30.11.2024
Verdaddelt, vermasselt, versenkt – und nun?
Die Bilanz des BM Prof. Dr. Karl Lauterbach (KL)
Maximilian Gerade
Mit dem Beschluss des Bundesrates vom 22. November zum KHVVG fiel der gesundheitspolitische Vorhang für die nächsten anderthalb Jahre. Rien ne va plus – nichts geht mehr. Grund genug für einen Blick zurück und nach vorn.
Es ist keine Freude, aber eine Chronisten-Pflicht, auf eine Prognose des Observer vom 9. Juli 2022 – damals unter dem Titel: „Die verlorene Legislaturperiode?“ – zu verweisen: Sieht man von punktuellen Fortschritten in der Digital-Gesetzgebung und dem KHVVG (dazu mehr später) ab, hat sich die damalige Befürchtung leider bewahrheitet: Es war eine verlorene Legislaturperiode für das Gesundheits- und Pflegesystem.
Gestartet mit einem fortschrittlichen und mutigen Gesundheitskapitel im Koalitionsvertrag endet die dreijährige Ägide des BM Prof. Dr. Karl Lauterbach (KL) im gesundheitspolitischen Niemandsland. Ein irrlichternder Gesundheitsminister, der in jedes Mikrofon neue Ankündigungen von gesetzgeberischen Wohltaten versprach, hat es nicht geschafft, sein koalitionsvertragliches Soll zu 50 Prozent umzusetzen.
Sehr maues Ergebnis des Ministers
Ein Minister wird daran gemessen, was er gesetzlich erreicht hat. Nimmt man fünf coronabezogene Gesetze aus, haben es rund zwölf Gesetze aus seinem Haus ins Bundesgesetzblatt geschafft. Kein Ruhmesblatt, zumal es fast ausschließlich Detailregelungen waren, die erlassen wurden. Nur zur Erinnerung: Nach der 18. Legislaturperiode konnte der damalige Bundesminister Gröhe auf 49 Gesetze zurückblicken, sein Nachfolger, Jens Spahn, schaffte immerhin 38. Bei KL stehen 17 Gesetze in der Bilanz – ein sehr maues Ergebnis!
Zugegeben: Die Großwetterlage für das BMG war nicht günstig. Der Bundesminister war zwar als Minister des Volkes angetreten, aber er wurde nie Minister des Kanzlers. Das Kanzleramt hatte andere Sorgen als Gesundheitskioske oder die Blockade der gesundheitspolitischen Vorhaben durch die FDP. Und das Verfassungsgerichtsurteil zur zulässigen Neuverschuldung nutzte der Finanzminister, um jegliche, ihm und seiner Klientel unbeliebte Vorhaben auszubremsen.
KL ist zweifelsohne ein brillanter Kenner des Gesundheitswesens und beherrscht die Klaviatur der Medien. Aber eine gute Schlagzeile macht noch keinen guten Minister. Ein Beispiel: Mehrfach schaffte er es mit seiner Ankündigung von 1000 Gesundheitskiosken für Deutschland in die Schlagzeilen, schlug damit aber ungewollt (?) den Sargnagel in dieses Projekt. Hochgerechnete Kosten von 400 Millionen ließen sich prima skandalisieren und lieferten der FDP treffliche Argumente, das Thema so lange zu torpedieren, bis es versenkt war. Mit einer realistischen Zahl von 50 bis 100 Kiosken, vorzugshalber in unterversorgten Regionen, wäre die Debatte anders verlaufen. Aber solche taktischen Entgleisungen fochten KL nicht an. Mit ein paar kecken neuen Ankündigungen konnte er dank des medialen Kurzzeitgedächtnisses sein strategisches Unvermögen immer wieder überdecken.
Nicht geschafft, Koalitionen zu schmieden
KL hat es nie geschafft, Koalitionen zu schmieden, sondern fast masochistisch danach gesucht, welchen möglichen Partnern er als Nächstes vor den Kopf stoßen könnte. Die mäandernde Historie der Bund-Länder-Absprachen zur Krankenhaus- und Notfallreform belegen diese Inkompetenz. Und seine Science-First-Strategie, also abzuwarten, dass eine Regierungskommission noch mal sagt, was schon so viele gesagt haben, hat wertvolle Zeit gekostet, die jetzt am Ende fehlte.
Es gehört zum politischen ein mal eins, große und schmerzhafte Vorhaben am Anfang der Legislaturperiode, also im koalitionären Frühling, einzubringen und gesundheitspolitische Randthemen (Cannabis) nachrangig zu behandeln. KL hat es genau andersherum gemacht. Glaubte er, damit das Wohlwollen der Cannabis-Freunde in der FDP für weitere Vorhaben zu gewinnen? Dann ist das gründlich schiefgegangen.
Auch die Verabschiedung des KHVVG war mitnichten ein politisch-taktisches Meisterstück, sondern nur ein glücklicher „windfall“. Einige Länder hatten schlichtweg Angst, dass nach dem Bruch der Koalition ein gesetzgeberischer Neubeginn zu viel Zeit und zu viele Krankenhäuser im jeweiligen Land kosten würden. Ohne das jähe Ende der Koalition wäre der Vermittlungsausschuss sicher angerufen worden – mit unklarem Ausgang.
Auch inhaltlich ist die Bilanz nicht ruhmreich. Sieht man von wenigen Ausnahmen ab (zum Beispiel die Einführung der Hybrid-DRG), wurde in dieser Legislaturperiode nicht an den entscheidenden Grundfesten des Gesundheitswesens gerüttelt. Die strukturelle, berufsbezogene, ökonomische und rechtlich fixierte Sektorisierung und die sie stützenden Partikularinteressen haben auch diese Legislaturperiode gut überstanden. Das KHVVG bietet zwar innerhalb der stationären Versorgung einige gute Reformansätze, stärkt aber auch die Dominanz der teuersten (stationären) Versorgungsform, in dem die Krankenhäuser eigenständige Möglichkeiten zur ambulanten Versorgung in Abgrenzung zur KV erhalten. Dies mag regional sinnvoll sein, verhindert aber weiter, die Versäulung zwischen der ambulanten und stationären Medizin abzubauen. Die Option aus dem Referentenentwurf zum KHVVG, durch eine medizinisch-pflegerische Versorgung (nach ehemals § 115 h SGB V) eine Brücke zwischen den Versorgungsformen zu bauen, konnte KL nicht gegen das FDP-geführte BMJ durchsetzen.
Auch andere koalitionär vereinbarte Gesetzgebungsvorhaben, die an den Burgtoren der jeweiligen Sektoren gerüttelt hätten, wie das Pflegekompetenzgesetz, ein neues Berufsbild für CHN (Community Health Nursing) oder eine sektorenübergreifenden Notfallreform inklusive Rettungsdienst sind in dieser Legislaturperiode zu spät angegangen und deshalb verspielt worden.
Diese und andere ähnlich zukunftsfähige Vorhaben trugen meist eine grüne Handschrift und werden in einer Koalition ohne einen grünen Einfluss kaum reaktiviert werden.
Strukturdefizite wurden überdeckt
Hinzu kommt, dass es sich bitter rächt, über mehrere Legislaturperioden den bequemen Weg gegangen zu sein. Die jeweiligen sektorenspezifischen Partikularinteressen (wie erneut im KHVVG geschehen) wurden mit immer mehr Geld bedient und so Strukturdefizite überdeckt. Die steigende Belastung für Versicherte, Kostenträger und Wirtschaft zusammen mit den sich verschlechternden makroökonomischen Rahmenbedingungen eröffnen in der nächsten Legislaturperiode keine Spielräume für finanzielle Wohltaten.
Es droht die höchste Beitragssatzanhebung seit 50 Jahren und somit die Wiederauferstehung eines fast vergessenen Unwortes: „Kostendämpfung“. Auf gesundheitspolitischen Kongressen wird bereits darüber munter diskutiert. Oder können Sie sich vorstellen, dass eine große Koalition in diesen bewegten Zeiten die Kraft aufbringt, mit strukturellen Reformen eine für mächtige Interessengruppen lukrative Über- und Fehlversorgung zurückzudrängen?
Was wird aus KL?
Wenn schon die inhaltlichen Ausrichtungen für die kommende Legislaturperiode in der Gesundheitspolitik nicht rosig sind, bleibt noch die menschlich spannende Frage, wie es mit KL weitergeht. In der Politik und besonders bei Karl Lauterbach ist es weniger relevant, was man sagt – stattdessen aber, warum man etwas sagt. Und da fiel auf, dass sich KL direkt nach dem Ampel-Aus vorausschauend positionierte.
Am Tag nach dem Showdown zwischen den Spitzen der SPD und FDP wandelte er sich zum sympathischen Versöhner, indem er verlautbarte, dass er immer gut mit der FDP zusammengearbeitet habe. (Das nennt man dann wohl Amnesie!) Noch eindeutiger war sein Treueschwur zum wahren Spitzenkandidaten der SPD, als erster Minister des Kabinetts und just in dem Augenblick, als Olaf Scholz aus dem Flieger von Brasilien stieg, während Teile der SPD noch mit dem Kanzlerkandidaten haderten. Wieder hatte er einen feinsinnigen Riecher für das richtige publizistische Timing. Biedert sich hier jemand im Falle einer schwarz-roten Koalition für eine zweite Amtszeit prophylaktisch an? Achten Sie mal darauf, wie sich KL in der nächsten Zeit mit immer neuen frohen Botschaften in Erinnerung bringen wird, obwohl er eigentlich nichts mehr zu vermelden hat! In internen Runden soll er das BMG auf ein „Weiter mit mir!“ eingeschworen haben.
Zur grausamen Wahrheit gehört aber auch, dass es aus dem Kreis der Fachpolitiker im Bundestag und Ländern keine Konkurrenten in der SPD zu Karl Lauterbach gibt. Wie auch? Und ob sonstige renommierte Personen aus der Sozialdemokratie diesen Job mit einem impertinenten Zwischenrufer von der Seitenlinie übernehmen wollen, ist mehr als fraglich. Es wäre klug, wenn die SPD im Falle einer schwarz-roten Koalition auf einen Zugriff auf das Gesundheitsministerium verzichtet und es der CDU überlässt. Bekanntlich gibt es dort einen 67-jährigen Haudegen aus NRW, von dem gemunkelt wird, dass das Amt eines Bundesministers in seiner bewegten politischen Karriere ein krönender Abschluss wäre. Alles besser als eine weitere verlorene Legislaturperiode.
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