Von den Beschlüssen des G-BA zum erfolgreichen Versorgungsalltag

Systemische Therapie muss jetzt konsequent implementiert werden

Sebastian Baumann, Vorstandsbeauftragter Psychotherapie der Systemischen Gesellschaft

Psychotherapie ist vielen ein Begriff, doch wie steht es um die Systemische Therapie? Anstatt nur auf das Individuum zu schauen, betrachtet sie die Betroffenen im Kontext ihrer verschiedenen sozialen Netzwerke, wie Familie oder auch Freunde. Das Verfahren ist mittlerweile für Erwachsene sowie für Kinder und Jugendliche zugelassen. Doch in der Versorgung richtig angekommen ist die Systemische Therapie leider noch nicht. Eine gesetzliche Flankierung ist erforderlich – warum nicht im derzeit diskutierten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG)? Es ist höchste Zeit.

Als neues Verfahren ist die Systemische Therapie in der Versorgung derzeit noch völlig unterrepräsentiert, resümiert auch der vdek in seiner Stellungnahme zum GVSG. Eine Anpassung der Bedarfsplanungsrichtlinie sei erforderlich. Leider konnten sich die Vertragspartner – KBV und GKV-Spitzenverband – bis jetzt auf keinen Änderungsmodus verständigen, schreibt der vdek. Der Gesetzgeber wird um Unterstützung gebeten. Der vdek-Vorschlag: Systemische Therapeuten sollten so lange bei Nachbesetzungen und gleicher Qualifikation bevorzugt ausgewählt werden, bis mindestens ein Versorgungsanteil in Höhe von 15 Prozent der regional maßgeblichen Verhältniszahl erreicht ist.

 

Systemische Therapie endlich Kassenleistung auch für Kinder und Jugendliche

Erinnern wir uns: Die Systemische Psychotherapie ist vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) seit Anfang dieses Jahres für alle Altersgruppen als Pflichtleistung der GKV zugelassen. Ein historischer Moment und eine Zäsur, denn das letzte neu zugelassene Verfahren kam 1985 ins System. Systemischer Therapie wird viel zugetraut: „Die Ausrichtung der Systemischen Therapie eignet sich aufgrund der Einbeziehung des sozialen Umfelds insbesondere für Kinder und Jugendliche. Vor dem Hintergrund der zuletzt während der Corona-Pandemie deutlich gestiegenen Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen begrüßen wir, dass mit der Systemischen Therapie nun eine weitere passgenaue psychotherapeutische Behandlungsform zur Verfügung steht“, so Dr. Monika Lelgemann, Unparteiisches Mitglied im G-BA in der entsprechenden Pressemitteilung vom 18. Januar 2024.

Ein steiniger Weg liegt hinter uns. Ohne die Interventionen der systemischen Fachgesellschaften wären wir heute nicht so weit. Der G-BA hat nach der Antragstellung sehr schnell und zielgerichtet gearbeitet. Während bei der Systemischen Therapie für Erwachsene zwischen der Antragsstellung im Unterausschuss Methodenbewertung und der Aufnahme in die Psychotherapie-Richtlinie noch sechseinhalb Jahre lagen, waren es bei den Kindern und Jugendlichen nur zweieinhalb, inkl. komplexem IQWiG-Prozess. Dafür gebührt allen Beteiligten großer Respekt für die Arbeit, die hier zur Verbesserung der psychischen Gesundheit geleistet wurde.

Was fehlt, ist die reale und wohnortnahe Versorgung. Kassensitze müssen für Systemische Therapie vorgehalten werden. Einige Zulassungsausschüsse gewähren systemischen Therapeuten bereits Vorrang, bis sie in ähnlicher Zahl vertreten sind wie die anderen Richtlinienverfahren. Andere sperren sich noch dagegen, obwohl die zunächst skeptischen Krankenkassen inzwischen offensiv fordern, Systemische Therapie in der Bedarfsplanung zu bevorzugen: Unter anderem deshalb, weil Systemische Therapie als Kurzzeitverfahren „minimalinvasiv“ vorgeht und hilft, die Wartezeiten zu verkürzen.

 

Therapieform mit echten Vorteilen für die Versorgung

Was bringt die Systemische Therapie Neues für die Versorgung? Zunächst leuchtet sie den sozialen Faktor von psychischen Störungen aus. Am Zusammenbruch in der Erschöpfungsdepression etwa hat neben persönlichen Dispositionen vielleicht auch das Stürzen in die Arbeit einen Anteil. Der verstärkt sich, weil man im Job dafür Anerkennung bekommt, während es in der Partnerschaft zu Hause nur Ärger gibt. Wenn hierfür Lösungen in gemeinsamen Gesprächen gefunden werden können, hat das eine direkte Auswirkung auf das Symptomerleben.

Eine weitere Besonderheit ist die radikale Ressourcenorientierung und das therapeutische Interesse daran, wie ähnliche Schwierigkeiten früher bereits gelöst wurden, anstatt weiter zu pathologisieren. Wird im Gesundheitssystem für die eigenen Liebsten therapeutische Unterstützung gesucht, ist man über so eine Haltung froh. Systemische Therapie verhindert dabei altersbedingte Versorgungsbrüche, weil enge, zum Beispiel familiäre Beziehungen im Fokus stehen. Familiäre Häufungen psychischer Störungen sind bekannt. Anstatt dass mehrere Familienmitglieder jeweils eigene Therapeuten haben, kommen sie zur Systemischen Therapie über Altersgrenzen hinweg zusammen. Das mag etwas von der „Me-Time“ des Einzelnen nehmen, ist aber höchst effektiv. Findet eine reine Erwachsenen-Therapie statt, wird automatisch auch an die minderjährigen Kinder gedacht, um die therapeutischen Fortschritte anzupassen und nicht auf deren Kosten zu erreichen.

Auch in der Verbändelandschaft hat man auf die Veränderungen bereits reagiert: Neben den beiden großen systemischen Fachgesellschaften SG[1] und DGSF[2], mit zusammen immerhin über 16.000 Mitgliedern ist ein systemischer Berufsverband hinzugekommen: Der Verbund für Systemische Psychotherapie[3]. Er vertritt die Interessen der Institute die, Aus- und Weiterbildung zu Psychotherapeuten anbieten und die der einzelnen Systemischen Psychotherapeuten. Diese weitere Differenzierung und Professionalisierung wurde nötig, damit Systemische Therapie nun tatsächlich in der Versorgung ankommt.

Aktuell steht – wie bei allen Psychotherapieverbänden – die Umsetzung der neuen Fachpsychotherapeutenweiterbildung im Mittelpunkt. Hier fehlt noch immer die Finanzierung, um die neue Weiterbildung anbieten zu können. Wie der Nachwuchs für diese wichtige Berufsgruppe sichergestellt werden soll, steht momentan noch in den Sternen. Der Petitionsausschuss hat das Thema nach massiven Protesten bereits zur weiteren Bearbeitung ans Parlament verwiesen.

Das neue zugelassene Psychotherapieverfahren wirft den Blick auf die gesamte psychotherapeutische Versorgung. Einerseits ist die Situation sehr positiv: Ohne Zusatzzahlungen übernehmen die gesetzlichen Krankenversicherungen die Kosten von der ersten bis zur letzten Sitzung. Andererseits sind in vielen Gebieten die Wartezeiten auf einen Therapieplatz enorm. Hier kann Systemische Therapie als stärker kurzzeittherapeutisches Verfahren deutliche Versorgungsprobleme lösen helfen.

 

Durchgehendes Therapie-Monitoring erforderlich

Die meisten Menschen wenden sich bei psychischen Symptomen erst einmal an die Hausärzte. Die würden gerne zur Psychotherapie verweisen, wissen aber um die fehlenden Plätze. Um den Patienten nicht mit leeren Händen aus der Sprechstunde schicken zu müssen, wird erst einmal ein Psychopharmakon verschrieben. Die Wirksamkeit liegt dabei in den häufig vorkommenden Bereichen wie Depressionen, Angststörungen und somatoformen Beschwerden kaum über der von aktiven Placebos. Anti-Depressiva werden oft jahrelang eingenommen, ohne dass die psychischen Ursachen behandelt würden.

Der Kassenzulassungsprozess hat den Blick aber auch auf die psychotherapeutische Forschung gerichtet. Wie in anderen Bereichen geht es um die Bestätigung der Wirksamkeit des eigenen Verfahrens. Dabei wäre es für die Patienten sehr viel gewinnbringender, wenn nicht dieses gegen jenes Verfahren verglichen würde. Zumal der größte Einfluss auf Therapieerfolg durch Kooperationsvariablen zwischen Therapeut und Patient zustande kommt. Es bräuchte ein durchgehendes Therapie-Monitoring durch Patienten und Therapeuten. Unabhängig vom angewendeten Verfahren müssten Veränderungsprozesse durch Patienten selbst eingeschätzt werden. Mit dem Synergetischen Navigations-System (SNS) steht dafür ein bereits jahrelang erprobtes Verfahren zur Verfügung. Aktuell wird beim IQTIG über den Ersatz des Gutachterverfahrens beraten. In einer ersten Regelung hat der G-BA dazu eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die nun in NRW erprobt werden. Leider ist der Fokus davon die Normierung und Gängelung von Therapeuten.

Als Qualitätssicherungsinstrument hätten Patienten sehr viel mehr davon, wenn relevante psychische, somatische und soziale Faktoren, die einen Einfluss auf die psychische Störung haben, mit einer App täglich eingeschätzt würden, wie das beim SNS der Fall ist.

 

Kombinationsverbot von Therapieverfahren nicht mehr zeitgemäß

Eine weitere „heilige Kuh“ hat auch den G-BA Prozess der Systemischen Therapie überlebt: das Kombinationsverbot von Therapieverfahren. Inzwischen ist das meilenweit von der Praxis entfernt, weil Therapeuten natürlich auch Einflüsse von anderen Verfahren in ihre therapeutische Arbeit einfließen lassen. Man stelle sich eine Krebsbehandlung vor, in der gesagt würde: Wir hätten zwar eine Technik, könnten die auch anwenden, aber die kommt von einer anderen Schule, deswegen geht das leider nicht. Juristische Abwägungen haben den fachlichen zum Teil den Rang abgelaufen. Der Patient muss hier wieder stärker in den Vordergrund rücken. Auch dafür wird die Systemische Psychotherapie ihren Beitrag leisten.

 

[1] SG: Systemische Gesellschaft, https://systemische-gesellschaft.de/

[2] DGSF: Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, https://dgsf.org

[3] VfSP: Verbund für Systemische Psychotherapie, https://www.systemischer-verbund.de/

 

 

Lesen Sie weitere Beiträge des Autors:

„17 Monate sind genug“, Observer Gesundheit, 3. Mai 2021,

„Systemische Therapie in der GKV – jetzt müssen Kinder und Jugendliche folgen“, Observer Gesundheit, 13. Dezember 2019,

„Systemische Therapie – zwar evidenzbasiert, doch der G-BA ist entscheidungslos“ , Observer Gesundheit, 6. August 2018,

„Systemische Therapie muss Kassenleistung werden“, Observer Gesundheit, 21. März 2018.


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