15.02.2021
Plädoyer für die belegärztliche Versorgung
Ein Beitrag in der Reformdebatte um die sektorenübergreifende Versorgung
Dr. Andreas W. Schneider, 1. Vorsitzender Bundesverband der Belegärzte und Belegkrankenhäuser e. V. (BdB)
Die zunehmende Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, komplexere Krankheitsbilder im demographischem Wandel und die sich dabei abzeichnende Verknappung der Ressourcen in einer sich stetig weiterentwickelnden Medizin haben in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder zu Versuchen des Gesetzgebers geführt, dem zunehmend unkontrollierten Wachstum Einhalt zu gebieten. Als kostentreibend wurde dabei u.a. die Sektorengrenze mit der Vorhaltung der doppelten Facharztschiene identifiziert und der fehlende Anreiz, mehr ambulant, statt stationär zu therapieren. Belegarztersetzende Vertragsstrukturen erreichten jedoch dabei nie einen signifikanten Versorgungsanteil. Immer noch werden Belegärzte stiefmütterlich behandelt. Zu Unrecht.
Die Neuordnung der ärztlich-medizinischen Versorgung in Deutschland über die Schnittstelle ambulant-stationär hinweg wurde als eine entscheidende Herausforderung für die Gesundheitspolitik dieser Legislaturperiode benannt. Die Bundesregierung – wie im Koalitionsvertrag 2018 angekündigt – setzte eigens eine Bund-Länderkommission ein, die „die Zusammenarbeit und Vernetzung im Gesundheitswesen“ ausbauen und „zur Erreichung einer sektorenübergreifenden Versorgung“ – „nachhaltige Schritte“ entwickeln sollte. Pandemiebedingt allerdings konnten die sektorenübergreifende Versorgung nachhaltig nicht neu strukturiert werden (Staatsrat a.D. Dr. Gruhl, Observer 2020).
Vorurteile über Belegarztwesen überwiegen
In einem Punkt scheinen sich aber (fast) alle Player im Gesundheitssystem einig: Das Belegarztwesen – ein über Jahrzehnte bewährtes, im Ausland geschätztes, ressourcensparendes und integrierendes Versorgungsmodell, bei dem der Arzt seinen Patienten durch die Sektoren begleitet – soll auch künftig keine Rolle spielen.
Aber warum ist das so? Offenbar überwiegen die Vorurteile. Das Belegarztwesen wird von unkontrollierbaren Einzelkämpfern betrieben, heißt es beispielsweise. Diese Beurteilung übersieht völlig, dass auch für das Belegarztwesen die Kontrollmechanismen zur Diagnosefindung, Begründung für den stationären Aufenthalt, Liegedauerkontrolle, Schweregradkontrolle etc. greifen. „Einzelkämpfer“ sind heute überhaupt nicht mehr in der Lage, die Vielzahl an Hygienebestimmungen, Meldeprozeduren, Bescheinigungen, Begehungen von Gewerbeaufsicht und Gesundheitsamt, Herausforderungen der Telematik-infrastruktur und Digitalisierung etc. für das ambulante und/oder stationäre Patientenmanagement erfolgreich zu erfüllen. Längst sind die meisten Belegärzte in Berufsausübungsgemeinschaften oder Medizinischen Versorgungszentren organisiert (sog. kooperatives Belegarztwesen); eine einzelne Belegarztzulassung wird von der KV gar nicht mehr genehmigt.
Richtig ist jedoch, dass das patientenfreundliche und rechtssichere Versorgungssystem des Belegarztwesens durch das vermeintlich effektivere duale System mit der strikten Trennung der Sektoren an der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung verdrängt wird. Die Hauptursache liegt in „belegarztersetzenden“ Vertragskonstruktionen zwischen Krankenhaus und Vertragsarzt oder auch Belegarzt: Er weist seine Patienten ein und betreut diese dann als Honorararzt, Konsiliararzt oder in einem Anstellungsverhältnis im Auftrag der Klinik. Damit kann das Krankenhaus aus der so gewonnenen Hauptabteilungs-DRG bequem den Belegarzt direkt vergüten; eine Win-Win-Situation für beide Seiten, denn das so zu erreichende Salär liegt deutlich über der im EBM zugestandenen Vergütung für den Belegarzt sowie der Belebabteilungs-DRG.
Belegarzt behandelt nicht nur leichte Fälle
Kritiker werfen Belegärzten vor, dass sie Risikoselektion betreiben und nur leichtere Fälle behandeln. Diese Meinung kann vertreten, wer nur die derzeitige Differenz zwischen Hauptabteilungs- und Belegabteilungs-DRG von aktuell 38,4% (InEk 2020) sieht. Das Einweisungsspektrum einer B-Abteilung unterscheidet sich aber nicht wesentlich von der einer A-Abteilung, wie ein aktuelles Gutachten zeigt (IMVR- Gutachten Uni Köln Volkert & Scholten 12/2019). Wenn Nebenerkrankungen bei PatientInnen mit einer zunächst „einfachen“ Belegarzt-DRG aber den Krankheitsverlauf komplizieren (Sepsis, Beatmungspflicht, Infarkttherapie mit Lyse etc.) und eine Mitbetreuung/Übernahme etwa durch die Intensivabteilung oder eine andere Hauptabteilung erforderlich machen, wandert der Fall aufgrund neuer Hauptdiagnosen häufig in eine erlösstärkere Hauptabteilungs-DRG des Krankenhauses. Dieser Codier-Artefakt führt zu dem statistischen Eindruck, Belegärzte betreuen nur leichtere Fälle.
Belegärzte agieren nicht auf der aktuellen Höhe der Medizin – ein weiterer Kritikpunkt. Dieser Vorwurf ist besonders perfide, da das Belegarztwesen durch den Erlaubnisvorbehalt dramatisch ausgebremst wird; wie überhaupt der ambulante Bereich. Ohne Genehmigung vom G-BA geht nichts. Krankenhäuser unterliegen demgegenüber dem Verbotsvorbehalt und dürfen alle nicht ausdrücklich untersagten diagnostischen oder therapeutischen Verfahren anbieten.
Vorteil des Belegarztes ist es, dass er das Recht hat, seine Patienten nach vorangegangener ambulanter Diagnostik und ambulanter Aufklärung selbst einzuweisen: die Behandlung über die Sektorengrenze aus einer medizinischen Hand. Sollte dieses Vorgehen zu kritisieren sein, darf man auf die weit verbreitete Praxis vieler von Krankenhäusern betriebenen Notaufnahmen, Notfallpraxen sowie Medizinischen Versorgungszentren hinweisen, die Patienten zur stationären Versorgung regelhaft selbst einweisen. Viele Häuser rekrutieren mehr als 50 Prozent ihrer stationären Patienten auf diesem Wege (aktuelle Zahlen des ZI 2019).
Und auch die Notbetreuung der Patienten des Belegarztes im Krankenhaus ist garantiert. Vielerorts gewährleisten kooperative Belegarztstrukturen mit drei, vier oder mehr fachgleichen Belegärzten die Patientenversorgung rund um die Uhr und garantieren den Facharztstatus innerhalb von 30 Minuten am Patientenbett (gemäß den Forderungen des G-BA für ein gestuftes Konzept von Notfallstrukturen in Krankenhäusern (§ 136c Absatz 4 SGB V – G-BA Beschluss vom 19. April 2018). Nach Facharztschlüssel sind Belegabteilungen damit oft sogar besser aufgestellt als Hauptabteilungen.
Krankenkassen könnten Millionen Euro sparen
Der finanzielle Aufwand für die belegärztlich-stationäre Betreuung liegt zudem deutlich unter den Kosten der stationären Betreuung in Hauptabteilungen. Und selbst wenn man das Honorar der Belegärzte aus dem EBM dazu rechnet, ist diese Versorgungsform günstiger. Ein Vorteil, der von den Kostenträgern leider „vergessen“ wird. Bereits 2007 wurde durch den GKV-Spitzenverband ein finanzieller Vorteil bei Erhalt des Belegarztwesens in Deutschland von > 150 Millionen Euro jährlich attestiert. Bei entsprechend konsequenter Berücksichtigung dieses Vorteils und Förderung des Belegarztwesens hätten demnach die Kostenträger in den vergangenen Jahren viele Millionen Euro einsparen können.
Fazit
Zum Grundsatz „So viel ambulant wie möglich, so wenig stationär wie unbedingt nötig“ gehört zwingend eine Ergänzung: „Wenn schon stationär, dann mit kontinuierlicher Versorgung über die Sektorengrenze hinweg.“ Im günstigen Fall also kein Arztwechsel zwischen den Systemen, weniger unnötige Fragen, weniger lästige Doppeluntersuchungen sowie keinen Informationsverlust mehr durch einen mangelhaften Informationsaustausch. Genau das sind die Charakteristika der belegärztlichen Versorgungsstruktur. Und genau das ist es doch auch, was sich unisono alle für die intersektorale Versorgung wünschen.
Der Bundesverband der Belegärzte und Belegkrankenhäuser ist davon überzeugt, dass dieses idealtypische IV-Versorgungskonzept bei einer entsprechenden Unterstützung durch eine leistungsgerechte Vergütung einen belastbaren Beitrag bei der Überwindung der starren Sektorengrenzen spielen kann.
Literatur:
Belegärztliche Versorgung. Jürgen Wasem et al.; Universität Duisburg‐Essen 2019
Das Belegarztwesen im sektorenübergreifenden Wettbewerb; Anna Volkert & Dr. Nadine Scholten; Universität zu Köln 2019
Immer größere Differenz zwischen Klinik- und Vertragsarzt-Leistungen. Dominik von Stillfried; Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) 2018
Ökonomische Anreize belegärztlicher im Vergleich zu alternativen Versorgungsformen Ursula Hahn & Peter Mussinghoff; Thieme Verlag KG Stuttgart · New York 2017
Das deutsche Belegarztwesen; Katrin Imke Raible; Universität Erlangen/Nürnberg 2017
Wege zu einer effektiven und effizienten Zusammenarbeit in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland. Eckhard Nagel et al.; Universität Bayreuth 2017
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