Problem.
Lediglich für sieben der aufgeführten Projekte (fünf aus dem Gesundheitssektor, zwei aus dem Pflegekontext) enthielt der KOV zumindest einen (ungefähren) Zeithorizont für eine beabsichtigte Realisierung und damit einen Hinweis auf eine hervorgehobene Aufmerksamkeit bei den Koalitionären (Hermann 2022a: 24, Tab 1).
In der Gesundheitspolitik sollte insbesondere „zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG“ umgesetzt werden, „um die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern“ (KOV 2021: 85) und „bis Ende 2022“ ein „Aktionsplan“ mit den Beteiligten für ein „diverses, inklusives und barrierefreies Gesundheitswesen“ erarbeitet werden (ebd: 86).
In der Pflegepolitik wurden einzig die regelhafte Dynamisierung des Pflegegeldes „ab 2022“ (ebd: 82) und die Ergänzung der sozialen Pflegeversicherung (SPV) „um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung“ zeitlich näher priorisiert, da hierzu eine „Expertenkommission bis Ende 2023 konkrete Vorschläge vorlegen (soll)“ (ebd).
Ansonsten dominierte unstrukturierte Detailverliebtheit. Sie setzte komplexe Vorhaben neben Nischenprojekte oder Randthemen. So wird die Schaffung eines „Gesundheitssicherstellungsgesetzes“, mit dem offenbar als Lehre aus den während der Corona-Pandemie öffentlich gewordenen systemischen Resilienzdefiziten (dazu etwa: Sachverständigenausschuss 2022: v.a. 44 ff, 50 ff; Huster 2022: v.a. Rn 59 ff) „insbesondere die effiziente und dezentrale Bevorratung von Arzneimittel- und Medizinprodukten sowie regelmäßige Erstfallübungen für das Personal für Gesundheitsrisiken (sichergestellt)“ werden sollten (KOV 2021: 83), unvermittelt neben die Absicht zur Regelung des „Leistungsumfangs der Bergrettung“ oder der „Verantwortung für Wasserrettung jenseits der Küstengewässer“ (ebd: 85) gestellt und angekündigt, dass im Kassenarztrecht „künftig“ Entscheidungen des Zulassungsausschusses „durch die zuständige Landesbehörde bestätigt werden (müssen)“ (ebd: 86). Die tatsächliche Relevanz der Vorhaben für die im Weiteren zu erwartende Gesundheits- und Pflegepolitik der Ampelregierung blieb weithin nebulös.
2. Kontinuitäten I
Die numerische Durchsicht des KOV 2021 nach seiner Realisation bis Anfang 2025 zeigt ein ernüchterndes Bild. Von den 120 aufgeführten Einzelvorhaben müssen bei rein rechnerischer Betrachtung zwei Drittel als nicht umgesetzt negativ verbucht werden; nicht mehr als ein Drittel steht deutlich auf der Habenseite. Wenn BMG Lauterbach von einschlägig „19 verabschiedeten Gesetzen“ (Lauterbach 2024: 12) spricht, bleibt selbst dies rein quantitativ noch hinter dem „Powerplay der Gesetzgebung“ (Becker/Kingreen 2020: V) seiner Vorgänger Gröhe (26) und Spahn (mehr als 30) zurück (Hermann 2017: 1; ders 2021, vor Kap 1).
Ihrem als eine Art programmatische Klammer vorangestellten eigenen Anspruch („Wir wollen einen Aufbruch in eine moderne sektorenübergreifende Gesundheits- und Pflegepolitik“; KOV 2021: 81), der wohl konzeptionell-qualitativ zu verstehen sein sollte, hat die Ampelkoalition aber – unabhängig vom vorzeitigen Ende der Legislaturperiode – ebenso wenig einlösen können. Dafür ist sie viel zu sehr immer wieder im Kleinteiligen hängen geblieben.
So enthielt etwa das Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetz (PUEG) 2023 eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen in der SPV wie eine Beitragssatzsteigerung, die Erhöhung des Pflegegeldes, Anpassungen beim Pflegeunterstützungsgeld, der Rehabilitationsleistungen für Pflegepersonen oder Erweiterungen der Landesrahmenverträge (vgl. insgesamt Bt-Drs 20/6544: 37 ff). Die erwähnte (oben Kap 1) im KOV vereinbarte „regelhafte“ Dynamisierung des Pflegegeldes ist damit aber gerade nicht – und auch nicht danach – realisiert worden.
Im Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) wurde zwar ebenfalls 2023 eine Reihe von neuen Regelungen im Kontext von zunehmenden Lieferengpässen bei Arzneimitteln implementiert (vgl. zusammenfassend Bt-Drs 20/6871: 19 ff). Die im KOV versprochene „entschiedene“ Bekämpfung der „Engpässe in der Versorgung“ (KOV 2021: 87) konnte damit indessen offensichtlich nicht erreicht werden. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listet jedenfalls auch Anfang 2025 weiterhin weit mehr als 400 Lieferengpässe bei Arzneimitteln auf (BfArM 2025). Inwieweit diese Zahl das wahre Versorgungsgeschehen umfassend abbildet ist zudem völlig offen, da es auch im ALBVVG grundsätzlich bei der schon vom sogenannten Pharmadialog 2016 der GroKo II vereinbarten letztlich unverbindlichen freiwilligen Selbstverpflichtung der Pharmaunternehmen geblieben ist, Lieferdefekte überhaupt zu melden (BMG 2016: 23).
Der gleichzeitig ebenfalls im damaligen Pharmadialog unter Federführung von BMG Gröhe konsentierte „Verzicht auf die öffentliche Listung des Erstattungsbetrages“ neuer Arzneimittel (ebd: 26) wurde zwar in den GroKo-Zeiten abschließend nicht umgesetzt. Das im GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AMVSG) 2017, das die Ergebnisse des Pharmadialogs rechtstechnisch umsetzen sollte, zunächst vorgesehene gesetzliche Verbot der öffentlichen Listung des vereinbarten Erstattungsbetrages war innerhalb der damaligen Koalition nicht konsensfähig und wurde im parlamentarischen Prozess schließlich ersatzlos aus dem Entwurf zum AMVSG entfernt (Bt-Drs 18/11449: 16 f, 37). Der Abgeordnete Lauterbach fasste im Bundestag sein entschiedenes Eintreten für die Streichung der vorgesehenen Vertraulichkeit der Preise neuer Arzneimittel dahingehend zusammen, „dass vertrauliche Preise nicht zeitgemäß sind“. Vielmehr sei „Transparenz ein zeitgemäßes und sinnvolles Instrument, um im AMNOG-Verfahren überhaupt zu guten, gerechten und angemessenen Preisen zu kommen. (…) Wir haben klipp und klar gesagt: Geheimpreise gehören dort nicht hinein“ (Bt-Prot 18/221: 22162).
Solche unmissverständlichen Aussagen hinderten die Ampelregierung nicht daran, in ihrer Ende 2023 beschlossenen eigenen sogenannten Pharmastrategie gleichwohl – ohne Grundlage im eigenen KOV – erneut die „Ablösung des öffentlich gelisteten Erstattungsbetrages“ zu vereinbaren (Bundesregierung 2023: 13). Erst das Medizinforschungsgesetz (MFG) 2024 der Ampelkoalition hat mit acht Jahren Verspätung dem ursprünglichen Vorhaben der GroKo II auch tatsächlich politisch zum Durchbruch verholfen und ist dem anhaltenden Drängen von Teilen der Pharmaindustrie nachgekommen. Seit Neujahr 2025 besteht für das pharmazeutische Unternehmen gesetzlich die Option zur Verblindung des verhandelten Erstattungspreises (§ 130b Ic SGB V-neu).
Pharmaunternehmen haben dazu eine „Bedenkzeit“ (Bt-Drs 20/12149: 93) von fünf Tagen (§ 130b Ic 1 SGB V). Wie der BMG gemeinsam mit der Bundesumweltministerin bei Abschluss der Beratungen zum MFG mitteilte, sei hiermit der – offenbar bisher als ungenügend angesehene – „Ausgleich gefunden“ worden „zwischen den berechtigten wettbewerblichen Interessen der Pharmaunternehmen und den ebenfalls berechtigten Interessen der Krankenkassen“ (Lauterbach/Lemke 2024: 3). Ob auch milliardenschwere Investitionszusagen eines multinational agierenden Pharmakonzerns zum Bau eines neuen Werks in Deutschland die Entscheidung mit beeinflusst haben, wird kontrovers diskutiert (vgl einerseits Berndt et al 2024; Transparency International 2024; andererseits Antwort der BReg auf die Kleine Anfrage Vertrauliche Erstattungspreise für Arzneimittel und Presseberichte über einen möglichen Zusammenhang mit Milliardeninvestitionen des Pharmakonzerns Eli Lilly, Bt-Drs 20/12223; Antwort der BReg auf die Kleine Anfrage Einhundert Fragen zur Amtszeit des BMG, Antworten zu Fragen 52-55, Bt-Drs 20/14142: 23 ff).
3. Kontinuitäten II
Freilich zeigen sich nicht allein im konkreten Umgang mit der Pharmaindustrie frappierende Kontinuitäten in der Politik der Ampelkoalition mit derjenigen ihrer Vorgängerregierungen. Dies gilt ebenso ordnungspolitisch bei der offensichtlich willigen Kopie des neuen Typus der Systemsteuerung über exekutiven Dirigismus, der sich in der Ära der GroKo III unter Bundeskanzlerin Merkel und BMG Spahn subkutan zunehmend auftrumpfend herausgebildet hatte (dazu Hermann 2020: v.a. Kap 7; ders 2021b: 38 ff).
Exekutiver Dirigismus
Das traditionell korporatistisch angelegte GKV- und SPV-System ist in den Jahren der GroKo III weg von den unmittelbar Beteiligten in der „(gemeinsamen) Selbstverwaltung“ und weg vom bisherigen „System abgestufter Regulierung“ (Hofmann/Wallrabenstein 2022: Rn 20) in Richtung auf zentralstaatliche Dominanz und Detailregulierung verschoben worden (exekutiver Dirigismus). Mit dem exekutiven Dirigismus wurde ein verändertes Entscheidungs- und Machtgefüge etabliert (Hermann 2020: v.a Kap 1).
Der schleichende Umbau des GKV- und des SPV-Systems vollzieht sich dabei nicht im Rahmen einer neuartigen gesundheits- und pflegepolitischen Agenda. Der exekutive Dirigismus fußt nicht auf einem programmatisch klar unterlegten Fundament veränderter Systemsteuerung. Er ist rein technokratisch gekennzeichnet durch gesetzgeberischen Hyperaktionismus und zunehmenden exekutiven Machtzuwachs. Er ist die Folge einer politischen Entwicklung, in der seit Jahren die Kraft fehlt, die sich verschärfenden Strukturprobleme angemessen durch konsequente Strukturreformen zu beseitigen.
Das gouvernementale Vorgehen zur kurzfristigen Bekämpfung des GKV-Finanzierungsdefizits 2021 – noch von der GroKo III verantwortet – in Höhe von prognostiziert 16 Mrd. Euro im Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG; Bt-Drs 19/24244: 2) und, zwei Jahre später, 2023 durch die Ampelregierung bei prognostizierten 17 Mrd. Euro (Lauterbach 2022: 1) im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz gleicht sich bis in Gesetzesbegründungen hinein wie ein Ei dem anderen (zum Folgenden ausführlich: Hermann 2023: Kap 2 mwNw).
Über eine (wenig überraschende) Anhebung des Zusatzbeitragssatzes hinaus (um 0,2 bzw. 0,3 Beitragssatzpunkte) folgte die Governance der Krisenbearbeitung ordnungspolitisch in beiden Fällen einem identischen zentralstaatlich ausgerichteten Paradigma der „Einheitskasse GKV“. Dekretiert wurden sowohl verschärfte Restriktionen für die einzelnen Krankenkasse hinsichtlich ihrer Mittelbewirtschaftung (Absenkung der zulässigen Höchstgrenze vorgehaltener Betriebsmittel und Rücklagen vom 1,0-fachen auf schließlich das 0,5-fache einer Monatsausgabe) als auch gleichzeitig die Zwangskollektivierung erheblicher Anteile der kassenindividuellen Finanzreserven durch Abführung an den Gesundheitsfonds (zunächst zwei Drittel der Rücklagen oberhalb der Höhe von 0,4 Monatsausgaben, schließlich drei Fünftel der Reserven oberhalb von 0,3 Monatsausgaben und zusätzlich zwei Fünftel derjenigen oberhalb von 0,2 Monatsausgaben).
Die Zwangsenteignung der Einzelkassen durch das GVPG spülte für das Jahr 2021 einmalig 8 Mrd. Euro in den Gesundheitsfonds. Da der (verschärfte) Reprint im GKV-Finanzstabilisierungsgesetz 2023 freilich lediglich noch Zuflüsse in Höhe von 2,5 Mrd. Euro realisieren konnte, erfolgte zusätzlich ein weiterer konfiszierender Zugriff auf die – im Wesentlichen ebenfalls aus Beitragsmitteln gespeiste – Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds. Sie büßte durch Minimierung ihrer finanziellen Obergrenze (§ 271 II SGB V) von der Hälfte auf maximal ein Viertel einer durchschnittlichen Monatsausgabe einmalig rd. 5 Mrd. Euro an Finanzierungsspielraum ein.
Ordnungs- und steuerungspolitisch ist kaum ein taktsynchronerer Gleichklang bei der politischen Orchestrierung der Vorgänge vorstellbar. Sowohl das Vermögen der „selbstverwalteten“ Krankenkasse als auch die Reserven des Gesundheitsfonds stehen als systemische Verfügungsmasse jederzeit zur exekutiv veranlassten zentralstaatlichen Disposition. Von der vormals politisch breit akzeptierten Stellung der Krankenkassen als öffentliche Körperschaften, deren selbstverwaltetes Handeln als „freiheitliche Selbstregelung und Selbstbesorgung öffentlicher Angelegenheiten (…) lediglich unter staatlicher Aufsicht“ begriffen wird (Bogs 1976: 13), kann bei GroKo III und Ampelkoalition selbst in Rudimenten nicht mehr die Rede sein. Von den klassischen konstitutiven Merkmalen der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung im Allgemeinen und der Krankenversicherung im Besonderen – der Betroffenenmitwirkung und dem Eigenverantwortlichkeitsprinzip (Herder 1988: Rn 10 ff, v.a. 14 mwNw) – bleibt im exekutiven Dirigismus der Berliner Republik im Zweifel nichts übrig.
Die Krankenkasse befriedigt nicht einmal mehr kraft eigener Kompetenz die entsprechenden Bescheide des mit der Abwicklung der Finanztransfers beauftragten Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) zur Abführung der Reserven. Die Beträge werden schlicht durch Verrechnung mit den monatlichen Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds durch das BAS einbehalten (Pfohl 2024: § 272 Rn 4, § 272b Rn1). Die dem BMG und dem BMAS unterstehende Bundesoberbehörde BAS wickelt sämtliche Finanztransfers im Verhältnis zu den einzelnen Krankenkassen autonom und ohne deren aktive Einbindung oder Beteiligung abschließend ab.
Materiell wurden durch das skizzierte Vorgehen die Finanzreserven den Krankenkassen von insgesamt mehr als 21 Mrd. Euro bei Bildung der GroKo III 2018 bereits bis auf einen Rest von rd. 8 Mrd. Euro 2023 abgeschmolzen, die Höhe der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds im selben Zeitraum von rd. 10 Mrd. Euro auf 6 Mrd. Euro zurückgefahren (Bt-Drs 20/14319: 5 f).
Die als Begründung für die Finanzmisere der GKV offiziell sowohl von der GroKo III als auch von der Ampelkoalition gleichsam mantraartig immer wieder vorgetragenen negativen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie trägt bei genauerer Analyse nicht weit. Die massiven pandemiebedingten Sonderaufwendungen in der GKV ab 2020 für Schutzmasken, Testungen, Impfungen oder diverse „Rettungsschirme“ sind im Wesentlichen durch steuerfinanzierte Sonderzuweisungen des Bundes an den Gesundheitsfonds (allein für 2020 bis 2022 48,5 Mrd. Euro) kompensiert und teilweise sogar überkompensiert worden (näher Hermann 2023 Kap 1.2; Geinitz 2024).
Für alle gesundheitspolitisch verantwortlich Handelnden in der Ära Spahn ebenso wie in der Ära Lauterbach musste deshalb die im Kern strukturell bedingte Ursache der permanent neu auflaufenden Finanzdefizite in der GKV nur allzu gut bekannt sein: fortdauernde Silostrukturierung der Versorgungsebenen, Wettbewerbsträgheit der Akteure auf Leistungserbringer- wie auf Leistungsträgerseite, Überkapazitäten in der Versorgung einerseits bei mittlerweile gleichzeitig (drohender) Unterversorgung insbesondere in ländlich geprägten Regionen andererseits.
4. Scheinwelt I
Während freilich in Zeiten der GroKo III ihr konzeptioneller Absentismus zur grundlegenden Krisenbearbeitung dadurch überdeckt wurde, dass sie anfangs in einer ökonomischen Wachstumsphase mit entsprechend hohen Einnahmensteigerungen aufgrund von satten Beschäftigungs- und Entgeltzuwächsen agieren konnte und anschließend politisch von der gesellschaftlichen Ausnahmesituation Pandemie mit exorbitanten Sonderzahlungen aus Steuermitteln für das Gesundheitssystem (und in deutlich bescheidenerem Umfang auch für den Pflegebereich) profitierte, musste die Ampelkoalition spätestens mit dem Verpuffen der Kurzfristeffekte des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes und des PUEG 2023 zur Überwindung des strukturellen Stillstands in der GKV wie in der SPV konzeptionell in einem extrem herausfordernden Ausmaß gefordert sein.
Die offizielle Lesart von BMG Lauterbach zur gesundheits- und pflegepolitischen Bilanz der 20. Legislaturperiode, die er kurz vor Weihnachten 2024 unter dem Motto „Viel erreicht – viel vor“ öffentlich gemacht hat (Lauterbach 2024: 1), versucht dem entgegen in geradezu fahrlässiger Manier den Eindruck zu erwecken, mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sei 2023 erheblich mehr als ein Strohfeuer zur übergangsweisen Defizitsenkung in der GKV verwirklicht worden. Faktenresistent wird die Mär verbreitet, mit diesem Gesetz habe die Koalition „die notwendige Grundlage geschaffen, um die überfälligen Strukturreformen für mehr Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung einzuleiten“ (ebd: 4).
Unterlegt ist dabei im Weiteren ein rein exekutiv-technokratisch geprägter Fortschrittsbegriff ohne nähere Zieldefinition und inhaltliche Füllung. Er bezieht die professionell Beteiligten in den „selbstverwalteten“ Systemen auf Leistungserbringer- wie auf Leistungsträgerseite allenfalls marginal am Rande (Krankenhauspflegeentlastungsgesetz, KHPflEG; ebd.: 6) und die Versicherten lediglich als Objekte administrativen Handelns ein. Ihnen als Patientinnen und Patienten sei anfangs „ein Versprechen gegeben worden, aus dem eine Richtschnur für unser Handeln wurde“, wonach es „in dieser Legislaturperiode keine Leistungseinschränkungen“ geben werde (ebd: 2).
Auffällig ist der dabei unterlegte rein formal konturierte Leistungsbegriff. In dieser Definition werden unter Leistungen einzig unmittelbare versichertenindividuelle Ansprüche nach den einschlägigen Regelungen im 3. Kapitel des SGB V und dem 4. Kapitel des SGB XI verstanden. Versorgungsdefizite vor Ort durch zunehmend wegbrechende Leistungsangebote insbesondere aufgrund des wachsenden Fachkräftemangels in den gesundheitlichen und pflegerischen Berufen zählen offensichtlich bewusst nicht dazu.
Unabhängig davon lag das trotz GKV-Finanzstabilisierungsgesetz vom BMG offiziell für 2023 festgestellte Defizit in der GKV aber schon wieder bei fast 2 Mrd. Euro – BMG-seitig euphemistisch als „Überschuss der Ausgaben“ beschrieben (BMG 2024c: 1). Es verdoppelte sich in den ersten drei Quartalen 2024 auf 3,7 Mrd. Euro (BMG 2024b: 1). Die Finanzreserven der Krankenkassen sackten gleichzeitig bis zum Ende des 3. Quartals 2024 auf lediglich noch 4,7 Mrd. Euro ab. Obwohl 2024 jede dritte Krankenkasse ihren Zusatzbeitragssatz bereits unterjährig angehoben hat, liegen die Reserven aller Krankenkassen damit mit 0,17 Monatsausgaben (ebd) erstmals selbst unter dem durch die GroKo III Anfang 2020 noch eigens abgesenkten gesetzlich fixierten Mindestniveau von 0,2 Monatsausgaben (§ 261 II SGB V idF des Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetzes, GKV-FKG).
Der GKV-Schätzerkreis prognostizierte schließlich im Oktober 2024 für das folgende Jahr eine erneute Finanzierungslücke in der GKV von 14 Mrd. Euro, woraus sich nach dessen Ergebnissen eine Erhöhung des rechnerischen durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes um rekordverdächtige 0,8 Prozentpunkte auf 2,5 % ergab (BAS 2024: 2; Pfeiffer 2024: 1). Auch BMG Lauterbach selbst konstatierte am Tag der Veröffentlichung der Ergebnisse des Schätzerkreises zunächst im Bundestag: „Das ist eine historische Steigerung“ (Bt-Drs 20/193: 25112). Am Tag des Bruchs der Ampelkoalition gab das BMG schließlich die Steigerung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes für 2025 auf – vorbildlos hohe – 2,5 % offiziell bekannt (BAnz 7.11.2024).
Auch damit wurde indessen von BMG-Seite allenfalls die „halbe Wahrheit“ öffentlich gemacht. Die zentrale Aufgabe des Schätzerkreises besteht darin, systemweit die Differenz zwischen den zu erwartenden GKV-Einnahmen und den zu erwartenden GKV-Ausgaben für das Folgejahr zu berechnen (§ 220 II SGB V). Darüber hinausgehende weitere Umstände hat er – anders als das fachlich zuständige Ministerium – nicht zu adressieren.
Dass das BMG ebenfalls bei der Ermittlung des neuen Durchschnittszusatzbeitragssatzes die Implikationen weiterer gesetzlicher Vorgaben auf die Beitragssatzentwicklung außer Acht ließ, musste sich alsbald als grob fahrlässiges Versäumnis erweisen. Niemand konnte und durfte insbesondere davon ausgehen, dass die einzelnen Krankenkassen – zwingendes Recht ignorierend – bei ihrer Haushaltsaufstellung für das Jahr 2025 die vorgeschriebene Auffüllung mangelnder Mindestreserven (§ 261 IV SGB V; Pfohl 2024: § 261 Rn 3 f) nicht kalkulieren würden. Das BMG sah gleichwohl über die formalrechtlich gebotene „Auswertung der Ergebnisse des Schätzerkreises“ (§ 242 II SGB V) hinaus offensichtlich keine Veranlassung zu weitergehenden Feststellungen. Das Ergebnis dieser Unterlassung ist Anfang 2025 ein fatales Abkoppeln der BMG-Sicht auf die GKV-Welt von der GKV-Wirklichkeit.
Die tatsächlich GKV-weit realisierte Steigerungsrate des Zusatzbeitragssatzes zum Jahresbeginn 2025 liegt bei 1,21 Prozentpunkten, der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz bei 2,91 % (Beerheide 2025) und damit nochmals exorbitant oberhalb der historischen Zäsur des Schätzerkreises. Die BMG-Bekanntmachung wurde faktisch zur Makulatur. 82 der 94 Krankenkassen mussten ihren Zusatzbeitragssatz zum Jahresbeginn anheben, in der Spitze bis auf 4,4 Prozentpunkte (ebd). Der Gesamtbeitragssatz verschiedener Krankenkassen liegt damit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik oberhalb des Beitragssatzes in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV; 2025: 18,6 %).
Von diesen desaströsen Entwicklungen für die Solidität und die Zukunftsfähigkeit des GKV-Systems findet sich in der angeführten Bilanz des BMG zum Erfolg (oder Misserfolg) der eigenen Politik während der Ampeljahre kein Wort. Zwar wird zunächst mit einer floskelhaften Attitüde der Allgemeinverbindlichkeit festgestellt: „Grundlage für eine gute und sichere Versorgung sind eine finanziell stabile und leistungsfähige GKV und SPV“ (Lauterbach 2024: 3). Die Erläuterungen dazu beschränken sich aber einzig auf die Aufzählung einiger Maßnahmen aus dem kurzatmigen GKV-Finanzstabilisierungsgesetz. Dass damit, wie resümierend behauptet wird, die „finanzielle Stabilität der GKV gesichert“ werden konnte (ebd), hat mit der real existierenden GKV-Verfassung im Zeitpunkt des vorzeitigen Endes der 20. Legislaturperiode des Bundestages nichts gemein.
5. Scheinwelt II
Unerwähnt bei der Auflistung einzelner Regelungen des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes bleibt in der BMG-Bilanz – fast selbstredend – auch der vom Bundestag dort eigens verankerte spezielle Arbeitsauftrag an das Ministerium, „Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ der GKV zu erarbeiten und „bis zum 31. Mai 2023“ vorzulegen (§ 220 IV SGB V). Das beauftragte BMG-Papier selbst, das erst mit monatelangem Verzug und nach wiederholter parlamentarischer Intervention Anfang 2024 überhaupt öffentlich wurde (BMG 2024a; näher Hermann 2024b: Kap 3), bleibt ebenfalls unberücksichtigt.
Materiell wurden dort aber neben angeblich alsbald effizienzsteigernden Effekten verschiedener Maßnahmen auf der Ausgabenseite mit höchst zweifelhaftem Evidenzniveau (Hermann 2024b: Kap 3 f) unter dem Rubrum „Stärkung der Einnahmenseite“ die beiden dazu im KOV getroffenen „dürftigen Regelungen“ (Knieps 2021: 11) – regelhafte Dynamisierung des Bundeszuschusses, höhere Beiträge für die Bezieherinnen und Bezieher von Bürgergeld (damals noch Arbeitslosengeld II) aus Steuermitteln (KOV 2021: 88) – zumindest noch gebührend erwähnt (BMG 2024a: 6 f). Es wurde deren Umsetzung angekündigt, „sobald es im Lichte der wirtschaftlichen Entwicklung die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen“ (ebd: 7, ebenso 3). Seither ist im Zusammenhang indessen nichts mehr geschehen.
Ein Jahr später in dem aktuellen Bilanzpapier des BMG findet sich zu den einnahmeseitigen KOV-Vereinbarungen kein Hinweis mehr. Maßnahmen zur Stärkung der Finanzierungsseite der GKV stellen insgesamt kein Thema mehr dar und bleiben völlig ausgeblendet. Unter der – kaum nachvollziehbaren – Headline „Für die finanzielle Stabilität und Leistungsfähigkeit von GKV und SPV“ (Lauterbach 2024: 8) wird dort zur GKV überhaupt nichts ausgeführt; es folgen in fünf dürren Sätzen ausschließlich Aussagen zur SPV. Überraschend heißt es entgegen aller bisher bekannten Verlautbarungen, dass vom BMG ein „Gesamtpaket zur stabilen und dauerhaften Finanzierung der SPV erarbeitet worden“ sei, das „Maßnahmen zur Schließung der Finanzlücke“ vorsehe (ebd). Über diese formale Ankündigung hinaus bleibt der BMG allerdings auch an dieser Stelle jede konkrete Einlassung zur Sache selbst schuldig. Inhalte und Solidität eines vermeintlich jederzeit zur Umsetzung abrufbaren SPV-Gesamtsanierungspakets sind und bleiben damit der Öffentlichkeit weiterhin verborgen.
Irritierenderweise erwähnt auch die Bundesregierung selbst Ende Dezember 2024 in der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage zur Kosten- und Beitragssatzentwicklung in der SPV weder die Existenz eines solchen Konzepts, geschweige denn teilt sie Einzelheiten eines Gesamtpakets mit. Dort wird lediglich unspezifisch von „Abstimmungsgesprächen innerhalb der Bundesregierung zu gesetzlichen Regelungen von kurz-, mittel- und langfristigen Reformmaßnahmen für die SPV“ berichtet (Bt-Drs 20/14444: 2). Die Existenz eines „Gesamtpakets zur stabilen und dauerhaften Finanzierung der SPV“ kennt die Antwort der Bundesregierung nicht.
Im Bilanzpapier des BMG wiederum bleibt die erst im November 2024 aufgrund der aktuell prekär zugespitzten Finanzsituation der SPV zur unmittelbaren Liquiditätssicherung auf den Weg gebrachte erneute Beitragssatzerhöhung auf grundsätzlich 3,6 % (plus 0,2 Beitragssatzpunkte) ab Januar 2025 ohne Erwähnung (Pflege-Beitragssatz-Anpassungsverordnung 2025; Bt-Drs 20/12710). Zeitgleich verdeutlicht die Bundesregierung in ihrer Antwort an den Bundestag, dass „nach derzeitigem Stand“ erst durch die aktuelle Erhöhung „die Zahlungsfähigkeit der SPV für das Jahr 2025“ überhaupt gewährleistet sei. Ab 2026 würden jedoch „strukturelle Maßnahmen benötigt“, um die „finanzielle Tragfähigkeit der SPV nachhaltig zu verbessern“ (Bt-Drs 20/14444: 2 f).
Als „mögliche Entscheidungsgrundlage“ für solche Maßnahmen liege der Bericht der Bundesregierung „Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung – Darstellung von Szenarien und Stellschrauben möglicher Reformen“ (Bundesregierung 2024) öffentlich vor (ebd: 3). Mit diesem Bericht hat die Koalition im Juli 2024 aus ihrer Sicht eine „umfassende Analyse der finanziellen Herausforderungen bis zum Jahr 2060“ erstellt (Bt-Drs 20/14444: 2). Er soll die Erfüllung des gesetzgeberischen Auftrags aus dem PUEG sein, „bis zum 31. Mai 2024 Empfehlungen für die stabile und dauerhafte Finanzierung“ des SPV (Bt-Drs 20/6983: 90) vorzulegen (Bundesregierung 2024: 9 f).
Allerdings enthält der Bericht, der rein volumenmäßig völlig anders als die erwähnten dürren und unbrauchbaren „Empfehlungen“ zur GKV-Stabilisierung daherkommt (GKV-Papier: acht Seiten, SPV-Papier: 134 Seiten), inhaltlich ebenfalls überhaupt keine ausgearbeitete und abgestimmte Konzeption für die dauerhafte Stabilisierung der SPV. Es werden lediglich verschiedene Optionen zur Weiterentwicklung zur SPV – wie einleitend besonders betont – „wertneutral“ und ohne „Vorfestlegung der Bundesregierung“ aufgelistet (Bundesregierung 2024: 10). Zudem meint man, den Prüfauftrag aus dem KOV, die SPV „um eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung zu ergänzen, die die Übernahme der vollständigen Pflegekosten umfassend absichert“ (KOV 2021: 81), gleich mit erfüllt zu haben. Zwar sollte nach dem KOV wie erwähnt (oben Kap 1) eine weitere „Expertenkommission bis 2023 konkrete Vorschläge vorlegen“ (ebd: 82). Dazu ist es indessen nicht gekommen.
Eine solche Expertenkommission ist vom zuständigen BMG nie berufen worden. Im Bericht der Bundesregierung wird dazu festgestellt, es seien zur Thematik „zwei Anhörungen“ durchgeführt worden, bei denen „Expertinnen und Experten“ den Prüfauftrag des KOV „bewertet“ hätten (Bundesregierung 2024: 125) – ein höchst eigenwilliger Umgang mit den klaren Festlegungen des eigenen KOV.
Im Bilanzpapier von BMG Lauterbach bleibt auch dazu jeder Hinweis ausgespart. Die grundlegend desolate Finanzsituation der SPV, konkrete Schritte zur Bearbeitung ihrer Strukturkrise und ihre mangelnde Zukunftsfähigkeit zur Absicherung des Pflegefallrisikos in der Gesellschaft des langen Lebens verschwinden hinter Allgemeinplätzen, absichtsvollem Verschweigen und unspezifisch nebulösen Andeutungen zur Existenz eines vermeintlich vorliegenden „Gesamtpakets“ zur Stabilisierung der SPV (Lauterbach 2024: 8).
Ebenso wie zum Finanzdebakel in der GKV bleibt die vorweihnachtliche Bilanzschau des BMG damit auch hinsichtlich der längst überfälligen SPV-Sanierung in einträchtiger politischer Kontinuität mit den Vorgängerkoalitionen der Öffentlichkeit jede konzeptionelle Antwort schuldig. Das Regime des exekutiven Dirigismus erschöpft sich deshalb zunehmend als Regulierungsinstrument, da ihm selbst ein konzeptionell-inhaltliches Fundament fehlt und eine mittlerweile grundlegend inadäquate Systemaufstellung auch über zentralstaatliche Detailregulierung nicht mehr (notdürftig) zu überdecken ist. Scheinwelten treten an die Stelle angemessener Problembeschreibung und -bearbeitung. Kindheitserinnerungen an Andersens Märchen von des „Kaisers neuen Kleidern“ werden wach.
6. Körnersuche
Dient das Bilanzpapier offensichtlich einerseits vor allem dazu, mit ministerieller Autorität für die Öffentlichkeit Finanzsolidität in GKV und SPV zu suggerieren, wo faktisch keine gegeben ist, spinnt es andererseits darauf fußend an der vermeintlichen Erfolgsgeschichte, dass man „das Gesundheits- und Pflegewesen (…) umfassend sowie spürbar für alle verbessert“ habe (ebd: 3). Man habe „eine Reihe von Strukturreformen eingeleitet, um die Behandlungsqualität und die Versorgungssicherheit zu verbessern“ (ebd: 4).Steht die Dringlichkeit strukturellen Umbaus der tradierten Versorgungslandschaft bereits angesichts des Versagens der letzten GroKo außer Frage, verwundert umso mehr, welche Gesetzesinitiativen konkret als „Strukturreformen“ gelistet sind. Angeführt werden mit
- dem PUEG (ebd: 5),
- dem ALBVVG (ebd: 5 f) und
- dem MFG (ebd: 6)
Regelwerke der Ampelkoalition, die entweder als reine Fortentwicklung bisheriger Gesetzgebung oder schlichte Adaption bestehenden Rechts an veränderte Verhältnisse anzusehen sind. Dies gilt für das PUEG mit einer neben den angeführten Anpassungen (Kap 2) nochmals ausgedehnten Begrenzung der pflegebedingten Eigenanteile von Betroffenen bei stationärer Pflege ab 2024. Hier werden schlicht Regelungen des GVWG der GroKo III aus dem Jahr 2022 weitergeführt (§ 43c SGB XI). Gleichwohl erreichen die Eigenanteile der Pflegebedürftigen im stationären Setting Ende 2024 mit über 2.400 Euro ein neues Rekordniveau (WIdO 2025). Ähnliches gilt auch für das ALBVVG, das wie erwähnt die lediglich rudimentären Informationspflichten der Pharmaunternehmen nach dem AMVSG der GroKo II aus dem Jahr 2017 ergänzt, ohne sie aber grundlegend neu aufzustellen (§ 52b AMG; oben Kap 2).
Und schließlich gilt dies auch für das MFG, das neben überarbeiteten Verfahrensregelungen für die klinische Forschung und Zulassung von Arzneimitteln vor allem mit der optionalen Verblindung des Erstattungspreises neuer Arzneimittel Anfang dieses Jahres (vgl oben Kap 2) den prominentesten Restanten aus dem Pharmadialog der GroKo II umsetzt.
Eine modifizierte Einordnung zur Strukturreformqualität könnte sich allenfalls dann ergeben, wollte man die im ALBVVG von der Ampelkoalition gleichzeitig exekutierte Aufweichung des Festbetragsregimes und der Ausschreibungsoptionen von Krankenkassen bei Arzneimitteln tatsächlich als eine eigentümliche Variante von „Strukturreform“ bewerten.
Zur Erinnerung: Die Einführung von Festbeträgen bei Arzneimitteln (§ 35 SGB V) bildet die einzige dauerhaft wirksame Reform des vom damals zuständigen BMA Blüm als „Jahrhundertwerk“ überhöhten Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) aus dem Jahr 1989 und galt dem BMA schon seinerzeit als eigentliches „Herzstück“ des Gesetzes (Knieps/Reiners 2015: 85, 87). Die Möglichkeiten für Krankenkassen, freivertraglich mit Pharmaunternehmen Vereinbarungen über die Gewährung von Rabatten bei der Versorgung ihrer Versicherten mit Arzneimitteln abzuschließen (§ 130a VIII SGB V), stellt formal seit 2003 (Arzneimittelversorgung-Wirtschaftlichkeitsgesetz, AVWG) und faktisch seit Einführung der Abgabeverpflichtung rabattvertraglich gebundener Generika durch die Apotheken (§ 129 I 3 SGB V) am 1.4.2007 im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) das einzige marktwirtschaftlich geprägte Steuerungsinstrument im durchreglementierten GKV-Arzneimittelbereich dar (Hermann 2013: 198 ff).
Im Zeitraum von 2008 bis einschließlich 2023 konnten für das Solidarsystem der GKV über Arzneimittelrabattvertrage insgesamt Ausgaben von mehr als 55,2 Mrd. Euro eingespart werden, allein in den ersten beiden Jahren der Ampelkoalition mehr als 11,3 Mrd. Euro (Pharma Deutschland 2024: 18) – ohne jede Leistungs- oder Qualitätseinschränkung zu Lasten von Patientinnen und Patienten.
Mit dem ALBVVG hat die Ampelkoalition – als isoliert nationale Antwort auf die in allen international vergleichbaren Gesundheitssystemen virulente Problematik der Lieferengpässe bei Arzneimitteln – für Medikamente speziell zur Behandlung von Kindern sowohl die Anwendung der Festbeträge (§ 35 Va SGB V) als auch die Ausschreibungsoption der Krankenkassen (§ 130a VIII 13 SGB V) außer Kraft gesetzt. Zudem wurde dem BMG die Berechtigung übertragen, für Arzneimittel mit einem „versorgungskritischen Wirkstoff“ eine Anhebung der Festbeträge um 50 % administrativ vorzugeben (§ 35 Vb 3 SGB V).
7. Reanimation
Scheiden die angeführten Gesetze bei realitätsbezogener Beurteilung als „Strukturreformen“ aus, verbleiben als solche allein die vom BMG selbst prominent hervorgehobenen „Reformen im Krankenhausbereich“ (Lauterbach 2024: 4). Zweifellos greift auf Jahre hinaus das im letzten Spätherbst parlamentarisch verabschiedete Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) tief in das bisherige Gefüge der Erbringung von Krankenhausleistungen in Deutschland ein. Ob es sich hierbei um die „wohl größte und zugleich bedeutendste Strukturreform dieser Legislaturperiode handelt“, wie der BMG gleichzeitig verkündet (ebd: 12), dürfte allerdings eher ein Licht auf die Einschätzung der kollegialen Gesamtperformance der Ampelkoalition werfen als einer Bewertung anhand objektiver Kriterien standhalten.
Auch die Einordnung des gesundheitspolitischen Sprechers der FDP-Fraktion im Bundestag, mit dem KHVVG sei „die größte Strukturreform der stationären Versorgung der letzten 50 Jahre“ verabschiedet (Ullmann 2024), überhöht die Dimension des Vorgangs in einer eher wunderlich ahistorischen Weise. Als weithin unstrittig kann allein gelten, dass es sich „in jedem Fall“ um „die größte Veränderung der Krankenhausfinanzierung der vergangenen 20 Jahre“ handelt (ebd). Durch das KHVVG wird die Einführung einer leistungsbezogenen Vergütung stationärer Krankenhausleistungen in der Somatik durch pauschalierende Entgelte, die sich am System der Diagnosis Related Groups (DRG) orientieren (§ 17b KHG), als Kernelement des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 der rot-grünen Koalition aus dem Jahr 1999 im Wesentlichen rückabgewickelt.
In der Vor-DRG-Welt wurde „sparsam wirtschaftenden und leistungsfähigen“ Krankenhäusern grundsätzlich garantiert, dass ihre Selbstkosten gedeckt werden (§ 4 KHG idF des KHG 1972). Zur Refinanzierung ihrer Betriebskosten erhielten sie weitgehend auf Basis tagesgleicher Pflegesätze ein Budget auf der Grundlage der vorauskalkulierten Selbstkosten und der vorauskalkulierten Belegung (Robert Bosch Stiftung 1987: 42 ff; Dettling/Würtenberger 2014: Rn 10, 48). Später mussten Budget und Pflegesätze zumindest „medizinisch leistungsgerecht sein und einem Krankenhaus bei wirtschaftlicher Betriebsführung ermöglichen, den Versorgungsauftrag zu erfüllen“ (§ 3 I BPflV 1994).
Zentrales „Reformelement“ des KHVVG bildet die Einführung des sogenannten Vorhaltebudgets (§ 6b KHEntG-neu), das der Einrichtung gemeinsam mit dem krankenhausindividuellen Pflegebudget, durch das bereits 2020 im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) der GroKo III anstelle umfassender DRG-Bewertung wieder ein Element der Selbstkostendeckung in das Vergütungsregime eingeführt worden war (Oswald/Bunzemeier 2020: 155 ff), weitgehend unabhängig von einer konkreten Leistungserbringung zufließt. Es soll 60 % des Gesamtbudgets eines Krankenhauses abdecken (§ 4b KHG). Dazu werden die DRGs in entsprechender Höhe abgesenkt. Das Niveau des Vorhaltebudgets wird nach zunächst im KHVVG selbst bundeseinheitlich vorgegebenen Leistungsgruppen variiert. Deren Abrechnung durch ein Krankenhaus setzt grundsätzlich die Erfüllung je nach Leistungsgruppe differenzierter Qualitätskriterien (sachliche und personelle Ausstattung, weitere Struktur- und Prozesskosten; Br-Drs 532/24: 63 ff Anlage 1 zu § 135e) und die Erfüllung von Mindestfallzahlen voraus. Ob über diesen Mechanismus mittelfristig die Qualität der stationären Versorgung in Deutschland tatsächlich nachhaltig optimiert werden kann, steht einstweilen dahin.
Mit der Einführung der Vorhaltevergütung ab 2027 (§ 6 I 1 KHEntgG) fußt die Betriebskostenfinanzierung eines Krankenhauses damit wieder überwiegend auf dem Selbstkostendeckungsprinzip, wie es bis Anfang des 21. Jahrhunderts obligatorisch systemweit galt. Es besteht unabhängig von der behandelten Anzahl von Patientinnen und Patienten ein Anspruch auf die prospektiv ermittelte Vorhaltevergütung. Sie ändert sich erst dann, wenn die Fallzahl um mehr als 20 % von der bei der letzten Ermittlung der Vorhaltevergütung zugrunde gelegten Fallzahl abweicht.
Was sich extrem wandelt, ist allerdings die Komplexität der Ermittlung der Selbstkosten insbesondere über die vorgeschaltete Zuordnung von Leistungsgruppen. Sie treten an die Stelle der (relativ simplen) Versorgungsstufen in den Krankenhausplänen der Länder. Ihnen liegen die genannten detaillierten Qualitätskriterien namentlich hinsichtlich personenscharfer ärztlicher und pflegerischer Mindestanforderungen zu Grunde. Im Ergebnis wird ein planwirtschaftlich geprägtes Konstrukt mit streng zentralstaatlich ausgerichteter exekutiver Detailregulierung aufgebaut.
Ende 2022, bei Veröffentlichung der Empfehlungen der nach monatelangem Verzug (Hermann 2023: Kap 3.2) gemäß KOV eingesetzten Regierungskommission „für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ (KOV 2021: 87) über eine „Grundlegende Reform der Krankenhausvergütung“ (Regierungskommission 2022) hat BMG Lauterbach das Vorhaben im Parlament medienwirksam als „Revolution in der Art und Weise, wie wir Krankenhausplanung gestalten und wie die Versorgung in Krankenhäusern stattfinden soll“ angepriesen. Das Fallpauschalensystem müsse „überwunden“ werden, da es die „Kriterien ‚billig‘ und ‚Menge‘ betone“ (Bt-Drs 20/74: 8804 f).
Im Bilanzpapier über die eigene Arbeit klingt zwei Jahre später die Einordnung deutlich weniger enthusiastisch. Sehr viel nüchterner heißt es, dass mit dem KHVVG die „Strukturveränderungen im Krankenhaus endlich begonnen“ hätten. Man habe „ökonomische Fehlanreize zur Ausweitung von Krankenhausbehandlungen (abgestellt) und medizinisch sinnvolle Behandlungen in den Vordergrund (gerückt)“ (Lauterbach 2024: 5).
Was sich in der Zwischenzeit verfahrensrechtlich auf Makroebene wesentlich verändert hat, ist zum einen die legislative Gestaltung des Prozesses. Er sollte zunächst gemeinsam von Bund und Ländern vorangetrieben werden und in einem konsentierten, im Bundesrat zustimmungsbedürftigen Gesetz kumulieren. Dieses Vorgehen sollte eine „umfassende Reform“ mit „Inkrafttreten Anfang 2024“ ermöglichen (BMG 2023b).
Das schließlich im November parlamentarisch als nicht zustimmungspflichtiges Gesetz im Bundesrat (Einspruchsgesetz, Art 77 III GG; Wolff 2022: Rn 1) verabschiedete KHVVG bleibt zum anderen steuerungspolitisch weit hinter der ursprünglichen „Revolutionskonzeption“ der Regierungskommission zurück. Neben der Einführung der Vorhaltevergütung beinhaltete sie insbesondere bundesweit einheitliche und klar definierte Krankenhaus-Level (von Level Ii bis Level IIIU), eine sektorenübergreifende Planung für den stationären und ambulanten Bereich und die Gliederung des (zukünftigen) Behandlungsspektrums eines Krankenhauses anhand von 128 bundeseinheitlich definierten Leistungsgruppen (Regierungskommission 2022: 9 ff). Die Einteilung nach Leveln und die sektorenübergreifende Planung des Versorgungsgeschehens werden vom KHVVG gar nicht mehr abgebildet, die Anzahl der Leistungsgruppen ist auf die Hälfte eingeschmolzen.
Die gleichzeitig über die abgespeckte Verabschiedung von Kommissionsempfehlungen hinaus im KHVVG nochmals versuchte Umsetzung des in Vorregelungen weitgehend gescheiterten KOV-Versprechens, „zügig“ für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung einzuführen (Hybrid-DRG; s. oben Kap 1), ist ebenso insuffizient geblieben wie die Ursprungsversionen (Hermann 2024b: Kap 2). Auch im dritten Anlauf scheitert die Ampelkoalition bei dem Versuch, den lange überfälligen Anschluss an die international erreichten Standards bei der Ambulantisierung operativer Leistungen (vgl Schreyögg/Milstein 2021: 6 ff) kurz- und mittelfristig in Deutschland couragiert voranzubringen. Die Norm (§ 115 f SGB V) verliert sich weiterhin in den eigenen Widersprüchlichkeiten, huldigt einem – im Kern prolongierten – altbackenen Sektorendenken (Hermann 2024a: Kap 6) und führt damit den im KOV formulierten Anspruch in eine „moderne sektorenübergreifende“ Gesundheitspolitik aufbrechen zu wollen (oben Kap 2), ad absurdum.
8. Kontinuität III
Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Entwicklung fällt es schwer, die aufgeworfene Frage nach dem originären ordnungs- und steuerungspolitischen Profil der Ampelkoalition (oben Kap 2) auch speziell mit Blick auf die „Reformen im Krankenhausbereich“ dingfest zu machen. Sie stellt sich zumindest für den BMG selbst ohnehin in dieser Form gar nicht, da er die Arbeit mit der Regierungskommission „aus 17 renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern“ als „prototypisch für die enge Zusammenarbeit meines Hauses mit wissenschaftlicher Expertise in dieser Wahlperiode“ anpreist (Lauterbach 2024: 4). Ein Mangel an wissenschaftlicher Expertise bestand freilich gerade, wenn es um Diagnose und Therapie für den überdimensionierten stationären Krankenhaussektor in Deutschland geht, seit langem nicht (vgl nur SVR 2018: va Rn 358 ff mwNw).
Entworfen wird regierungsamtlich nunmehr das Bild von der „Erneuerung unseres Gesundheitswesens“ (Lauterbach 2024: 1), das maßgeblich vom BMG in kleiner Runde eigenständig „modernisiert“ wird. Neuartig gegenüber der GroKo III-Ära ist, dass man sich – nach Gutdünken – von externem Sachverstand assistieren lässt. In der SPV blieb die angeblich „prototypische“ Zusammenarbeit mit der Wissenschaft indessen ganz aus (oben Kap 5). Von den zwischenzeitlich zwölf Empfehlungsberichten der Regierungskommission, deren Vorsitzender unmittelbar im BMG selbst residiert, blieb freilich auch der Großteil ohne jeden erkennbaren Einfluss auf das politische Handeln des BMG. Was erreicht wurde war, dass sich die Exekutive hermetisch abschottet mit einem diffusen Verweis auf „die sonst zwangsläufig entstehenden institutionellen Limitierungen“ (Bt-Drs 20/2671: 2). Die Protagonisten der tradierten gemeinsamen Selbstverwaltung werden im Prozess außerhalb formalisierter Beteiligungsrechte auf eine Zuschauerrolle reduziert (dazu auch Knieps 2024: 13 f). Ordnungspolitisch erfolgt Systemsteuerung damit aber wie in GroKo-Zeiten über den weiteren Ausbau „alternativloser“ exekutiver Vorgaben, (bisherige) Stakeholder im System verlieren weiter an Einfluss und Relevanz.
Exemplarisch deutlich wird dies am Bedeutungsverlust, den der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im KHVVG im Hinblick auf die Qualitätssicherung im stationären Sektor erleidet (Aufhebungsverpflichtung hinsichtlich einschlägiger Richtlinien, § 136 IV SGB V; Entzug der Kompetenz zu Vorgaben der Qualitätssicherung im Krankenhausplanungsrecht, § 136c SGB V jew idF des KHVVG). Seine dazu ergangenen Regelungen hat der G-BA zwischenzeitlich bereits abgeändert oder ganz aufgehoben (G-BA, 14. Sitzung, TOP 8.5.10/8.5.12 vom 16.1.2025).
An die Stelle des G-BA, der als korporatistisch geprägtes Organ ausgehend von Reformen der rot-grünen Koalition über zwei Jahrzehnte hinweg zunehmend zur „beherrschenden Steuerungsinstanz“ ausgebaut worden war und damit eine „überragende Bedeutung für alle am System der GKV beteiligten Akteure und Betroffenen“ gewonnen hat (Hollo 2024: Rn 4 mwNw), tritt mit dem KHVVG ein völlig neues Gremium. Es wird gemeinsam von BMG und Ländern geleitet und befindet über die Weiterentwicklung der Mindestanforderungen an die Qualität der Krankenhausbehandlungen. Der neue Ausschuss, dem einerseits der GKV-Spitzenverband, andererseits die DKG, die Bundesärztekammer, Vertreter der Hochschulmedizin und der Pflegeberufe angehören, gibt dabei ausschließlich Empfehlungen ab. Die eigentliche Umsetzung liegt allein der Kompetenz des BMG über eine Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nach Art 80 GG. Die Exekutive entscheidet damit unmittelbar über die Weiterentwicklung der Leistungsinhalte der im Gesetz zunächst vorgegebenen einzelnen Leistungsgruppen und deren Qualitätskriterien hinsichtlich der Anforderungen an Strukturen und Prozesse (§ 135e I, III SGB V; oben Kap 7). Der G-BA als die bisher „die ganze GKV wesentlich steuernde Institution“ (Hofmann/Wallrabenstein 2022: Rn 162) darf lediglich noch eine Stellungnahme abgeben. Ansonsten ist ihm einzig die Rolle eines Protokollanten und Schriftführers des Ausschusses zugewiesen (§ 135e III 9, 14 f SGB V).
Mit einer ebenso großen Selbstverständlichkeit wie im GKV-Finanzstärkungsgesetz greift die Ampelkoalition auch im KHVVG erneut massiv in die Finanzverfassung des GKV-Systems ein. Handelte es sich im GKV-Finanzstärkungsgesetz um den zentralstaatlich exekutierten Zugriff auf die kassenindividuellen Finanzreserven (oben Kap 3), geht es nunmehr im Kontext der Krankenhausreform um die Finanzierung des sogenannten Transformationsfonds, der „zur Anpassung der Strukturen in der Krankenhausversorgung“ für die Jahre 2026 bis 2035 beim BAS errichtet wird (§ 12g KHG-neu). Mit diesem Fonds sollen insbesondere die Konzentration akut stationärer Versorgungskapazitäten und telemedizinische Netzwerkstrukturen, eine Zentrenbildung und zusätzliche Ausbildungskapazitäten gefördert werden (§ 12b I 4 KHG).
Seine finanzielle Ausstattung erfolgt aber – neben der hälftigen Finanzierung durch Mittel der für den Investitionsaufwand der Krankenhäuser gesetzlich (ausschließlich) zuständigen Länder (§ 4 Nr 1, § 8f KHG) – zu 50 % über Finanzmittel aus der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds, mithin im Wesentlichen aus Beitragsgeldern der GKV-Versicherten und ihrer Arbeitgeber. In den zehn Jahren bis 2035 werden jährlich bis zu 2,5 Mrd. Euro aus dem Gesundheitsfonds dem Transformationsfonds zugeführt (§ 271 VI 2 SGB V-neu). Analog des Vorgehens der GroKo III und der Ampelkoalition bei ihren gleichermaßen untauglichen Versuchen, die strukturell bedingt auflaufenden Finanzdefizite in der GKV durch Aktionismus kurzzeitig zu überdecken, werden die GKV-Finanzen zum wiederholten Mal zur Verfügungsmasse, die zur exekutiv veranlassten zentralstaatlichen Disposition steht.
Die Intensität des Zugriffs erreicht hier aber eine neue Dimension. Wie das Bundessozialgericht (BSG) 2021 in seiner Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der Auszahlungsverweigerung des GKV-Spitzenverbandes von Finanzmitteln an die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) hervorgehoben hat, dürfen GKV-Beitragsmittel – verfassungsrechtlich vorgegeben über die organisatorische Selbständigkeit des Sozialversicherung (Art 87 II GG) – „allein zur Finanzierung der Aufgaben der Sozialversicherung eingesetzt werden. (…) Die Sozialversicherungsbeiträge sollen wegen ihrer strengen Zweckbindung weder den Bund noch die Länder noch sonstige staatliche Aufgabenträger zu eigenverantwortlichen finanziellen Entscheidungen befähigen“ (BSGE, NZS 2022, 57 ff Rn 53).
Es ist offensichtlich, dass von zielgerichteten Anpassungen in der Krankenhauslandschaft, die durch den Transformationsfonds finanziert werden sollen, nicht allein GKV-Versicherte, sondern alle Kliniknutzer und -nutzerinnen, PKV-Versicherte, Beihilfeempfängerinnen und -empfänger, im Ergebnis die Gesamtgesellschaft profitieren werden. Die Förderung durch den Fonds soll ebenso offenkundig regelmäßig für solche Zwecke erfolgen (s. oben), die als Investitionen eines Krankenhauses in die Finanzverantwortung der Länder fallen. Die maßgebliche Mitfinanzierung des Transformationsfonds mit (zudem für die GKV beitragssatzrelevanten) jährlich bis zu 2,5 Mrd. Euro aus dem Gesundheitsfonds, der sich zu rd. 95 % aus GKV-Beitragsmitteln speist, steht damit auch verfassungsrechtlich auf tönernen Füßen (näher Felix 2024: 7 ff, 16 f mwNw).
Gleichzeitig liegt auf diese Weise eine weitere Achillesferse der Krankenhausreform offen zutage. Die Insuffizienz der Krankenhausstrukturen in Deutschland hat eine wesentliche Ursache in der chronischen Unterfinanzierung der Investitionskosten durch die dafür rechtlich zuständigen Länder. Während der gesamten drei Jahrzehnte Berliner Republik sind die für die Krankenhäuser zur Verfügung gestellten Investitionsmittel der Länder real (und lange Zeit auch absolut) massiv gesunken (minus 46 %; DKG 2022: 84, Tab 4.1). Allein für den Zeitraum 2014 bis 2021 liegt die Lücke bei bis zu 25 Mrd. Euro (Maybaum et al 2023; Kurz/Beerheide 2024: A 361 f) – und erreicht somit bereits die Gesamthöhe der Mittel, die aus GKV-Beiträgen bis 2035 an den Transformationsfonds fließen sollen. Die absehbare Fortschreibung dieses Zustandes lässt perspektivisch für die Vermutung, die seit langem bestehende Zweckentfremdung von Behandlungserlösen durch Krankenhäuser für größere Anschaffungen oder Baumaßnahmen, die selbst in der KHVVG-Begründung kritisiert wird (Bt-Drs 20/11845: 122), könnte sich mit Einführung des Vorhaltebudgets dem Ende zuneigen, realistisch keinen Raum.
Der zentralstaatliche Zugriff auf Beitragsmittel der GKV in Milliardenhöhe über den vermeintlichen Kunstgriff der Schaffung eines Transformationsfonds, der sich vermittelt über Zuweisungskürzungen des BAS aus dem Gesundheitsfonds an die Einzelkrankenkassen finanziert, legt nochmals geradezu exemplarisch offen, wie wenig sich die Ampelkoalition in ihrer Governance von Vorgängerkoalitionen abhebt. Vorbild gibt insoweit der von der GroKo II 2015 eingerichtete und von der GroKo III verlängerte Krankenhausstrukturfonds ab (§§ 12, 12a KHG). Da Steuermittel von Bund und Ländern nicht ausreichend aktiviert werden können, wird versucht, in einer auf das BMG fixierten Steuerungslogik den exekutiven Dirigismus weiter zu perfektionieren. Staatlich administriert sollen GKV-Beitragsmittel zur besseren Bewältigung gesamtstaatlicher Aufgaben in der Daseinsvorsorge eingesetzt werden.
9. Was bleibt?
Nach etwas mehr als drei Jahren Ampelkoalition stellt sich die Frage, welche Funktion im konkreten Regierungshandeln eigentlich der quantitativ hyperambitionierte KOV aus dem Herbst 2021 im Weiteren gehabt hat. Das weitgehend zusammenhanglose Puzzle aus 120 Einzelvorhaben in der Gesundheits- und Pflegepolitik hätte selbst bei ausbleibendem vorzeitigem Scheitern der Koalition nie eine realistische Chance gehabt, im Wesentlichen abgearbeitet zu werden. Da es politisch bereits an der notwendigen konzeptionellen Priorisierung und Strukturierung notwendiger Reformvorhaben im Vorfeld mangelte, sahen sich die Ampelkoalitionäre offensichtlich gezwungen, zur Erstellung von inhaltlich konturierten „Leitplanken“ selbst für seit langem ebenso überfällige wie fachwissenschaftlich breit hinterlegte Projekte wie die Bearbeitung der Strukturdefizite in der Krankenhausversorgung auf neue Expertengremien zu setzen. Die Folge war monatelanger politischer Leerlauf bis in die Mitte der Legislaturperiode hinein. Im Ergebnis bleibt auch deshalb weit mehr als die Hälfte der KOV-Ansagen zur Gesundheits- und Pflegepolitik zum Ende der Amtszeit unerfüllt.
Dies müsste unter systemischen Aspekten kein Makel sein, wenn in den letzten drei Jahren die inhaltlich brennenden Themenfelder konsequent in den Fokus der gesetzgeberischen Aktivitäten gerückt worden wären. Gesundheits- oder pflegepolitische Prioritätensetzungen, aus denen im Weiteren Konturen einer originären Agenda der Ampelkoalition sichtbar geworden wären, lassen sich aber, wie gezeigt (oben Kap 2), aus dem höchst kleinteiligen Sammelsurium von 19 einschlägigen Gesetzen kaum ableiten.
Eine Konzentration erfolgte in der Gesundheitspolitik allenfalls sehr bedingt und wurde dann sehr verspätet nach viel zu langen Anlaufschleifen namentlich in der Krankenhausversorgung versucht. Ähnliches gilt für die Digitalisierungsthematik. Im Krankenhausbereich wird der strukturelle Umbruch dadurch probiert, dass bei der Betriebskostenfinanzierung unter dem abseitigen Motto „Entökonomisierung“ ab 2027 wieder das Selbstkostendeckungsprinzip dominierend Einzug halten soll bei gleichzeitiger Neuaufstellung der Qualitätssicherung mit dem erklärten Ziel der Optimierung der stationären Versorgungsqualität. Der Investitionskostenblock bleibt unberührt. Hinsichtlich der Digitalisierung baute man konzeptionell ebenfalls zunächst auf eine „Atempause“, indem im KOV zunächst die Erarbeitung einer „regelmäßig fortgeschriebenen Digitalisierungsstrategie“ angekündigt wurde (KOV 2021: 84). Es verging mehr als ein Jahr, bis der BMG selbst den „Neustart“ offiziell eröffnete (BMG 2023a: 1). Das elektronische Rezept (eRx), für dessen Implementierung auf Vorarbeiten der GroKo III angeknüpft werden konnte (Hermann 2023: Kap 3.1), ging Anfang 2024 schließlich „in Serie“, ob die elektronische Patientenakte (ePA) für GKV-Versicherte 2025 gegen viel Skepsis (Windeler 2025) flächendeckend ausgerollt werden kann, steht dahin.
In der Pflegepolitik hat es zu keinem Zeitpunkt eine inhaltliche Fokussierung auf Schwerpunktthemen gegeben. 2023 prolongierte das PUEG vor allem Regelungen aus dem Nachlass der GroKo III, weitere Gesetzesinitiativen zum Berufsrecht wie das Pflegekompetenzgesetz (Br-Drs 2/25) wurden zeitlich so spät vorgelegt, dass sie mit dem erstmaligen Zusammentritt des neu gewählten Bundestages nach dem vorzeitigen Ende der Wahlperiode der Diskontinuität anheimfallen werden.
Gleiches gilt für eine Reihe weiterer Gesetzesvorhaben aus dem Gesundheitsbereich wie für die im Herbst 2024 vorgelegten Entwürfe des sogenannten Gesunde-Herz-Gesetzes (GHG; Bt-Drs 20/13094) und des Gesetzes zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit (Bt-Drs 20/12790), die beide gerade in der Fach-Community, auf deren enge Einbindung eloquent großer Wert gelegt wird (oben Kap 8 aA), auf erheblichen Widerspruch gestoßen sind.
Mit dem GHG sollten insbesondere bundesweite Screenings bei Kindern auf Hypocholesterinämie und eine entsprechende anschließende medikamentöse Therapie eingeführt werden (§ 26 IIa SGB V-E). Nachdem zunächst der BMG, ganz der Logik des exekutiven Dirigismus folgend, die näheren Vorgaben zu den Früherkennungsuntersuchungen durch Rechtsverordnung selbst vornehmen können wollte (Art 1 Nrn 2, 3 GHG-RefE vom 14.6.2024), beschloss das Bundeskabinett letztlich nach breiter öffentlicher Kritik am beabsichtigten Vorgehen einen Entwurf, der die entsprechenden Kompetenzen beim G-BA belässt.
Im Gesetz zur Stärkung der Öffentlichen Gesundheit war vor allem, ebenfalls ganz in der Logik des exekutiven Dirigismus, die Einrichtung einer neuen Bundesoberbehörde unmittelbar im Geschäftsbereich des BMG („Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“, BIPAM) vorgesehen. Die neue Behörde sollte insbesondere die Zuständigkeit für die Vorsorge und Früherkennung nicht übertragbarer Krankheiten erhalten (Bt-Drs 20/12790: 13), während ein verkleinertes Robert Koch-Institut (RKI) isoliert für Infektionskrankheiten verantwortlich bleiben sollte.
Als Kardinalproblem sowohl für die Zukunftsfähigkeit der GKV als auch für die der SPV hat sich in den Jahren der Ampelkoalition das von ihr im Gleichklang mit der GroKo III unberührt belassene strukturelle Finanzdebakel der Systeme manifestiert. Die Fortsetzung der ebenfalls von der GroKo III übernommenen, bestenfalls auf inkrementellen Wandel angelegten Politik der permanenten Ausgabenausweitung und Klientelbefriedigung ist dadurch aber mittlerweile grundsätzlich unmöglich geworden.
Geradezu paradigmatisch zeigt sich dies am Umgang der Ampelkoalition mit dem sogenannten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG), das bereits vor mehr als zwei Jahren Ende 2022 vom BMG angekündigt wurde und von dem Mitte 2023 erste Referentenentwürfe öffentlich vorlagen. Da eine tragfähige Gegenfinanzierung für verschiedene dort aufgeführte kostenintensive Vorhaben aus dem KOV (ua Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen) offenbar nicht darstellbar war, gelangte schließlich erst im Sommer letzten Jahres ein um diese Intentionen entschlackter Entwurf ins parlamentarische Verfahren (Bt-Drs 20/11853). Auch er ist aber bis zum Bruch der Ampelkoalition im November vom Parlament nicht mehr beschlossen worden.
Dass es Ende Januar 2025 im Bundestag gleichwohl zur Verabschiedung eines nochmals nunmehr bis auf drei Einzelelemente völlig entleerten GVSG gekommen ist, dürfte einzig der Wahlkampfnervosität im parteipolitischen Raum geschuldet sein. Die nochmalige zusätzliche Belastung der GKV „in Höhe eines unteren dreistelligen Millionenbetrages“ (ebd: 6) wurde angesichts des nahenden Wahltermins augenscheinlich billigend in Kauf genommen. Dabei belegt gerade die an Komplexität und Diffizilität ihresgleichen suchende Regulierungsdichte der zentralen Regelung des Rumpfgesetzes – die sogenannte Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen (§ 87a IIIc SGB V-neu) –, wie längst überfällig eine grundständige Neuaufstellung des Vergütungsregimes im ambulant-ärztlichen Bereich ist, soll weiterhin eine ausreichende flächendeckende ambulante Versorgung gesichert werden. Dieser Aufgabe hat sich die Ampelkoalition freilich ebenso wie die GroKo III völlig entzogen. Der neue § 87a IIIc SGB V reiht 14 allenfalls für absolute Insider möglicherweise verständliche Schachtelsätze aneinander und ergießt sich in der Beschlussvorlage des Parlaments über eine Länge von insgesamt 117 Zeilen (Bt-Drs 12/14771: 11-14). Auch die KBV vermutet, die Umsetzung der Regelung sei „fast unlösbar“ (KBV 2025).
Abgesehen von unmittelbaren Wahlkampfriten ist bereits seit der vom Bundeskanzler im Februar 2022 verkündeten „Zeitenwende“ (Bt-Drs 20/19: 1350) und spätestens mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom November 2023 (2 BvF 1/22) zur sogenannten Schuldenbremse (Art 109 III, 115 II GG) der politisch während der Pandemie beliebte „Ausweg“ höherer Steuerzuschüsse für die Sozialsysteme weitgehend verbaut. In der GKV-Politik war das GKV-Finanzstärkungsgesetz die auf altbackenen Kostendämpfungselementen fußende und ansonsten strukturell hilflose Antwort der Koalition auf die GKV-Finanzmisere. Die Wirkungen des Gesetzes verpufften entsprechende schnell. Um es durchzusetzen, musste man ordnungspolitisch allerdings weiter in die Instrumentenkiste des von der GroKo III entwickelten exekutiven Dirigismus mit zentralstaatlich administrierten Detailregelungen greifen. Im Zusammenhang mit der Finanzierung der Krankenhausreform wird dieses Vorgehen weiter perfektioniert.
Finanzpolitisch bleiben unter systemischen Status-quo-Bedingungen einzig noch offene Leistungskürzungen, die zumindest die Ampelkoalition politisch ausgeschlossen hatte (oben Kap 4), und Beitragssatzanpassungen, wie sie in dramatischem Umfang GKV und SPV aktuell erleben. Die hohe Priorität konzeptionell durchdachter versorgungsorientierter Strukturreformen im Gesundheits- und Pflegebereich stellt sich als Aufgabe verantwortungsvoller Politik damit zum Ende der Ampelkoalition im Ergebnis noch wesentlich markanter als bei deren Start 2021. Hochkomplexe und kleinteilige, letztlich allenfalls inkrementelle Anpassungen durchgesetzt ohne Aktivierung der Betroffenen mit den Mitteln des exekutiven Dirigismus haben sich erschöpft. Mehr als drei Jahrzehnte nach den Strukturreformen von Lahnstein in der GKV und dreißig Jahre nach Etablierung der SPV stehen grundlegende systemische Strukturveränderungen an.
Literatur
- BAS (Bundesamt für Soziale Sicherung) 2024: GKV-Schätzerkreis schätzt die finanziellen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung für die Jahre 2024 und 2025, Pressemitteilung 5, 16.10.2024, 1-2
- Becker U / Kingreen T (Hg) 2020: SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung. Kommentar, 7. neu bearb. Aufl., München
- Becker U / Kingreen T (Hg) 2024: SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung. Kommentar, 9. neu bearb. Aufl., München
- Beerheide R 2025: Krankenkassenbeiträge. Schere geht weiter auseinander, Deutsches Ärzteblatt 1, A 6
- Berndt C / Grill M / Schumann H 2024: Auf Wunsch der Lobbyisten, Süddeutsche Zeitung 236, 12./13.10.2024, 6
- BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) 2025: Lieferengpässe bei Arzneimitteln, letzter Zugriff 22.1.2025
https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Arzneimittelinformationen/Lieferengpaesse/_node. - BMG (Bundesministerium für Gesundheit) 2023a: Bundesgesundheitsminister legt Digitalisierungsstrategie vor: „Moderne Medizin braucht digitale Hilfe“, Pressemitteilung 6, 9.3.2023
- BMG 2023b: Orientierungspapier: Konkretisierungen aus Sicht des BMG, 23.3.2023, 1-5
- BMG 2024a: Empfehlungen des Bundesministeriums für Gesundheit für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 220 Absatz 4 SGB V, Stand 31.5.2023* (* „einzelne Aktualisierungen wurden vorgenommen“), publiziert 10.1.2024,
1-8 - BMG 2024b: Finanzentwicklung der GKV im 1. bis 3. Quartal 2024, Pressemitteilung 31, 6.12.2024, 1-6
- BMG 2024c: Vorläufige Ergebnisse der GKV für das Jahr 2023, Pressemitteilung 7, 11.3.2024, 1-5
- BMG (Hg) 2016: Bericht zu den Ergebnissen des Pharmadialogs. Exzellente Forschung, leistungsstarker Produktionsstandort und bestmögliche Arzneimittelversorgung, 1-44
- Bogs W 1976: Strukturprobleme der Selbstverwaltung einer modernen Sozialversicherung, in: Bogs et al, 5-96
- Bogs W / Ferber von C / infas (Hg) 1976: Soziale Selbstverwaltung. Aufgaben und Funktion der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Bd 1, Bonn
- Bundesregierung 2024: Zukunftssichere Finanzierung der sozialen Pflegeversicherug – Darstellung von Szenarien und Stellschrauben möglicher Reformen, Verabschiedung im Bundeskabinett 3.7.2024, 1-134
- Dettling H-U / Gerlach A (Hg) 2014: Krankenhausrecht. Kommentar, München
- Dettling H-U / Würtenberger T 2014: § 1 Grundsatz, in: Dettling/Gerlach, 17-48
- DKG (Deutsche Krankenhausgesellschaft) 2022: Bestandsaufnahme zur Krankenhausplanung und Investitionsfinanzierung in den Bundesländern 2022 – Stand: Dezember 2022 –, oO
- Felix D 2024: Der geplante Transformationsfonds gemäß § 12b KHG. Zu den rechtlichen Grenzen der Modifizierung des dualen Finanzierungssystems, Gutachtliche Stellungnahme, 1-25
- Geinitz C 2024: Mondpreise trotz Warnung, F.A.Z. 17.7.2024, 15
- Hendler R 1988: Organisation und Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in: Maydell/Ruland, 224-239
- Hermann C 2013: Arzneimittel-Rabattverträge, ein wirkungsvolles Steuerungsinstrument? Vierteljahresschrift für Sozialrecht 3, 197-208
- Hermann C 2017: Leidenschaft und Augenmaß gefragt, IMPLICONplus – Gesundheitspolitische Analysen 9, 10-11
- Hermann C 2020: Narrativ im Kaffeesatz. Oder das GKV-System 2020 auf der Rutschbahn des exekutiven Dirigismus, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 17.9.2020, https://observer-gesundheit.de/narrativ-im-kaffeesatz-oder-das-gkv-system-2020-auf-der-rutschbahn-des-exekutiven-dirigismus/
- Hermann C 2021a: Spahns exekutiver Dirigismus vor dem Offenbarungseid. Das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) als Politiksubstrat, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 6.1.2021, https://observer-gesundheit.de/spahns-exekutiver-dirigismus-vor-dem-offenbarungseid/
- Hermann C 021b: Vernetzung und Vertragsalternativen verbessern die Versorgung oder Versorgungsstrukturierung in der Dauerwarteschleife, Gesundheits- und Sozialpolitik 6, 37-43
- Hermann C 2022a: Der Ampel-Koalitionsvertrag: von neuen Rollen und alten institutionellen „Gewissheiten“, G+G Wissenschaft 2, 22-30
- Hermann C 2022b: Von Koalitionsverträgen zum kleinen Karo. Oder: die permanent Unvollendeten in der Gesundheitspolitik, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 19.4.2022, https://observer-gesundheit.de/von-koalitionsvertraegen-zum-kleinen-karo/
- Hermann C 2023: Der lange Arm des exekutiven Dirigismus. Oder: Vom großkoalitionären Aufgalopp zur Ampel-Pirouette, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 13.7.2023, https://observer-gesundheit.de/der-lange-arm-des-exekutiven-dirigismus/
- Hermann C 2024a: Die Karten sind gelegt. Das finale GKV-Finanzdebakel der Ampel, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 11.11.2024, https://observer-gesundheit.de/die-karten-sind-gelegt/
- Hermann C 2024b: Finanzierbare Konzepte sind notwendig – aber bitte keinen Torso! Zur gesundheitspolitischen Halbzeitbilanz der Ampelkoalition, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 15.3.2024, https://observer-gesundheit.de/finanzierbare-konzepte-sind-notwendig-aber-bitte-keinen-torso/
- Hofmann C M / Wallrabenstein A 2022: Krankenversicherungsrecht, in: Ruland et al, 966-1036
- Hollo A-L 2024: § 91 Gemeinsamer Bundesausschuss, in: Becker/Kingreen, 1124-1155
- Hömig D / Wolff H A 2022: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Handkommentar, 13. Aufl., Baden-Baden
- Huster S 2022: Gesundheitsrecht, in: Huster/Kingreen, 337-367
- Huster S / Kingreen T (Hg) 2022: Handbuch Infektionsschutzrecht, 2. Aufl., München
- KBV (Kassenärztliche Bundesvereinigung) 2025: Fast unlösbare Aufgabe der Selbstverwaltung, Pressemitteilung, 22.1.2025
- Klauber J / Geraedts M et al (Hg) 2020: Krankenhaus-Report 2020. Finanzierung und Vergütung am Scheideweg, Berlin
- Knieps F 2021: Mehr Fortschritt wagen – Der Vertrag der Ampel-Koalition zwischen vorsichtiger Erneuerung und rasendem Stillstand, Gesundheits- und Sozialpolitik 6, 6-11
- Knieps F 2024: Reformen ohne Akzeptanz. Versuch einer Erklärung für die Dilemmata der aktuellen Gesundheitspolitik, Gesundheits- und Sozialpolitik 1/2, 12-15
- Knieps F / Reiners H 2015: Gesundheitsreformen in Deutschland. Geschichte – Intentionen – Kontroversen, Bern
- KOV (Koalitionsvertrag) 2021: Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP, 24.11.2021
- Kurz C / Beerheide R 2024: Krankenhausinsolvenzen. Versorgung bleibt stabil, Deutsches Ärzteblatt 6, A 361-A 366
- Lauterbach K 2022: Kabinettsbeschluss des „GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes“. Schreiben an die Mitglieder der Bundestagsfraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, 27.7.2022,
1-3 - Lauterbach K 2024: Betreff: Bilanz der 20. Legislaturperiode: viel erreicht – viel vor, Schreiben an die Mitglieder der Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, 18.12.2024, 1-12
- Maybaum T / Kurz C / Wilhelm J 2023: Datenanalyse. Versprechen nicht gehalten, Deutsches Ärzteblatt 33-34, A 1355- A 1357
- Maydell Baron von B / Ruland F (Hg) 1988: Sozialrechtshandbuch (SRH), Neuwied
- Oswald J / Bunzemeier H 2020: Auswirkungen der Personalkostenvergütung auf die Prozesse im Krankenhaus, in: Klauber et al, 145-168
- Pfeiffer D 2024: Schätzerkreis bestätigt kritische Finanzlage, Pressemitteilung des GKV-Spitzenverbandes, 16.10.2024, 1-3
- Pfohl A 2024: § 261 Rücklage, § 272 Sonderregelungen für den Gesundheitsfonds im Jahr 2021, § 272b Sonderregelungen für den Gesundheitsfonds im Jahr 2023, Aussetzung des Zusatzbeitragssatzanhebungsverbots für das Jahr 2023, in: Becker/Kingreen, 2441-2443, 2491-2495
- Pharma Deutschland (Hg) 2024: Der Arzneimittelmarkt. Pharma Daten Deutschland 2023, 1-55
- Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung 2022: Dritte Stellungnahme und Empfehlung, Grundlegende Reform der Krankenhausvergütung, Berlin, 1-49
- Robert Bosch Stiftung (Hg) 1987: Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung – Kommissionsbericht Teil 1, Gerlingen
- Ruland F / Becker U / Axer P 2022: Sozialrechtshandbuch, SRH, 7. Aufl., Baden-Baden
- Sachverständigenausschuss 2022: Evaluation der Rechtsgrundlagen und Maßnahmen der Pandemiepolitik, Bericht nach § 5 Abs. 9 IFSG, Berlin
- Schreyögg J / Milstein R 2021: Identifizierung einer initialen Auswahl von Leistungsbereichen für eine sektorengleiche Vergütung im Auftrag des BMG, Hamburg, 1-39
- SVR (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen) 2018: Bedarfsgerechte Steuerung der Gesundheitsversorgung. Gutachten 2018, Bonn/Berlin
- Transparency International 2024: Medizinforschungsgesetz begünstigt Pharmaindustrie: Transparency Deutschland fordert lückenlose Aufklärung der Causa „Lex Lilly“, Pressemitteilung 14.10.2024, 1-3
- Ullmann A 2024: Grundlage für eine zukunftsfähige, effiziente und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung beschlossen, Pressemitteilung FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, 17.10.2024, 1
- WIdO (Wissenschaftliches Institut der AOK) 2025: WIdO-Analyse zeigt: Eigenanteile von Pflegeheim-Bewohnenden liegen inzwischen bei mehr als 2.400 Euro, Pressemitteilung 3.1.2025, 1-7
- Windeler J 2025: ePA – der nächste Akt im Trauerspiel, Observer Gesundheit – Politische Analysen, 8.1.2025, https://observer-gesundheit.de/epa-der-naechste-akt-im-trauerspiel/
- Wolff H A 2022: Art. 77 Verfahren bei Gesetzesbeschlüssen, in: Hömig/Wolff, 595-603
_observer.jpg)
Alle politischen Analysen ansehen