26.09.2022
Triage-Gesetzentwurf: parlamentarischer Prozess mit ethischer und verfassungsrechtlicher Dimension erforderlich
Corinna Rüffer MdB, Berichterstatterin für Behindertenpolitik & Obfrau im Petitionsausschuss, Bündnis 90/Die Grünen
Die Bilder aus Bergamo von nächtlichen Militärkonvois, die Leichen in Krematorien transportierten, sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden. Im März 2020, als sich die meisten von uns von der Corona-Pandemie noch nicht betroffen fühlten, veränderten diese Aufnahmen schockartig unser Bewusstsein: Das Sterben wird auch uns erreichen. Werden dann auch wir in die Situation kommen, alte und behinderte Menschen gar nicht erst zu behandeln? Undenkbar schien das – denn wir haben doch unser Grundgesetz …
Heute wissen wir, dass es auch bei uns gravierende Engpässe bei der Versorgung von Corona-Patient:innen gab. Dort, wo in der zweiten Corona-Welle im Winter 2020/21 die Inzidenzen besonders hoch waren, wurden an Corona erkrankte Bewohner:innen von Pflegeheimen teilweise nicht mehr im Krankenhaus behandelt. „Triage-vor-der-Triage“ oder „graue Triage“ nennt man das. Karl Lauterbach sagte dazu in der ZDF-Sendung „maybrit illner“ (14.1.2021): „Wenn wir wie in der ersten Welle die Menschen aus den Pflegeeinrichtungen noch alle auf die Intensivstationen bringen würden, dann wären die Intensivstation schon längst überlaufen.“ Können wir uns gar nicht so sehr auf den Schutz durch unser Grundgesetz verlassen? Der Alarm darüber oder mindestens eine ernsthafte Debatte darüber ist bis heute ausgeblieben. Ich finde das besorgniserregend.
Gleichberechtigtes Verfahren erforderlich
Im Sommer 2020 reichten neun behinderte und chronisch kranke Menschen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein, weil sie befürchteten, im Fall einer Triage wegen ihrer Behinderung oder Vorerkrankung nicht intensivmedizinisch behandelt zu werden. Der Gesetzgeber müsse seiner Schutzpflicht nachkommen und gesetzliche Regeln erlassen, um sicherzustellen dass Menschen mit Behinderungen in einem Triage-Fall nicht benachteiligt werden. Das BVerfG ist den Beschwerdeführer:innen weitgehend gefolgt und verpflichtete den Gesetzgeber in seinem Beschluss vom Dezember 2021, geeignete Vorkehrungen zu treffen.
Machen wir uns nichts vor: Die Entscheidung, wer das letzte Intensivbett oder Beatmungsgerät bekommt, wenn es mehrere Patient:innen dringend brauchen, ist in jedem Fall grausam. Eine Chance auf Zuteilung der knappen Ressource bekommen in allen Szenarien nur diejenigen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit überleben könnten. Das heißt, ein Mensch, der vielleicht weiterleben könnte, stirbt. Im Rahmen dieses unausweichlichen Dilemmas ist es entscheidend, dass ein Verfahren gewählt wird, das allen, die überleben könnten, die gleichberechtigte Chance auf Zugang zur überlebensnotwendigen Therapie sichert.
Der aktuelle Gesetzentwurf, den das Bundesgesundheitsministerium zur Regelung der Triage vorgelegt hat, erfüllt das aus meiner Sicht nicht. Vorgesehen ist darin, dass knappe intensivmedizinische Behandlungskapazitäten anhand des Kriteriums der „aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit“ zugeteilt werden. Das aber ist ein Einfallstor, um das Überleben der fittesten Personen zu sichern und „schwächere“ Personen, wie alte und behinderte Menschen zu benachteiligen. Erst recht, da völlig unklar und im Gesetzentwurf nicht geregelt ist, auf welcher Grundlage die aktuellen und kurzfristigen Erfolgsaussichten bestimmt werden sollen.
Ex-Post-Triage ein Totschlag innerhalb der Rechtswissenschaft
Wie hochproblematisch das Entscheidungskriterium „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ ist, wird besser verständlich, wenn man die Debatte um die „Ex-Post-Triage“ bedenkt und einordnet: Diese Möglichkeit (Abbruch der intensivmedizinischen Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen mit besseren Überlebenschancen) war in einer „Formulierungshilfen“ für eine Triage-Regelung vorgesehen, die das BMG im Mai veröffentlicht und nach massiver Kritik wenige Tage später zurückgezogen hatte.
Die Ex-Post-Triage wird von einer herrschenden Meinung innerhalb der Rechtswissenschaft als Totschlag gewertet. Namhafte Intensivmediziner:innen setzen sich dessen ungeachtet bis heute für eine solche Regelung ein. Sie argumentieren, die relative Erfolgsaussicht einer Behandlung bei Patient:innen besser beurteilen zu können, die über längere Zeit versorgt werden. Das mag sein – macht aber umso deutlicher, worauf diese Orientierung grundsätzlich zielt: Das Überleben der fittesten Personen zu sichern. Die Anwendung der Ex-Post-Triage wäre lediglich eine konsequente Umsetzung dieses Ansatzes. Prinzipiell unterscheidet sie sich aber nicht von anderen Auswahlverfahren, die sich an der Überlebenswahrscheinlichkeit von Patient:innen orientieren. Sie alle sind ein Einfallstor für die Benachteiligung behinderter Menschen.
Geschichte soll mahnen und verpflichten
Die Unantastbarkeit der menschlichen Würde ist die oberste Maxime unserer Verfassung. Sie verbietet es, Leben gegen Leben abzuwägen. Unsere Geschichte sollte uns mahnen und verpflichten, den Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens niemals zu relativieren. Das ist umso bedeutender, wenn man sich die prekäre Lage in unserem neoliberal-ökonomisierten Gesundheitswesen vor Augen führt, das auf Einsparung, Profit und Effizienz getrimmt ist – während es gleichzeitig im Zuge des demographischen Wandels immer mehr hochbetagte, nicht mehr „leistungsfähige“ Menschen geben wird. Angesichts dessen sollten wir uns davor hüten, das „Überleben des Stärkeren“ in Gesetzesform zu gießen und eine der wesentlichen Grundfesten unserer Demokratie in Frage zu stellen.
Deshalb braucht es jetzt dringend einen parlamentarischen Prozess, der den höchstrichterlichen Auftrag nicht auf eine medizinische Fragestellung verengt, sondern die ethische und verfassungsrechtliche Dimension angemessen würdigt, die wirksame Partizipation behinderter Menschen gewährleistet und zu einem Ergebnis führt, das auf der Grundlage unseres Grundgesetzes breit getragen werden kann.
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Ulla Schmidt: „Triage-Gesetzentwurf: Diskriminierung vermeiden!“, Observer Gesundheit, 9. August 2022
Hubert Hüppe: „Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig“, Observer Gesundheit, 2. Februar 2022
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