24.03.2025
Sozialbeiträge auch auf Kapitalerträge?
Zur Ausweitung der beitragspflichtigen Einnahmen unter den Pflichtmitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung
Lotte Wedekind
Benjamin Berndt
Im Bundestagswahlkampf schlug Bündnis 90/Die Grünen erneut vor, Sozialbeiträge auch auf Kapitalerträge zu erheben. In der politischen und medialen Diskussion dieser Idee fehlen jedoch eine klare Definition von Kapitalerträgen und Informationen zur konkreten Höhe der Beiträge bzw. zur Berücksichtigung von Freibeträgen. Außerdem ist unklar, welches finanzielle Potenzial einer Ausweitung der Bemessungsgrundlage der Sozialversicherungsbeiträge innewohnt.
In der Literatur liegen seit Jahrzehnten Berechnungen zu den potenziellen Mehreinnahmen der GKV vor. Das Leipziger Forschungsinstitut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung, WIG2, hat zehn relevante Publikationen zur Finanzwirkung der Verbeitragung von Kapitalerträgen untersucht und Konsequenzen für die aktuelle politische und wissenschaftliche Diskussion gezogen.
1. Einführung
Die vorgebrachte Idee von Bündnis 90/Die Grünen zur Verbeitragung von Kapitalerträgen ist wenig konkret, weder die Frage nach einer Definition von Kapitalerträgen noch die Frage der konkreten Höhe der Beiträge oder die Berücksichtigung von Freibeträgen wurden näher beschrieben. Klar ist nur die erhoffte Wirkung: Der Vorschlag soll der stärkeren Belastung der Arbeitseinkommen entgegenwirken sowie zur Begrenzung der Beitragssätze beitragen.
Dies ist insbesondere als Reaktion auf die defizitäre Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu verstehen, deren aus Zusatzbeiträgen zu finanzierendes Finanzdefizit sich zuletzt auf voraussichtlich 36,26 Mrd. Euro im Jahr 2024 belief und den Schätzungen des GKV-Schätzerkreises zufolge im Jahr 2025 auf 46,69 Mrd. Euro ansteigen wird (GKV-Schätzerkreis, 2024). Auch darüber hinaus kann für die folgenden Jahre eine stetig wachsende Lücke zwischen Einnahmen – inkl. Zuweisungen – und Ausgaben angenommen werden, in den vergangenen Jahren sind die durchschnittlichen Ausgaben pro Kopf jährlich einen Prozentpunkt schneller gestiegen als die beitragspflichtigen Einnahmen (bpE) der Versicherten (Pimpertz, 2022). Zur anteiligen Kompensation dieser Unterdeckung sind stetige Beitragssatzsteigerungen notwendig, da die Rücklagen der Krankenkassen weitgehend erschöpft sind. Während zu Beginn des Jahres 2024 der reale durchschnittliche Zusatzbeitragssatz bei 1,70% lag, stieg er zu Anfang 2025 erheblich auf 2,93% an. Diese wurden anhand des GKV-Finanzbenchmark der WIG2 GmbH berechnet (WIG2 GmbH, o. J.).
In der politischen und medialen Reaktion auf den Vorschlag der Verbeitragung von Kapitalerträgen fehlt es an einer konkreten Einschätzung, welches finanzielle Potenzial einer solchen Ausweitung der Bemessungsgrundlage der Sozialversicherungsbeiträge überhaupt innewohnt. Der Artikel stellt daher den aktuellen Forschungsstand zur Finanzwirkung der Ausweitung der Bemessungsgrundlage auf Kapitalerträge dar. Insbesondere wird die Vergleichbarkeit der Ergebnisse bestehender Publikationen und der darin beschriebenen Finanzwirkung im Hinblick auf die Datengrundlagen, deren Jahre der Veröffentlichung, die Methodik, die zu verbeitragenden Einnahmequellen gem. Einkommensteuergesetz (EStG), den Sparer-Pauschbetrag, den Beitragssatz sowie die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) dargestellt.
2. Methodisches Vorgehen
Im Rahmen einer Literaturrecherche wurde der gegenwärtige Forschungsstand zur Finanzwirkung der Verbreiterung der beitragspflichtigen Einkommen auf Kapitaleinkünfte erfasst, dargestellt und auf dieser Grundlage die Vergleichbarkeit der Ergebnisse überprüft. Zunächst wurden Einschluss- und Ausschlusskriterien für die Identifikation der relevanten Literatur formuliert. Diese sind Tabelle 1 zu entnehmen.
Tabelle 1: Einschluss- und Ausschlusskriterien
Quelle: Eigene Darstellung
Im Anschluss an die Formulierung der Einschluss- und Ausschlusskriterien wurden individuelle Suchstrings für die einzelnen Datenbanken und Suchmaschinen gebildet. Die Bewertung der Publikationen erfolgte nach einer Eingrenzung mittels eines Titel-Abstract-Screenings im Hinblick auf Informationen über relevante Datengrundlagen, das methodische Vorgehen (u. a. Berechnungen) sowie das finanzielle Volumen sowohl als Absolutbetrag als auch in Beitragssatzpunkten (BSP) entsprechend für das jeweilige Datenjahr. Nicht öffentliche Publikationen konnten dabei nicht auf deren Relevanz überprüft werden.
3. Die beitragspflichtigen Einnahmen der GKV
Nachfolgend werden zunächst die bpE entsprechend dem Mitgliedsstatus (Familienversicherte, Pflichtmitglieder, freiwillige Mitglieder) in der GKV definiert. Anschließend werden jegliche in der Literatur ausgewiesene Einsparungen in BSP sowie die erwartbaren absoluten Mehreinnahmen für die GKV dargestellt. Abschließend erfolgt in diesem Teil eine Bewertung der Vergleichbarkeit sowie eine Darlegung der Differenzen der Ergebnisse.
3.1. Die Einkommen der GKV
Die GKV erhält Einnahmen durch die Beiträge der Mitglieder, einen jährlichen Bundeszuschuss i. H. v. derzeit 14,5 Mrd. Euro nach § 221 Sozialgesetzbuch (SGB) V sowie weitere Einnahmen. Die Beiträge werden einkommensabhängig gezahlt und fließen äquivalent zu dem steuerfinanzierten Bundeszuschuss dem Gesundheitsfonds zu (Bundesministerium für Gesundheit, 2023b). Nach § 241 SGB V beträgt der allgemeine Beitragssatz 14,6% der bpE der Mitglieder. Nach § 226 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird dieser auf das Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung (Nr. 1), auf den Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) (Nr. 2), auf den Zahlbetrag der der Rente vergleichbaren Einnahmen (Versorgungsbezüge) sowie auf das Arbeitseinkommen, soweit es neben einer Rente der GRV oder Versorgungsbezügen erzielt wird (Nr. 4), angesetzt. Zusätzlich wird nach § 242 SGB V ein kassenindividueller Zusatzbeitragssatz erhoben, falls der Finanzbedarf der Kassen nicht durch die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds gedeckt ist. Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz nach § 242a SGB V beträgt im Jahr 2025 2,5% der bpE (Bundesministerium für Gesundheit, 2024a), der reale durchschnittliche Zusatzbeitragssatz i. H. v. 2,93% übersteigt diesen Wert. Welche Einkünfte als bpE zu berücksichtigen sind, ergibt sich aus dem Versicherten- und Mitgliedsstatus. Die jeweiligen bpE werden unter dem Zweiten Titel des Achten Kapitels SGB V für jegliche Arten der Mitgliedschaft explizit dargelegt. Im Folgenden werden in Tabelle 2 zunächst die nach § 226 Abs. 1 Satz 1 Nr.1-4 SGB V bpE der Pflichtmitglieder definiert.
Tabelle 2: Beitragspflichtige Einnahmen von Pflichtmitgliedern der GKV
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bundesministerium für Gesundheit (2023a) und Deutsche Rentenversicherung Bund (o. J.)
Davon abzugrenzen sind die freiwillig versicherten Mitglieder, deren „gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit“ nach § 240 Abs. 1 Satz 2 SGB V beitragspflichtig ist. In dem vorliegenden Beitrag wird auf jene zusätzlichen Einkünfte eingegangen, die in der Literatur für die Ausweitung der bpE unter den Pflichtmitgliedern als relevant identifiziert werden und für die Beitragsbemessung herangezogen werden würden. Die nachfolgende Tabelle 3 führt diese auf. Dabei sind diese Einnahmen in Tabelle 3 nicht abschließend, da einige Publikationen im Zusammenhang mit dem Begriff „Kapitaleinkommen“ ausschließlich eine Auswahl der zu verbeitragenden Einkünfte benennen.
Tabelle 3: Potenziell relevante Einnahmen für die Ausweitung der beitragspflichtigen Einnahmen unter den Pflichtversicherten
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an die angegebenen Quellen
Die dritte Gruppe bilden beitragsfrei mitversicherte Familienangehörige gem. § 3 SGB V ab. Dazu zählen nach § 10 Abs. 1 SGB V Ehegatt:innen, Lebenspartner:innen, Kinder von Mitgliedern sowie Kinder von familienversicherten Kindern, die die Voraussetzungen nach §§ 10 Abs. 1 Nr. 1-5, Abs. 2 Nr. 1-4 SGB V erfüllen.
3.2 Darstellung der literaturbasierten Lösungen
Im Rahmen dieser Publikation wird die Thematik der Ausweitung der bpE vor dem Hintergrund des wachsenden Finanzdefizits der GKV aus dem allgemeinen Beitragssatz analysiert. Grundsätzlich könnte die Verbreiterung der Einnahmebasis der GKV eine Senkung des Zusatzbeitragssatzes für die Mitglieder bewirken. Diese Entlastungswirkung tritt allerdings aufgrund der Ausweitung der bpE nur begrenzt ein. Abbildung 1 stellt die relevanten Publikationen, deren Schätzungen der Beitragssatzreduktion, das Finanzvolumen der Mehreinnahmen für die GKV sowie die einbezogenen Einnahmen dar. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Datengrundlagen in Bezug auf das Jahr der Veröffentlichung veraltet sind. Die Mehreinnahmen in Absolutbeträgen werden ausschließlich in den Publikationen von Bork (2003), Breyer et al. (2001) sowie bei Steuernagel und Thum (2023) ausgewiesen. Mit Ausnahme von Pfaff, Langer, Mamberer, Pfaff, Freund und Holl (2006) und Steuernagel und Thum (2023) wird in sämtlichen Publikationen die erwartbare Reduktion in Beitragssatzpunkten angegeben. Dabei ergibt sich eine Spanne von 0,4 bis 0,9 BSP. Ausschließlich Pfaff et al. (2006) geben die prozentuale Beitragssatzreduktion an. Sie prognostizieren eine Senkung des Beitragssatzes um einen Wert zwischen 0,20% und 0,30%.
Vergleich der relevanten Charakteristika der Publikationen
Quelle: Eigene Darstellung
3.3 Analyse und Bewertung der Ergebnisse auf deren Vergleichbarkeit
Anschließend an die Vorstellung der literaturbasierten, potenziellen Beitragssatzsenkungen analysiert dieser Abschnitt die Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Diese wird insb. Abbildung 1 anhand der in ausgegebenen Charakteristika sowie weiterer Merkmale bewertet.
Datengrundlagen
Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) sowie die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) bilden die grundlegenden Datengrundlagen für die Berechnungen ab, da die unterschiedlichen Einnahmequellen differenziert ausgegeben werden. Die EVS wird alle fünf Jahre durch das Statistische Bundesamt in Abstimmung und Zusammenarbeit mit den Statistischen Landesämtern durchgeführt und gibt Auskunft über die Einkommens- und Vermögenssituation privater Haushalte (Statistisches Bundesamt, o. J.). Das SOEP hingegen ist die größte und längste laufende multidisziplinäre Langzeitstudie, die jährlich vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführt wird (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V., o. J.). Kritisiert wird bei den Daten des SOEP die fehlende Angabe über die zu zahlenden GKV-Beiträge (Winkelhake & John, 1999). Die Publikationen, deren Ergebnisse auf dem SOEP beruhen, beziehen sämtliche Einnahmen gem. § 2 EStG ein (Bork, 2003; Breyer et al., 2001; Pfaff et al., 2006; Rothgang et al., 2010; Steuernagel & Thum, 2023). Bei der EVS stimmen die berücksichtigten Einnahmen nicht exakt mit der Einkommensdefinition des EStG überein. Als Bemessungsgrundlage dient bei den Publikationen von Müller (2015), Pfaff et al. (2006) (1), Rothgang und Domhoff (2017) sowie Winkelhake und John (1999) die Systematik der Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte (SEA), welche konkret und differenziert definiert sind (Statistisches Bundesamt, 2013). Diese umfassen bspw. die Einnahmen aus Erwerbstätigkeit, unselbstständiger Arbeit, selbstständiger Arbeit, Transferzahlungen, Vermögen, Vermietung und Verpachtung sowie andere Einnahmen (Statistisches Bundesamt, 2013, 2021). Somit sind diese Einnahmenarten mit denjenigen des EStG (Tabelle 3) vergleichbar, implizit die Publikationen untereinander.
Die verwendeten Daten aus dem SOEP sowie der EVS unterscheiden sich in den Jahren der Veröffentlichung. Die ältesten Daten aus dem Jahr 1988 der EVS nutzten Winkelhake und John (1999), da die nachfolgende Erhebung der EVS aus dem Jahr 1993 noch nicht öffentlich vorlag. Bork (2003) verwendete die Daten der EVS aus dem Jahr 1993, da eine veränderte Erhebungsmethodik im Jahr 1998 nicht das Gesamteinkommen erfasste, sondern ausschließlich Daten für ein Vierteljahr vorlagen (Bork, 2003). Pfaff et al. (2006) nutzten die Veröffentlichung der EVS aus dem Jahr 1998 und schrieben diese auf das Jahr 2003 fort, die ebenfalls genutzten Daten des SOEPs lagen für das Jahr 2002 vor. Das DIW selbst verwendete die eigenen Daten des SOEPs 1999 (Breyer et al., 2001). Die Publikation der Autorenschaft um Rothgang griff auf die Daten des SOEPs aus dem Jahr 2007 zurück, da die Daten der EVS zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Verfügung standen. Ergänzende Berechnungen zum Arbeits- und Vermögenseinkommen wurden retrospektiv im Jahr 2008 für das Jahr 2007 erfragt (Rothgang et al., 2010). In der jüngeren Publikation der Autoren Rothgang und Domhoff (2017) wurden die Daten aus dem Jahr 2013 verwendet (Rothgang & Domhoff, 2017). Mit dem SOEP aus dem Jahr 2020 verwendeten Steuernagel und Thum (2023) die aktuellste Datengrundlage.
Beide Datenquellen (EVS, SOEP) bilden die Einnahmen auf Haushaltsebene ab. Der Vorteil des SOEPs besteht in der jährlichen Ausgabe der Ergebnisse sowie der Erfassung der Einnahmen gemäß dem Einkommensteuerrecht, wodurch eine einheitliche und eindeutige Erfassung möglich ist sowie Reliabilität und Vergleichbarkeit sichergestellt werden können. Nachteilig ist hingegen, dass das SOEP nicht öffentlich zugänglich ist. Demgegenüber werden die Ergebnisse der EVS durch das Statistische Bundesamt veröffentlicht. Die Benennung der Einnahmen der SEA (Statistisches Bundesamt, 2013) stellt aufgrund der umfangreichen und konkreten Definition der Einnahmen ebenfalls eine Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Publikationen sicher.
Pfaff et al. (2006) ergänzten die Daten um die Mitgliederstatistik (KM6) des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) für die Anzahl und die Differenzierung der Mitglieder und Versicherten (Bundesministerium für Gesundheit, 2006) sowie um die Risikostrukturausgleichsdaten. Rothgang et al. (2010) nutzten zudem die vorläufigen Rechnungsergebnisse (KV45-Statistik) des BMG aus dem Jahr 2008, in denen die Konten 2000, 2020, 2025 sowie die „Beiträge der versicherungsberechtigten Mitglieder“ einzeln ausgewiesen sind. Diese geben die bpE als Summe von Pflichtbeiträgen, Renten, Versorgungsbezügen und freiwilligen Beiträgen aus (Arnold & Rothgang, 2013). In den aktuellen KV45-Statistiken sowie den endgültigen Rechnungsergebnissen (KJ1-Statistiken) werden die Kontengruppen 20 bis 28 zu der Kontenunterart 2999 zusammengefasst, folglich ist keine Differenzierung nach spezifischen Einnahmen möglich (Bundesministerium für Gesundheit, 2024b).
Methodisches Vorgehen
Zur Quantifizierung der Mehreinnahmen bzw. des reduzierten Beitragssatzes werden entweder ein Mikrosimulationsmodell – bei Bork (2003), Breyer et al. (2001) sowie Winkelhake und John (1999) – oder Berechnungen mit bestimmten Schätzformeln herangezogen. Das Mikrosimulationsmodell basiert auf dem äquivalenzierten Nettohaushaltseinkommen (das Bruttoeinkommen abzüglich aller direkter Steuern und Sozialversicherungsabgaben, unabhängig von deren Freiwilligkeit) als Indikator für die allgemeine ökonomische Situation des Haushalts (Winkelhake & John, 1999) und setzt sich aus verschiedenen Berechnungsformeln zusammen, mithilfe derer die einzelnen Komponenten des Steuer- und Transfersystems quantifiziert wurden (diverse Steuern, wie Lohn- und Einkommensteuer, Umsatzsteuer sowie Transfers, wie Kinder- und Wohngeld) sowie der Fortschreibung und Anpassung der Hochrechnung der Variablen an die jeweiligen Jahre dienen (Bork, 2003). Makroökonomische Veränderungen, wie politische Entscheidungen, bleiben unberücksichtigt, die Bevölkerung oder deren Verhalten betreffende Anpassungen werden aber in dieses dynamische Modell einbezogen (Bork, 2003). Das Mikrosimulationsmodell zeichnet sich verglichen mit alternativen Vorgehensweisen durch ein hohes Maß an Detailliertheit aus. Dies ermöglicht eine umfassende Analyse der Verteilungswirkungen und die Nachvollziehbarkeit sowie Reproduzierbarkeit der Ergebnisse.
In mehreren Publikationen – Pfaff et al. (2006), Rothgang et al. (2010), Rothgang und Domhoff (2017) – wurden stattdessen Berechnungen unter Anwendung verschiedener Schätzformeln durchgeführt, um das zukünftige Beitragsaufkommen (entsprechend der Mehreinnahmen) mit den Einnahmen im Status quo auf Basis der bpE zu vergleichen. Ziel dieser Analysen war es, mögliche Reduktionen des Beitragssatzes abzuleiten.
Konkret errechneten Pfaff et al. (2006) den durchschnittlichen Beitragssatz für die GKV anhand einer Formel, die u. a. das Gesamtsachleistungsvolumen der GKV, reduziert um den „Bundesanteil“, sowie weitere Variablen, wie die Anzahl der Bezieher der jeweiligen Einkommensart (Mitglieder, Arbeitslosengeld-I- oder II-Empfangene, Rentner:innen) und deren Bruttoeinkommen einbezieht. Bei Rothgang et al. (2010) dienen die Schätzformeln der Konstruktion von Haushaltstypen mithilfe der SOEP-Daten, sodass die Wirkung auf den jeweiligen Typ sowie die Anzahl der unter den Haushaltstyp fallenden Haushalte geschätzt werden kann. Des Weiteren kann die Beitragsvarianz innerhalb der Einkommensklassen erfasst werden. Dagegen geben Rothgang und Domhoff (2017) ausschließlich die Formeln für die Gesamteinnahmen der GKV aus, welche sich aus den bpE (gesamt und pro Mitglied), dem geltenden Beitragssatz sowie dem Bundeszuschuss errechnen, wobei sie ebenfalls nach Statusgruppen (Beschäftigte, Rentner:innen, Arbeitslose und Selbstständige) differenzieren. Die übrigen oben dargestellten Publikationen – explizit Müller (2015) sowie Steuernagel und Thum (2023) – beschreiben das methodische Vorgehen nicht näher.
Geltende Beitragsbemessungsgrenze
Die Ergebnisse der Publikationen basieren auf unterschiedlichen BBG. Während Steuernagel und Thum (2023) sowie Winkelhake und John (1999) jeweils die zum jeweiligen Untersuchungszeitraum geltende BBG zugrunde legen, untersuchen Bork (2003), Breyer et al. (2001), Rothgang et al. (2010) sowie Rothgang und Domhoff (2017) zusätzlich die Effekte der Anhebung der BBG der GKV auf das Niveau der BBG der GRV. Bork (2003) weist ein zusätzliches Beitragseinkommen von 8,0 Mrd. Euro bzw. eine Reduzierung i. H. v. 1,3 BSP aus. Breyer et al. (2001) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis und prognostizieren zusätzliche Einnahmen durch die Anhebung der BBG i. H. v. 9 Mrd. Euro (≙ 0,5 BSP). Die Autorenschaft um Rothgang et al. (2010) errechnen Beitragssatzentlastungen von 0,9 BSP (Modell 1, Abbildung 1) bzw. 1,1 BSP (Modell 2, Abbildung 1). Die aktuellere Publikation von Rothgang und Domhoff (2017) geht von einer Entlastung von 1,55 BSP aus. Müller (2015) benennt die angewandte BBG nicht.
Rothgang et al. (2010) zeigen zwei Varianten auf, die derzeit geltende BBG sowie ein sogenanntes Zwei-Säulen-Modell. Hierbei werden die bisherigen bpE der einen Säule, jegliche andere Einkünfte der anderen zugeordnet. Die BBG wird dann auf jede Säule einzeln angewandt, sodass maximal das Doppelte der jeweils geltenden BBG verbeitragt werden würde. Dieses führt zu einer Reduktion des Beitragssatzes um 0,06 BSP.
Die Höhe des angewandten Beitragssatzes
Des Weiteren legen die untersuchten Publikationen den Berechnungen unterschiedliche Beitragssätze zugrunde. In der recherchierten Literatur wird weit überwiegend der volle Beitragssatz – derzeit i. H. v. 14,6% gem. § 241 SGB V – auf die jeweilig festgelegte Einnahmenbasis erhoben. Die Anwendung des vollen Beitragssatzes auf jegliche Einnahmequellen maximiert die Beitragsbelastung der Mitglieder, generiert allerdings ebenso die höchsten Mehreinnahmen für die GKV. Anwendung findet der zum jeweiligen Zeitpunkt gültige volle Beitragssatz bei Pfaff et al. (2006), Steuernagel und Thum (2023), Bork (2003), Rothgang und Domhoff (2017) sowie Winkelhake und John (1999). Die Höhe variiert entsprechend dem Veröffentlichungsjahr.
Bei Breyer et al. (2001) wird dagegen der ermäßigte Beitragssatz i. H. v. 12,57% in den alten Bundesländern bzw. 13,11% in den neuen Bundesländern erhoben. Für Einnahmen, auf die der ermäßigte Beitragssatz erhoben wird, entfällt der Anspruch auf Krankengeld.
Rothgang und Domhoff (2017) wenden einen alternativen Beitragssatz i. H. v. 13,85% an, der sich aus der Verrechnung der Summe der bpE, der Leistungsausgaben für die Versicherten sowie der geltenden BBG ergibt. Müller (2015) sowie Rothgang et al. (2010) nennen die Höhe des zugrundeliegenden Beitragssatzes nicht. Die angesetzten Beitragssätze für die zusätzlich zu verbeitragenden Kapitaleinkünfte werden vollständig durch die Arbeitnehmer:innen getragen, da die Arbeitgeber:innen keinen Einfluss auf die Kapitaleinkünfte der abhängig beschäftigten GKV-Mitglieder nehmen.
Berücksichtigung des Sparer-Pauschbetrags
Die Anwendung des im Einkommensteuerrecht geltenden Sparer-Pauschbetrags wird vereinzelt ebenfalls diskutiert. Der Sparer-Pauschbetrag i. H. v. derzeit 1.000 Euro gem. § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG gewährt die Steuerfreiheit jeglicher Kapitaleinkünfte bis zu diesem Betrag. Im SOEP wird dieser ebenfalls berücksichtigt. Folglich beziehen Pfaff et al. (2006), Rothgang und Domhoff (2017) sowie Steuernagel und Thum (2023) diesen ein.
Bewertung der Unterschiede
In Bezug auf die monetären Mehreinnahmen weisen die ausgewählten Publikationen erhebliche Unterschiede auf. Es werden Einsparungen zwischen 0,4 und 0,9 BSP prognostiziert. Pfaff et al. (2006) weisen den deutlich geringeren Effekt der Beitragssatzreduktion um 0,2% bis 0,3% aus.
Die maßgeblichen Gründe für die monetären Differenzen liegen zusammengefasst insb. in folgenden Aspekten:
Genutzte Datengrundlage: Als Datengrundlagen eignen sich die EVS und das SOEP, die Auskunft über die Einkommens- und Vermögenssituation privater Haushalte geben.
- EVS: fünfjährige Erhebung durch das Statistische Bundesamt in Abstimmung und Zusammenarbeit mit den Statistischen Landesämtern, Einkommensdefinition gem. SEA
- SOEP: jährliche, multidisziplinäre Langzeitstudie des DIW, Einkommensdefinition gem. EStG, fehlende Angabe über GKV-Beträge
Ergänzung um die KM6-, KV45- und KJ1-Statistiken des BMG. Die Datenjahre variieren zwischen 1988 und 2020 je nach Publikations- und Analysezeitraum.
Methodisches Vorgehen: Bei den ausgewählten Publikationen kann zwischen zwei methodischen Vorgehensweisen differenziert werden:
- Mikrosimulationsmodell: Berechnung der zusätzlichen Einnahmen für die GKV anhand des Nettoäquivalenzeinkommens der Haushalte, Berechnungsformeln zur Quantifizierung der einzelnen Komponenten des Steuer- und Transfersystems
- Schätzformeln: differente Formeln zur Berechnung des durchschnittlichen Beitragssatzes und der Beitragsvarianz je nach Einkommensklasse für die GKV sowie der Gesamteinnahmen für die GKV
Geltende BBG: Die Einnahmen für die GKV variieren entsprechend der Höhe der zugrunde liegenden BBG. In den Publikationen werden folgende Optionen aufgezeigt:
- Beibehaltung der derzeit geltenden BBG der GKV
- Anhebung auf das Niveau derjenigen der GRV
- Zusätzliche Variante eines Zwei-Säulen-Modells (einzelne Anwendung der BBG für die Säulen je nach Einkommensart)
Höhe des zugrunde gelegten Beitragssatzes: In den Publikationen erfolgt die Anwendung eines vollen oder ermäßigten Beitragssatzes auf die Kapitaleinnahmen. Die zusätzlichen Beiträge werden ausschließlich durch die Arbeitnehmer getragen (keine paritätische Finanzierung)
- Voll: Maximierung der Beitragsbelastung bei Mitgliedern, generiert höchste Mehreinnahmen für die GKV
- Ermäßigt: Begrenzung der Beitragslast der Mitglieder, kein Anspruch auf Krankengeld
Berücksichtigung des Sparer-Freibetrags: Dieser fungiert als ein Instrument im EStG, welches nach § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG die Steuerfreiheit jeglicher Kapitaleinkünfte bis zu diesem Betrag (derzeit 1.000 €) gewährt.
Aussagekraft der Ergebnisse für das Jahr 2025
Ausschließlich die Publikation von Steuernagel und Thum (2023) greift auf Daten zurück, die jünger als zehn Jahre sind. Allerdings ist ohne weitere umfangreiche Untersuchungen aktuell unklar, wie sich die verbeitragbaren Kapitaleinkünfte in dieser Zeit entwickelt haben. Eine erste Recherche liefert ein gemischtes Bild: Die Einnahmen aus Vermögen beliefen sich im Jahr 1998 auf 390 Euro monatlich pro Haushalt (11,82% des durchschnittlichen Haushaltsbruttoeinkommens), stiegen im Jahr 2003 auf 399 Euro, sanken aber 2008 auf 385 Euro. Im Jahr 2013 wuchsen sie auf 415 Euro an und steigerten sich im Jahr 2018 auf 458 Euro (9,45% des durchschnittlichen Haushaltsbruttoeinkommens) (Statistisches Bundesamt, 2020).
Daher gestaltet sich ein valider Rückschluss auf die aktuell erzielbaren, mit der Ausweitung der Bemessungsgrundlage einhergehenden Mehreinnahmen für die GKV als schwierig. Eine allgemeine Fortentwicklung der in Abbildung 1 ausgegebenen Finanzvolumina auf das Jahr 2025 ist aus den dargestellten Unterschieden in Datengrundlage, Methodik und Berücksichtigung von beitrags- und steuerrechtlichen Rahmenbedingungen zwischen den einzelnen Publikationen nicht sinnvoll. Die vom BMG ausgegebenen Faustformeln (Bundesministerium für Gesundheit, 2024c), die den einem Beitragssatz entsprechenden Milliardenbetrag ausgeben, bilden ausschließlich die Entwicklung der derzeitigen bpE ab und basieren auf der Entwicklung des Erwerbseinkommens. Demgegenüber ist für diesen Kontext aber vielmehr die Veränderung des Kapital- sowie Mieteinkommens der letzten Jahre relevant.
Für die eigenständige publikationsbezogene Fortentwicklung der in Abbildung 1 genannten Ergebnisse fehlt es mehrheitlich an einer detaillierten Darstellung der zugrundeliegenden Methodik. Daneben ist auch davon auszugehen, dass ältere Publikationen weder die letzten steuerrechtlichen Anpassungen für Kapitaleinkünfte (Einführung des gesonderten Steuertarifs für Einkünfte aus Kapitalvermögen nach Artikel 1 Nr. 22 Unternehmenssteuerreformgesetz seit dem 1. Januar 2009) berücksichtigen noch die vergangenen beitragsrechtlichen Anpassungen in der GKV (Einführung von kassenindividuellen Zusatzbeitragssätzen nach Artikel 1 Nr. 161 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz im Jahr 2007. Inwieweit daraus Anpassungen im methodischen Vorgehen resultieren müssen, ist für den Einzelfall kaum zu beurteilen. De facto ist davon auszugehen, dass für eine aktuelle Einschätzung des politischen Vorhabens einer Verbeitragung von Kapitaleinkünften in der aktuellen Literatur kaum valide Informationen vorliegen.
4. Fazit
Die Verbeitragung weiterer Einkünfte gem. dem EStG kann die GKV anteilig finanziell entlasten. In der Literatur – wie aus Abbildung 1 hervorgeht – werden potenzielle Beitragssatzsenkungen zwischen 0,4 und 0,9 BSP angenommen. In den recherchierten Publikationen lassen sich die EVS sowie das SOEP als geeignete Datengrundlagen insb. für die Abbildung der Kapital- und Mieteinnahmen identifizieren. Diese fungieren als Datengrundlage für die Höhe und Verteilung der zusätzlich zu verbeitragenden Einkünfte. Des Weiteren werden sie regelmäßig aktualisiert, weshalb die Ergebnisse fortentwickelt werden können. Allerdings zeigt der Vergleich der Publikationen ebenfalls diverse Unterschiede in den verwendeten Datenjahren, den zusätzlich zu verbeitragenden Einnahmen, dem methodischen Vorgehen sowie weiteren Aspekten (BBG, Beitragssatz etc.) auf. Daraus resultieren erhebliche monetäre Unterschiede in der Einschätzung der erzielbaren Mehreinnahmen (Abbildung 1). Die Ergebnisse sind folglich nicht vergleichbar, ihre Aussagekraft ist eingeschränkt.
Für die weitere politische Diskussion lässt sich bisher festhalten, dass die sozialversicherungsbezogene Verbeitragung von Kapitaleinkünften zwar grundsätzlich das Potenzial hat, weitere Beitragssatzsteigerungen in der GKV abzumildern oder sogar kurzfristig die Zusatzbeiträge zu senken. Der aktuelle Forschungsstand erlaubt aber keine fundierte Einschätzung der finanziellen Mittel, die über die Verbeitragung von Kapitaleinkünften aufgebracht werden könnten. Damit eine finanzielle Bewertung gelingen kann, braucht es eine deutlich konkretere Darlegung dessen, wie das Vorhaben genau aussehen sollte.
Definition der zu verbeitragenden Kapitaleinkünfte
So besteht mit Blick auf die Definition der zu verbeitragenden Kapitaleinkünfte die Möglichkeit, nur die in der Diskussion vorwiegend angeführten Einkünfte aus Kapitalvermögen, also den Einnahmen aus der Nutzung eines Geldkapitals nach §20 Abs. 1 EstG und den Leistungen aus Veräußerungsgeschäften und Termingeschäften nach § 20 Abs. 2 EStG, zu berücksichtigen oder darüber hinaus auch die übrigen Arten der Überschusseinkünfte wie die Einnahmen aus Vermietungen und Verpachtungen (21 EStG) und die sonstigen Einkünfte (§§ 22 und 23 EStG) einzubeziehen. Insbesondere der Einbezug von Einkünften aus Vermietungen und Verpachtungen würde die finanzielle Wirkung des Vorhabens deutlich erhöhen, hätte aber voraussichtlich auch deutliche Verteilungsimplikationen.
Umgang mit Freibeträgen, Beitragsbemessungsgrenze und Beitragssatz
In Abhängigkeit der berücksichtigen Einkunftsarten ist auch der Umgang mit der Berücksichtigung von Freibeträgen festzulegen. Die Literatur diskutiert insbesondere den Umgang mit den Sparerfreibetrag. Grundsätzlich wäre allerdings ebenso die Anwendung weiterer Freibeträge aus dem Einkommenssteuerrecht denkbar, etwa des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags oder des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende. Hier ist entscheidend, inwieweit der politische Wille besteht, Verteilungs- und Gerechtigkeitserwägungen des Einkommenssteuerrechts in das Beitragsrecht zu übernehmen. Hinsichtlich der Berücksichtigung der BBG ist neben der anzuwendenden Höhe der Beitragsbemessungsgrenze für die Kapitaleinkünfte selbst auch zu entscheiden, ob die Einkünfte aus nicht-selbstständiger Arbeit und die zu verbeitragenden Kapitaleinkünfte mit Blick auf die BBG gemeinsam oder separat zu berücksichtigenden sind. Insbesondere eine gesonderte Berücksichtigung der Kapitaleinkünfte mit Blick auf die BBG im Rahmen des sogenannten Zwei-Säulen-Modells würde die finanzielle Wirkung des Vorhabens deutlich erhöhen. Weiterhin müsste die Höhe des zugrunde gelegten Beitragssatzes für die zu verbeitragenden Kapitaleinkünfte festgelegt werden. Hier ist zu bedenken, dass die Beiträge auf Kapitaleinkünfte nicht paritätisch finanziert werden können, sondern die GKV-Mitglieder die volle Beitragslast tragen.
Erst nach der Justierung dieser konkreten Stellschrauben wäre eine konkrete Bestimmung der aus Kapitaleinkünften erzielbaren Beiträge auf einer aktuellen Datengrundlage und die Höhe der möglichen Entlastungen der Arbeitseinkommen der GKV-Mitglieder möglich. Daneben ist für die Bewertung der verteilungspolitischen Konsequenzen zu bedenken, dass hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Vorhabens auch konkrete Aussagen zum Umgang mit den über Kapitaleinkünfte aufgebrachten Beiträgen getroffen werden müssen. Die Verbeitragung von Kapitaleinkünften führt im Hinblick auf die angestrebte paritätische Finanzierung der GKV zu einer einseitigen Mehrbelastung der GKV-Mitglieder, insbesondere der abhängig Beschäftigten. Der Einsatz der dafür bereitgestellten zusätzlichen Mittel zur Minderung des paritätisch finanzierten (Zusatz-)Beitragssatzes bricht den Grundsatz der paritätischen Finanzierung an dieser Stelle deutlich auf, da die GKV-Mitglieder somit in Summe einen höheren Anteil der GKV-Finanzierung tragen als bisher, während die Arbeitgeberseite entlastet wird. Die innerhalb der GKV-Mitglieder zu erwartende Umverteilung der Beitragslast ist hingegen sehr stark von den oben skizzierten Stellschrauben abhängig und kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht konkret abgeschätzt werden. Bezüglich der volkswirtschaftlichen Produktionsfaktoren ist davon auszugehen, dass die Verbeitragung von Kapitaleinkünften der GKV-Mitglieder den Faktor Arbeit dann entlastet, wenn die aufgebrachten Mittel zur Dämpfung des (Zusatz-)Beitragssatzes genutzt werden. Die weitere konkrete volkswirtschaftliche Wirkung sollte allerdings auf Basis eines konkret quantifizierbaren Vorschlags diskutiert werden. Aktuell besteht also auch an dieser Stelle noch erheblicher Forschungsbedarf.
Zusammenfassung
Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übersteigen derzeit ihre Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Das Finanzdefizit im Jahr 2025 wird auf 46,69 Mrd. Euro geschätzt (GKV-Schätzerkreis, 2024), entsprechend 2,75 Beitragssatzpunkten (BSP), welches aus der Verrechnung der Summe mit der aktuellen Faustformel des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) i. H. v. 17,0 Mrd. Euro pro BSP folgt (Bundesministerium für Gesundheit, 2024b). Die von der Partei Bündnis 90/Die Grünen im Januar 2025 thematisierte Verbeitragung von Kapitaleinkünften wird aktuell kontrovers diskutiert. In der Literatur liegen seit Jahrzehnten Berechnungen zu den potenziellen Mehreinnahmen der GKV vor. Der Artikel weist die zu verbeitragenden Einkommensarten aus, welche im Einkommensteuergesetz (EStG) definiert sind (Einnahmen aus Kapitalvermögen nach § 20 EStG, aus Vermietung und Verpachtung nach § 21 EStG sowie aus weiteren Einnahmequellen nach §§ 22 ff. EStG). Die eingeschlossenen Publikationen benennen das Potenzial für eine Beitragssatzreduktionen i. H. v. 0,4 bis 0,9 BSP, sodass selbst das aktuell bestehende Finanzdefizit der GKV nur teilweise gedeckt wird. Die Differenz begründet sich auf den variierenden Datenquellen sowie Datenjahren, der Methodik, den verbeitragten Einkommensarten, dem berücksichtigten Sparer-Pauschbetrag des EStG, dem gewählten Beitragssatz (voller bzw. ermäßigter Beitragssatz) sowie der Höhe der Beitragsbemessungsgrenze (BBG). De facto sind die ausgegebenen Finanzwirkungen eingeschränkt vergleichbar. Zudem ist auf Basis dieser Ergebnisse keine Aussage über eine aktuelle Finanzwirkung im Jahr 2025 möglich.
Abkürzungsverzeichnis
BBG………………. Beitragsbemessungsgrenze
BMG ……………… Bundesministerium für Gesundheit
bpE ……………….. beitragspflichtige Einnahmen
BSP ………………. Beitragssatzpunkte
DIW ………………Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
EStG ………………Einkommensteuergesetz
EVS………………. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe
GKV……………… gesetzliche Krankenversicherung
GRV……………… gesetzliche Rentenversicherung
KJ1……………….. endgültige Rechnungsergebnisse der gesetzlichen Krankenversicherung
KM6……………… Mitgliederstatistik KM6
KV45…………….. vorläufige Rechnungsergebnisse der gesetzlichen Krankenversicherung
SEA………………. Systematik der Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte
SGB………………. Sozialgesetzbuch
SOEP…………….. Sozio-oekonomisches Panel
Literatur
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Lotte Wedekind
Junior Wissenschaftliche Mitarbeiterin am WIG2 Institut
Dipl.-Pol. Benjamin Berndt
Bereichsleiter Versicherungs- und Finanzierungssysteme am WIG2 Institut
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