Selbstbehalte als Mantra

Anmerkungen zu einer absurden Debatte zur GKV-Finanzierung

Hartmut Reiners

Seit Jahrzehnten wird stets, wenn die Krankenkassen ins Defizit abrutschen und Beitragsanhebungen drohen, von einigen Ökonomen und Publizisten die Unbezahlbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beschworen. Vor vierzig Jahren schwadronierte der Ökonom Walter Krämer von einer „Fortschrittsfalle der modernen Medizin“ und rechnete aus, dass im Jahre 2019 fast das gesamte Wertschöpfungspotenzial unserer Volkswirtschaft von den Gesundheitsausgaben aufgefressen werde, wenn deren Wachstum nicht durch drastische Kürzungen der GKV-Leistungen gestoppt werde.

 

Ähnliche, nun ja, Prognosen hat es seither regelmäßig gegeben, ohne dass sich deren düsteren Perspektiven auch nur ansatzweise bewahrheitet haben. Sie waren und sind auf Schlagzeilen zielender Unsinn, der mit unseriösen Zahlentricksereien unterfüttert wird. Klar, die Gesundheitsausgaben wachsen seit Jahrzehnten stärker als die Löhne und die Volkswirtschaft. Der durchschnittliche GKV-Beitragssatz lag Anfang der 1980er Jahre bei 8,2 % und ist heute fast doppelt so hoch. Aber das ist, wie noch gezeigt wird, ein normaler Vorgang, der zwar politischen Handlungsbedarf bringt, aber nicht wirklich dramatisch ist und schon gar nicht die GKV in Frage stellt.

 

Bernd Raffelhüschen: Kassandra als Geschäftsmodell

Bernd Raffelhüschen, Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Freiburg, hat die Erzählung vom unbezahlbaren Sozialstaat zum Geschäftsmodell entwickelt. Seit mehr als 20 Jahren verkündet er in Talkshows und zumeist von Wirtschaftsverbänden finanzierten Veranstaltungen als gut bezahlter Redner den Untergang der Sozialversicherung. Jetzt brachte er sich über die BILD-Zeitung, dem Fachorgan für Ereignisschöpfung, am 22. Februar 2023 mit der Forderung nach deutlich erhöhten Selbstbehalten bei der Inanspruchnahme von GKV- Leistungen ins Gespräch:

  • Die Versicherten sollen zunächst die Hälfte der Behandlungskosten selbst tragen, bei weiter anfallenden Ausgaben 20 Prozent. Dieser Selbstbehalt soll 500 Euro pro Behandlung und 2000 Euro pro Jahr nicht übersteigen. Geringverdiener sollen einen Zuschuss vom Staat erhalten.
  • Die Versicherten reichen die von Arztpraxen, Krankenhäusern und Apotheken gestellten Rechnungen zur Erstattung bei ihren Krankenkassen ein.
  • Außerdem soll gesundheitsschädliches Verhalten sanktioniert werden, indem etwa Raucher oder Übergewichtige höhere Beiträge zahlen. Folgekosten von Risikosportarten sollten komplett von den Versicherten getragen werden.

Derartige seit Jahrzehnten verbreitete Rezepte sind ein sicherer Indikator für die gesundheitsökonomische Ignoranz ihrer Protagonisten. Eine unter Gesundheitsökonomen international konsensfähige Faustregel besagt, dass 80 Prozent der Behandlungsausgaben auf 20 Prozent der Patientinnen und Patienten entfallen. Sie leiden unter schweren Krankheiten oder Verletzungen und können weder auf eine Behandlung verzichten, noch deren Art und Verlauf beeinflussen.

Kenneth Arrow, einer der bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, hat bereits vor 60 Jahren darauf hingewiesen, dass es im Gesundheitswesen keine Konsumentensouveränität gibt und damit eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren von Märkten fehlt. Das Gesundheitswesen ist, um es im Ökonomen-Jargon auszudrücken, ein angebotsinduzierter Wirtschaftszweig. Dort bestimmen die Versorgungsstrukturen und die Arbeitskultur der Institutionen und (ärztlichen) Berufe den Umfang der Leistungen. Auch deshalb ist die Steuerung der Gesundheitsausgaben über das Patientenverhalten ineffektiv.

 

Moral Hazard – eine Schimäre

Das in Lehrbüchern zur Gesundheitsökonomie nach wie vor breiten Raum einnehmende Moral-Hazard-Theorem, wonach soziale Krankenversicherungen und staatliche Versorgungssysteme zu einer medizinisch nicht begründbaren Leistungsausweitung führen, ist eigentlich schon als Hypothese untauglich. Damit wird unterstellt, dass ärztliche Behandlungen auch ohne medizinischen Grund erstrebenswert sind. Das kann man schon mit dem Hinweis auf unangenehme Zahnarztbesuche, zeitraubendes Herumsitzen in Wartezimmern, den herben Genuss von Schmerztherapien oder lange Wartezeiten auf Arzttermine als unrealistisch verwerfen.

Die aus dem Moral-Hazard-Theorem abgeleitete Favorisierung von Selbstbeteiligungen der Patientinnen und Patienten hat keine Substanz. Die vorhandenen Bestandsaufnahmen zu den Wirkungen dieses Instruments haben keinen positiven Effekt auf die Ausgaben für medizinische Behandlungen gezeigt.

Der damalige Leiter des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) Ulrich Geißler fasste diese Erkenntnis schon vor 40 Jahren so zusammen: Selbstbeteiligungen sind entweder hoch und ausgabenwirksam, haben aber unerwünschte soziale und gesundheitliche Effekte. Oder sie sind niedrig und sozialverträglich, haben dann aber keine Auswirkungen auf die Ausgaben. Sie haben, wie Herbert Reichelt, ehemaliger Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, nachwies, nur dann positive Steuerungseffekte, wenn die Versicherten eine Wahl zwischen zuzahlungsfreien Standardleistungen und Sonderleistungen mit den gleichen medizinischen Effekten haben. Das ist nur bei den Festbeträgen für Arzneimittel und Medizinprodukte der Fall.

Fast schon amüsant ist die in Dauerschleife vorgebrachte Forderung, Kassenpatienten sollten nach jeder Behandlung eine Rechnung über die erbrachten Leistungen erhalten. Mal abgesehen davon, dass diese Regelung in der GKV schon technisch am hohen Anteil von Grund- und Pauschalvergütungen der Arztpraxen scheitert, ist die Vorstellung, die Patientinnen und Patienten könnten das Controlling von Arztpraxen und Krankenhäusern übernehmen, absurd. Glauben die Verfechter dieser Forderung allen Ernstes, dass medizinische Laien die oft seitenlangen Auflistungen von Leistungen mit entsprechenden Gebührenordnungspositionen auf ihre Korrektheit prüfen können? Das kann selbst ich als ehemals für dieses Sachgebiet zuständiger Ministerialbeamter nicht von mir behaupten.

Genauso unsinnig ist die Sanktionierung von gesundheitsschädigendem Verhalten durch höhere Beiträge. Es ist ein beliebtes Stammtischmärchen, dass etwa Raucher oder starke Trinker die Krankenkassen mit den Folgekosten ihrer Laster übermäßig belasten. Sie schädigen sich selbst, aber nicht die Versichertengemeinschaft. Hoher Alkohol- und Nikotingenuss sind zweifelsohne sehr ungesund, auch wenn Pegeltrinker wie Winston Churchill oder Kettenraucher wie Helmut Schmidt ein hohes Alter erreicht haben. In der Regel reduziert ein gesundheitlich riskanter Lebensstil die Lebenserwartung, jedoch mit dem Effekt, dass die individuellen im gesamten Leben anfallenden Behandlungskosten eher sinken als steigen. Es gibt die empirisch gestützte Faustregel, dass mindestens zwei Drittel der im Laufe des Lebens anfallenden Krankheitskosten eines Menschen in den Jahren vor dem Tod anfallen und mit höherem Sterbealter sinken. Drastisch formuliert: Wer einen gesundheitlich riskanten Lebensstil pflegt, ist für die Krankenkassen auf die Dauer ein eher gutes Risiko, ganz zu schweigen von den Renten- und Lebensversicherungen.

 

Ursache der GKV-Defizite: inneffiziente Versorgungsstrukturen

Die Defizite der GKV haben ihre Wurzeln in den ineffektiven Versorgungsstrukturen unseres Gesundheitswesens sowie in unzureichenden Finanzierungsrundlagen und damit in politischen Versäumnissen. Wir leisten uns in der stationären Versorgung ein absurdes Nebeneinander von Mangel und Überfluss. In der ambulanten ärztlichen Versorgung verdienen sich Praxen mit vielen Privatabrechnungen dumm und dämlich, während andere Mühe haben, über die Runden zu kommen. Es wird ein „Pflegenotstand“ beklagt, der das Ergebnis einer unsinnigen Sparpolitik und von Versäumnissen in der Ausbildung von Pflegekräften ist. Das GKV-System hat eine unzureichende Finanzierungsgrundlage mit einer absurden Verzerrung des Solidaritätsprinzips. Dort führt die geltende Beitragsmessungsgrenze von knapp 5000 Euro dazu, dass freiwillig Versicherte mit einem darüber liegenden beitragspflichtigen Monatseinkommen mit steigendem Gehalt einen sinkenden Beitragssatz zahlen.

Diese Reformbaustellen erfordern einen langen Atem und eine hohe politische Geschlossenheit vom Bund und den Ländern und damit der Parteien. Aber auch wenn sie zielgerichtet angepackt werden, können sie nur dazu beitragen, das Wachstum der Gesundheitsausgaben in geordnete Bahnen zu lenken. Denn eines sollte klar sein: Die Ausgaben für die medizinische und pflegerische Versorgung werden auch bei einer effektiven Kostensteuerung stärker steigen als das Bruttoinlandsprodukt und die Löhne. Aber das ist kein Drama, sondern eine grundsätzlich lösbare Herausforderung.

Ärztliche und pflegerische Leistungen sind personenbezogene Dienste, die wegen ihrer gegenüber der Industrieproduktion geringeren Rationalisierbarkeit einen immer größeren Anteil des Arbeitskräftepotenzials und der Wertschöpfung moderner Volkswirtschaften beanspruchen. Für die Verbraucher drückt sich dieser Prozess in relativ zum Einkommen sinkenden Konsumgüterpreisen und steigenden Ausgaben für Dienstleistungen aus. US-Ökonomen William Baumol hat diesen Effekt anhand eines Vergleichs der Preisentwicklungen bei Computern und im Gesundheitswesen dargestellt.

Die wachsenden Gesundheitsausgaben bezeichnet er als „cost disease“. Dabei handelt es sich aber um keine Krankheit, also einen abnormen Zustand, sondern um die Folge von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die zugleich Chancen zur Bewältigung der sie begleitenden Arbeitsmarktprobleme bieten. Heute geben wir für Lebensmittel und andere industriell hergestellte Waren einen deutlich geringeren Anteil des Einkommens aus als vor dreißig oder vierzig Jahren, dafür kosten Dienstleistungen wie medizinische Behandlungen und pflegerische Betreuung mehr. Dadurch entstehen dort neue Arbeitsplätze mit hohem Wertschöpfungspotenzials. Solche makroökonomischen Struktureffekte blenden Leute wie Raffelhüschen aus, weil sie ihnen die Story von der unbezahlbaren Kranken- und Pflegeversicherung kaputtmachen.

 

Eitle Selbsteinschätzung eines Gesundheitsökonomen

Raffelhüschen preist sich auf seiner Webseite (www.berndraffelhuschen.de) als „Ass in puncto Sozial- und Steuerpolitik“ und „brillanten Volkswirtschaftler“ an. Diese eitle Selbsteinschätzung ist typisch für einen vor allem in der Medienwelt anzutreffenden Sozialcharakter, den der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt als „Bullshitter“ bezeichnet: „Der Bullshitter fälscht Dinge. Aber das heißt nicht, dass sie zwangsläufig falsch sind.“ Er pflegt die Kommunikationstechnik, mit selektiven Fakten die Realität ergebnisorientiert zurechtzubiegen.

Der von Raffelhüschen verbreitete Unsinn wäre nicht erwähnenswert, wenn er nicht in sich als seriös verstehenden Medien ein positives Echo hätte. Dorothea Siems, Chefökonomin der Welt, sieht darin nicht nur einen richtigen gesundheitspolitischen Reformansatz, sondern auch zusätzliche Einnahmen der GKV (Die Welt vom 24.02.2023). Das ist ein Schmarren, weil es sich bei den Selbstbehalten um eine Verschiebung der Ausgaben von den Krankenkassen zu den Privathaushalten handelt und damit das GKV-Budget verringert. In der FAZ (23.02.2023) fordert Autor Christian Gleinitz „große Würfe á la Raffelhüschen“, obwohl diese sich – siehe oben – längst als untauglich zur Steuerung der Ressourcen im Gesundheitswesen erwiesen haben.

Beide präsentieren sich als Scholastiker, die sozial- und gesundheitspolitische Reformen nicht an deren ökonomischer und sozialer Effektivität messen, sondern an der Kompatibilität mit der Doktrin der freien Marktwirtschaft. In katholischen Zwergschulen hat man solche Eigenschaften früher mit „Religion sehr gut, Kopfrechnen schwach“ benotet.


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