07.02.2025
Populäre Vorschläge – Hypothek künftiger Gesundheitspolitik?
Dr. Robert Paquet
Gesundheitspolitik wird in dieser Wahl eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Die Wahlprogramme mit ihren unfinanzierbaren und unrealistischen Versprechungen werden ohnehin nur von den Fachleuten gelesen. Lässt man sie beiseite und konzentriert sich auf die tagesaktuellen Vorschläge und die Entwicklungen der letzten Wochen, wird einem aber auch nicht besser.
Termingarantie und Beitragsbonus für die Nutzung der elektronischen Patientenakte sind die neuesten Hits. Die Entbudgetierung der Hausärzte, die als Lösung der Wartezeitenproblematik verkauft wird, und die Verbeitragung von Kapitaleinkünften zur finanziellen Sanierung der GKV sind schon seit Wochen im Gespräch. Da kann einem nur ganz schwindlig werden. Das Beängstigende dabei ist, dass solche Themen einen langen Schatten haben. Prominente Parteigrößen haben meist von der komplexen Gesundheitspolitik keine Ahnung. Trotzdem müssen ihre Versprechungen schließlich in Koalitionsverträgen platziert werden. Allein schon aus Gründen der Gesichtswahrung. Eine Rettung könnte sein, solche Vorschläge in Prüfaufträge zu verpacken. Das wäre schon ein kleiner Fortschritt der Vernunft.
Termingarantie und Beitragsbonus für die ePA
Die Bild vom 31.01.2025 hat es so schön gefasst: „Lauterbach gibt Blitz-Termingarantie beim Arzt“. Der Minister droht: Wenn sich die Wartezeiten nicht massiv verkürzen, „muss das Honorar der Kassenärztlichen Vereinigungen in diesem Bereich gekürzt werden“. Im SPD-Wahlprogramm steht es jedoch anders: „Um Wartezeiten zu verringern, werden wir eine Termingarantie der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen einführen. Gesetzlich Versicherte sollen genauso schnell wie Privatversicherte einen Termin erhalten. Bei Nichteinhaltung der Termingarantie sollen sie einen Anspruch auf Beitragsreduzierungen haben.“ Dass die Kassenärztlichen Vereinigungen ihren Sicherstellungsauftrag erfüllen müssen und dass diese Verpflichtung ggf. auch mit finanziellem Druck durchgesetzt werden soll, ist das eine und plausibel. Wie aber überlange Wartezeiten mit einer individuellen Beitragsreduzierung verknüpft werden sollen, ist völlig unerfindlich. Schon der Nachweis einer Benachteiligung bei der Terminvergabe dürfte für den einzelnen Versicherten sehr schwierig und aufwendig sein.
Wie und in welchem Umfang das auf den völlig anders organisierten Beitragseinzug wirken soll, kann niemand erklären. Ganz abgesehen davon, dass dem Versicherten, der ja ein medizinisches Problem hat, damit überhaupt nicht geholfen wird. Bei Schmerzen oder großen Sorgen landet er wahrscheinlich doch in der Notaufnahme.
Der andere prominente Vorschlag kommt von Friedrich Merz. In einem längeren Interview mit RND (1.2.) überlegt er[1], wie „wir den Menschen einen ökonomischen Anreiz geben, das Gesundheitssystem effizienter zu nutzen.“ Die Absicht ist vernünftig, mit seinem Beispiel betritt er jedoch dünnes Eis: Wenn Versicherte „Datenschutzbedenken zurückstellen und die Möglichkeiten der E-Patientenakte voll umfänglich nutzen“, könnten sie „zum Beispiel 10 Prozent niedrigere Krankenversicherungsbeiträge zahlen“. Der Vorschlag verrät Fachleuten schon auf den ersten Blick, dass Merz keine realistische Vorstellung von den finanziellen Proportionen im GKV-System hat. Ein Bonus dieser Größenordnung für die Nutzung eines eher technischen Tools wäre völlig unverhältnismäßig.
Der potentielle Nutzen der elektronischen Patientenakte kann sich nur allmählich entfalten und wird zwar langfristig eintreten, aber dann in seiner Wirkung nicht mehr quantifizierbar sein. „Gesundheitsdaten dürfen nicht verkauft werden“, kritisierte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach diese Idee nun auf der Plattform X.[2] Das hatte Merz zwar nicht gemeint; Lauterbach will ihn aber gerne missverstehen. Mit der gleichen Logik kann man zu der Idee im SPD-Wahlprogramm erklären: Dass es für nicht zustande gekommene Arzttermine einen Beitragsrabatt geben soll, ist genauso absurd.
Entbudgetierung der Hausärzte
Etwas komplexer liegt die Sache bei der Entbudgetierung der Hausärzte. Sie ist mit einer letzten Zusammenarbeit der (ehemaligen) Ampel-Partner bei der Verabschiedung eines Rumpf-Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) in Kraft getreten. Die drei Parteien haben sich mit dieser Aktion zwar eines wertvollen Wahlversprechens beraubt. So viel war es ihnen jedoch offensichtlich wert. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass ihnen in ihrer Torschlusspanik die finanzielle Stabilität der GKV völlig egal ist. Man fragt sich natürlich, warum dieses Wahlversprechen (von vor drei Jahren!) nicht schon früher umgesetzt wurde. Aber sei’s drum.
Jedenfalls ist das – als Begründung für die Dringlichkeit des Gesetzesvorhabens angeführte – Versprechen, dass dadurch die Wartezeiten der Versicherten auf einen Arzttermin reduziert würden, nicht nachvollziehbar. Wenn hier etwas wirkt, dürfte das der Übergang von der (seit langem nicht mehr zeitgemäßen) Quartalsabrechnung zu einer Jahrespauschale sein. Das hat aber mit der Aufhebung aller Budgetgrenzen nur wenig zu tun. Ob die Hausärzte jetzt tatsächlich mehr Termine für GKV-Patienten bereitstellen, ist eine reine Spekulation. Im GSVG ist dazu keinerlei Verknüpfung vorgesehen. Mehr Honorar (ohne mehr Verpflichtung) ist immer schön. Dass die Hausärzte aber die armen Schlucker des System sind, stimmt schon lange nicht mehr[3]. Trotzdem zehren sie nach wie vor von einem politischen Mitleidsbonus.
Verbeitragung von Kapitaleinkünften
Durch eine unvorbereitete und daher unvorsichtige Antwort von Robert Habeck ist die GKV-Finanzierung plötzlich für einige Tage an die Spitze der Wahlkampfthemen aufgerückt. Dahin also, wo sie nach Auffassung vieler Akteure im Gesundheitswesen und als Priorität weiter Bevölkerungskreise[4] auch hingehört. Habeck wollte in der Sendung „Bericht aus Berlin“ am Sonntag, den 12.01.2025 (18 Uhr)[5] der Frage ausweichen, ob die Grünen die PKV abschaffen wollen. Stattdessen antwortete er: „Wir wollen die Beitragsgrundlage erhöhen. Wir zahlen ja alle Sozialversicherungsbeiträge (für die Krankenversicherung) als Abgaben auf die Arbeitslöhne. Aber Kapitalerträge sind davon freigestellt. Warum soll eigentlich Einkommen durch Arbeit höher belastet sein, als Einkommen durch Kapitalerträge?“ Das leuchte ihm nicht ein. Daher wollten die Grünen auch diese Einkommen sozialversicherungspflichtig machen. Das würde zu einer Entlastung der Abgaben auf Arbeitseinkommen führen.
Habeck hat damit nur öffentlich ausgesprochen, was explizit im Wahlprogramm der Grünen steht, was mit dem Begriff der „Bürgerversicherung“ gemeint ist und was auch die SPD mit diesem Begriff meint. Offensichtlich hatte das bisher niemand so recht zur Kenntnis bzw. ernst genommen. Jedenfalls ist interessant, was auf die Äußerung von Habeck passiert ist: Als Reaktion auf die heftige Kritik (von FDP, PKV, CDU etc.) hat seine Partei bereits an nächsten Tag ein „offizielles Wording“ zum internen Gebrauch erstellt: „Selbstverständlich geht es nicht um den normalen Sparer, der für sich etwas zurückgelegt hat, oder privat fürs Alter vorsorgt. Diejenigen, die so viel Geld haben, dass das Geld für sie arbeitet, statt dass sie arbeiten gehen müssen, sollten allerdings beteiligt werden.“ Auch die Frage, ob der Vorschlag bereits ab 1.000 Euro Kapitalertrag gelte, wird als Modellrechnung der Bild-Zeitung zurückgewiesen: „Die Grüne Bundestagsfraktion hat keine präzise Höhe des Freibetrags festgelegt.“ Dann geht es um die Reihenfolge der Maßnahmen, die zur Bürgerversicherung führen sollen: „Uns Grünen geht es im ersten Schritt darum, dass auch Menschen, die privat versichert sind, an der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung beteiligt werden. Erst im zweiten Schritt geht es dann darum, alle Einkommensarten bei der Berechnung hinzuzuziehen. Und dann gibt es in unserem Konzept relevante Freibeträge für die private Altersvorsorge.“
Suche nach Zahlen
Klar ist natürlich, dass mit einer Beibehaltung der heutigen Beitragsbemessungsgrenze und großzügigen Freibeträgen der Habeck-Vorschlag ins Leere läuft. Damit er funktionieren könnte, müssten einige weitere Regelungen durchgesetzt werden. Die Umsetzung der Bürgerversicherung ist nicht so einfach, sondern ein recht komplexes Projekt, zu dem selbstverständlich auch die Zurückdrängung bzw. Abschaffung der PKV gehört. Das dürfte der Wirtschaftsminister zumindest geahnt haben.
Auch die SPD hat Robert Habeck wegen des Vorschlags zu Sozialabgaben auf Kapitalerträge scharf kritisiert. „Habecks völlig unausgegorener Vorschlag hat massive Verunsicherung ausgelöst, denn er kann nicht sagen, wie genau das umgesetzt werden sollte“, sagte SPD-Generalsekretär Matthias Miersch im Interview mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ (NOZ)[6]. „Das ist ein typischer Habeck und erinnert an das Debakel um das Heizungsgesetz…“
Die Verfechter der Bürgerversicherung sind somit sämtlich in die Defensive gegangen, bis hin zum faktischen Dementi. Man sieht daran, wie wichtig die Forderung nach einer Bürgerversicherung den Parteien tatsächlich (noch) ist. Auch der Tagesspiegel hat kritisch nachgestoßen: Am Tag vor dem Parteitag der Grünen wird die Kritik an Habecks Vorstoß aufgegriffen[7]. Die Forderung gebe „es bei den Grünen schon länger, dennoch musste die Partei einräumen, dass man kein konkretes Konzept hat. Auch auf mehrfache Nachfrage konnte Habeck keine Zahlen nennen.“ (Vor solchen Beckmessereien muss man eigentlich die Spitzenpolitiker in Schutz nehmen. Sie sind tatsächlich durch die Vielzahl der Themen, zu denen sie sich äußern sollen, überfordert. Die Journalisten wollen immer Zahlen hören, und glauben oft den größten Unsinn, wenn er nur mit einer oder zwei Nachkommastellen präsentiert wird.)
Dabei hat Habeck bereits zwei Tage nach dem „Bericht aus Berlin“ im „Pressedienst“ seiner Partei erläutert, wie es gemeint war[8]: Es sei eine „prinzipielle Frage“, „dass Einkommen und Vermögen, die Beträge erwirtschaften, teilhaben sollten an der solidarischen Finanzierung des Sozialsystems. … Wie wir es dann im Detail machen, das können wir uns dann später überlegen.“
Was ist das Resümee? Mit Habecks Vorstoß war die Gesundheitspolitik für kurze Zeit in die erste Reihe der Wahlkampfthemen aufgerückt. Sie wurde dann aber sehr schnell – ausgelöst durch die Mordtat in Aschaffenburg – wieder durch die innenpolitische Sicherheits- und Migrations- bzw. Asyl-Debatte verdrängt. Im Nachvollzug zeigt sich allerdings – das ist die ernüchternde Erkenntnis –, dass die Grünen und die SPD auf eine Finanzierungsreform der GKV nicht gut vorbereitet sind. Und das obwohl (oder vielleicht gerade weil) sie das Konzept der Bürgerversicherung seit Jahrzehnten im Programmgepäck haben.
Ihre Gegner scheinen da besser gerüstet zu sein. Zum Beispiel die PKV, das Institut der Deutschen Wirtschaft und die bayerischen Arbeitgeber haben die Finanzierungspläne von Grünen und SPD für die GKV und die Pflegeversicherung ins Visier genommen. In ihren Augen gefährden sie die deutsche Wirtschaft, die Arbeitsplätze und die Rückkehr zu mehr Wachstum. In einer Studie hat die vbw für ausgewählte Betriebe im Detail vorgerechnet, welche Auswirkungen die Pläne der beiden Parteien für höhere Lohnzusatzkosten hätten[9]. Wer nach Zahlen sucht, findet sie dort.
[1] https://www.rnd.de/politik/friedrich-merz-im-interview-drohen-der-union-waehler-der-mitte-zu-entglitten-WJYGSSTDW5A27LPONZHZ5E5U3I.html
[2] PKV-Morgenvisite am 05.02.2025: https://morgenvisite.pkv.de/mailing/221/8112387/0/1fa7ce7f9b/index.html
[3] DESTATIS: Einnahmen, Aufwendungen und Reinerträge je Praxis im Jahr 2022, https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Dienstleistungen/Tabellen/kost-01-kernmerkmale.html
[4] Das zeigen verschiedene Umfragen zur Wichtigkeit der GKV-und SPV-Finanzierung. Stellvertretend sei hier nur auf die SBK und die AOK verwiesen: https://www.sbk.org/presse/hoher-handlungsbedarf-bei-gesundheitsversorgung/ und https://www.aok.de/pp/bv/pm/meinungen-zur-gesundheitspolitik/
[5] https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1422076.html
[6] https://www.presseportal.de/pm/58964/5950919
[7] Felix Hackenbruch: „Vor dem Parteitag – Habecks Wahlkampf verliert an Schwung“, Tagesspiegel vom 25.01.2025.
[8] https://www.gruene-bundestag.de/presse/pm-januar-25/jahresauftaktsitzung-der-gruenen-bundestagsfraktion/
[9] Siehe Observer 4.0: Report zum Presse- und Fachgespräch (PKV-Verband und Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw)): „Wirtschaftsstandort Deutschland – Soziale Sicherung und internationale Wettbewerbsfähigkeit“ am 23.01.2025.
Lesen Sie vom Autor auch:
„Überlegungen zu den Wahlprogrammen 2025“, Observer Gesundheit, 14. Januar 2025.
_observer.jpg)
Alle Kommentare ansehen