17.01.2025
Pharma 2025 – Schnellschuss oder Selbstverwaltung?
Sebastian Hofmann, Redakteur Observer Datenbank, Observer Gesundheit
Olaf Scholz blamiert bei BioNTech, Karl Lauterbach im Sturm der Fiebersaftkrise – wenn Politiker unter Druck geraten, können Gesetze entstehen, die vorher undenkbar schienen. So war es auch in der vergangenen Legislaturperiode. Die Ampel kam der Industrie gleich zweimal bei den Preisen für Arzneimittel entgegen (MFG; ALBVVG). Ein Novum. Bisher hatte die Politik in Erstattungsfragen stets nur (Kosten-) Dämpfer im Köcher.
Nun könnte man meinen: Damit muss es jetzt genug sein. Dennoch lohnt sich der Blick auf die ungelösten Probleme bei Generika und Innovationen. Wer Schnellschüsse vermeiden will, muss rechtzeitig aktiv werden – bevor wieder ein Spitzenpolitiker unter Druck gerät.
Zwei Wendepunkte im Rückblick
Im Februar 2023 besuchte Olaf Scholz das deutsche Vorzeige-Unternehmen BioNTech, um den bahnbrechenden Erfolg bei der Entwicklung des Corona-Impfstoffes zu feiern. Der Besuch bekam jedoch eine peinliche Note: Kurz zuvor hatte BioNTech angekündigt, die Krebsforschung vollständig nach Großbritannien zu verlegen. Der deutsche Superstar suchte das Weite, weil man hierzulande nicht gut forschen kann. Was für eine Blamage für den deutschen Kanzler. In der Folge nahm das Bundeskanzleramt die vom Wirtschaftsminister angestoßene Pharma-Strategie selbst in die Hand. Der Dialog mit der Industrie mündete im Medizinforschungsgesetz (MFG), das neben regulatorischen Erleichterungen auch mehr Geld für in Deutschland erforschte Innovationen vorsieht. Karl Lauterbach musste die gerade erst beschlossenen „Leitplanken“ des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes (GKV-FinStG) teilweise zurücknehmen: Die pauschale Preissenkung entfällt, wenn die Forschung zu mind. 5 % in Deutschland durchgeführt wurde. Ein überraschender Änderungsantrag machte es möglich. Industrieförderung auf Kosten der GKV. Ein bislang undenkbarer Vorgang. Eine weitere Sparmaßnahme des GKV-FinStG wurde – entgegen aller Erwartungen – nicht verlängert: Die Erhöhung der Herstellerabschläge für patentgeschützte Arzneimittel blieb auf das Jahr 2023 beschränkt. Wirtschaftsminister Robert Habeck hatte dies im Mai 2023 bereits avisiert – auf einer öffentlichen Veranstaltung der Industrie. Auch das ein Novum.
Schon im Spätherbst 2022 war Karl Lauterbach selbst unter Druck geraten. Durch Deutschland zog eine Welle schwerer Atemwegserkrankungen. Betroffen waren vor allem Kinder. Die Arzneimittel zur Linderung der Beschwerden wurden knapp, allem voran die Säfte zur Fiebersenkung. Verzweifelte Eltern standen mit fiebernden Kindern in den Apotheken. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht. Lauterbach erklärte empört, die Kassen würden immer nur das Billigste zahlen, deshalb gingen die letzten Fiebersäfte nach Holland, dort gebe es bessere Preise. Man traute seinen Ohren nicht. In der GroKo hatte Lauterbach noch jede Änderung für Generika im Keim erstickt. Ein Konzeptpapier der SPD-Politikerin Martina Stamm-Fibich verschwand in der Versenkung. Jetzt also der Wendepunkt: Die Preise sollen rauf. Ein pikantes Detail: Kurz zuvor hatte der zuständige BMG-Abteilungsleiter auf einer Veranstaltung erklärt, man brauche noch gute Ideen, um die Resilienz der Arzneimittelversorgung zu stärken. Soll heißen: Wir haben kein Konzept. Trotzdem wurde nun in Windeseile ein Gesetz aus dem Boden gestampft: Das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). Es brachte Änderungen v.a. für Arzneimittel, deren „Darreichungsform“ (z.B. Saft) sich für Kinder eignet: Rabattverträge wurden hier verboten und die üblichen Preisobergrenzen um die Hälfte erhöht. Andere knappe Arzneimittel können über ein kompliziertes Regelwerk begünstigt werden. Bei Ausschreibungen müssen Bieter mit Wirkstoffherstellung in der EU gesondert berücksichtigt werden.
Beide Gesetze enthalten Maßnahmen, die wie aus der Hüfte geschossen wirken. Es ist noch zu früh, um deren Wirkung zu beurteilen. Die Ampel setzte auf Anreize für die Hersteller. Sowohl Forschung als auch die Produktion von Arzneimitteln brauchen jedoch lange Vorlaufzeiten und hohe Investitionen. Ob die Industrie auf diese Anreize mit Investitionen in Deutschland reagiert, dürfte sich frühestens in einigen Jahren zeigen (die von der Ampel gefeierten Großinvestitionen der forschenden Industrie v.a. in neue Produktionsanlagen für hochpreisige Innovationen sind zwar höchst erfreulich, sichern jedoch nicht, dass die klinische Forschung zukünftig in Deutschland stattfindet). Interessant ist die Genese der Gesetze; Arzneimittelpolitik ist nicht mehr berechenbar. Hoher Druck erzeugt Gesetze, die Schnellschüsse parat haben können. Daher lohnt sich der Blick auf Probleme, die dynamischen Gestaltungswillen entfachen könnten. Dabei fallen zwei Entwicklungen ins Auge:
- Die Resilienz der Generika-Versorgung ist unbefriedigend. Die Maßnahmen des ALBVVG greifen erst, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Gemeinsame Vorsorge tut Not. Eine Stilblüte der EU sorgt für milliardenschweren Handlungsdruck.
- Die Reputation der Nutzenbewertung gerät zunehmend in Gefahr. Gerade spektakuläre Fortschritte in der Therapie werden methodisch behandelt wie Stiefkinder. Die Bewertung wird unglaubwürdig. Die guten Sitten sollten an die neuen Verhältnisse angepasst werden.
Resilienz der Generika-Versorgung – ein Problem von gestern?
Engpässe bei Arzneimitteln sind seit über zehn Jahren ein politisches Thema. Die Ursachen sind so bunt wie das Leben: Die weltweite Nachfrage nach einem Wirkstoff steigt sprunghaft, der einzige Hersteller eines Wirkstoffes in China hat einen Wasserschaden, ein Tanker blockiert den Suez-Kanal, usw. Es gibt nicht den einen „Schuldigen“, den man gesetzlich zur Lösung zwingen könnte. Durch den weltweiten Preisdruck auf Generika hat sich die Produktion auf wenige sehr leistungsstarke Anbieter konzentriert. Fällt einer der Anbieter aus, kann niemand einspringen. Das wird auch so bleiben.
Den stärksten Preisdruck in Deutschland üben Ausschreibungen der Krankenkassen (Rabattverträge) aus. Bei Exklusiv-Ausschreibungen gewinnt der billigste Bieter, alle anderen sind für zwei Jahre raus. Die Politik geriet schon vor Jahren unter Druck und flüchtete sich hinter ein Feigenblatt. Das Problem wurde den Krankenkassen übergeholfen mit einer gesetzlichen Vorgabe zu Rabattverträgen: „In den Vereinbarungen (…) sind die Vielfalt der Anbieter und die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Versorgung der Versicherten zu berücksichtigen“ (§ 130a SGB V Abs. 8). Das klingt wunderschön, ist aber nicht praxistauglich. Die Krankenkassen bräuchten hierzu belastbare Kriterien an die Hand. Schließlich müssen ihre Vergaben einer wettbewerbsrechtlichen Überprüfung standhalten.
Daher fordert die Industrie ein Verbot von Exklusiv-Vergaben (Zuschlag an nur einen Bieter). Stattdessen sollen bei Ausschreibungen immer mehrere Anbieter zum Zuge kommen. Die Logik: mehr Anbieter, mehr Versorgungssicherheit. Die Strahlkraft dieser Forderung ist jedoch leicht getrübt: Unternehmen, auch der Pharma-Industrie, fordern stets verlässliche und berechenbare Bedingungen. Nichts ist so verlässlich und berechenbar, wie ein Exklusivvertrag; Menge und Produktion lassen sich gut planen (bei mehreren Anbietern entscheidet sich erst am Apothekentresen, wer wieviel der Gesamtmenge liefern darf und muss). Überzeugender wirkt da die Forderung, Ausschreibungen nur mit Zuschlägen zu versehen, wenn eine Mindestzahl an Geboten vorliegt. Damit ließe sich zumindest eine weitere Konzentration des Angebotes bremsen. Ob und wie solche Änderungen an den Rahmenbedingungen für beide Seiten praktikabel sind, müsste aber gemeinsam diskutiert werden.
„Gemeinsam“ ist hier der Schlüssel zum Erfolg. Bisher ist niemand zuständig für die Resilienz der Arzneimittelversorgung. Es gibt keinen Sicherstellungsauftrag. Der Industrie fehlt hierfür eine öffentlich-rechtliche Struktur, wie sie KVen (ambulant) und Landkreise (stationär) haben. Ersatz schaffen könnte eine Rahmenvereinbarung zwischen den Herstellerverbänden und der GKV, nennen wir sie „Resilienz-Vereinbarung“. Mit einem Auftrag des Gesetzgebers könnten die Verbände sich auf konkrete Vorgaben für Rabattverträge aller Art einigen; ein Schiedsamt verhindert Blockaden. Nach über zehn Jahren fruchtloser Debatte wäre damit ein Format geschaffen, in dem sich beide Seiten mit praxistauglichen Lösungen beschäftigen müssen. Das Ziel: Eine resiliente Versorgung mit Generika auf der Basis wettbewerbsrechtlich belastbarer Kriterien – anstelle des bisherigen Feigenblattes.
Vorsorge im besten Sinne, mit der man in regelmäßigen Runden auch neue Probleme angehen könnte – so wie zum Beispiel die neueste Schnapsidee der EU: Die Pharma-Industrie (und damit auch die GKV) soll für Arzneimittelrückstände im Abwasser bezahlen. Es fehlt eine Milliarde EUR pro Jahr.
Abwasser der Patienten – schwarzer Peter für die GKV?
Auf die GKV kommen Milliardenkosten zu, was in der politischen Debatte bisher nur am Rande vorkommt. Der Grund ist an sich recht erfreulich: Arzneimittel setzen ihren Wirkstoff direkt im Körper frei, was dort zu einer erwünschten Wirkung führt, und anschließend scheidet der Körper den Wirkstoff wieder aus – per Urin ins Abwasser. Dort allerdings entsteht ein Problem: Viele Wirkstoffe können in Kläranlagen mit drei Stufen nicht vollständig aus dem Wasser entfernt werden. Das gilt für viele Stoffe, aber eben auch für Arzneimittelwirkstoffe. Lösung bietet eine vierte Stufe zum Klären des Abwassers, was hohe Investitions- und Betriebskosten in den Kommunen verursachen wird.
Auf EU-Ebene kam daher die Idee auf, für die Kosten müsse ein Schuldiger verantwortlich gemacht werden (Verursacherprinzip). Dafür hat man sich nun die Hersteller von Arzneimitteln und Kosmetik ausgeguckt. Seit kurzem ist geltendes Recht: In zwei Jahren müssen 80 % der Kosten für (viele) vierte Klärstufen dauerhaft von der Pharma- und Kosmetik-Industrie getragen werden. Das geht in die Milliarden. Für Deutschland sind Kosten von 1 bis 2 Mrd. EUR im Gespräch; pro Jahr. Das Problem wird der GKV auf die Füße fallen, denn: Die Preise in Rabattverträgen sind durch den extremen Preiswettbewerb der Ausschreibungen so niedrig, dass die Hersteller aus den daraus erzielten Erträgen auf keinen Fall deutsche Kläranlagen finanzieren können. Über 70 % der Generika-Packungen gehen unter einem Euro ab Werk; da ist zur Finanzierung kommunaler Aufgaben nichts zu holen. Die Rabatte der Hersteller an die Krankenkassen müssen daher um die Kosten der vierten Klärstufe bereinigt werden. Das verdeutlicht schon der Blick auf die Dimension: Die GKV zahlt für die Versorgung mit Generika 2,4 Mrd. EUR pro Jahr. Muss die Industrie nun 1 Mrd. EUR pro Jahr für neue Kläranlagen abführen, sind alle bisherigen Vergütungen Makulatur – Rabattverträge eingeschlossen. Das geht betriebswirtschaftlich nicht, und ohne Generika geht es auch nicht. Im Ergebnis wird die GKV für die Klärung des Abwassers zahlen müssen – mit höheren Preisen für Generika.
Zuvor steht allerdings noch viel Arbeit ins Haus: Die Kosten (aus vielen Kommunen) müssen erhoben und geprüft werden, die Aquatoxizität (von 1.000 Wirkstoffen) muss ermittelt und gemessen werden, und dann muss (Mathe für Fortgeschrittene) festgelegt werden, wie die Kosten anhand von Toxizität und Menge (rechtssicher) auf die einzelnen Hersteller von Arzneimitteln und Kosmetik verteilt werden. Da wird begutachtet, gemessen und gerechnet, was das Zeug hält. Schilda wurde schließlich nicht an einem Tag erbaut!
Damit wenigstens die Versorgung vor diesem Chaos verschont bleibt, müssen GKV und Herstellerverbände gemeinsam eine Lösung für Generika suchen. Auf die Politik sollte sich hier niemand verlassen. Dem Vernehmen nach haben mehrere Bundesministerien auf den frühen Alarmruf der Industrie erklärt, man wolle dieses EU-Vorhaben nicht aufhalten. Eine solche Augen-zu-und-durch-Haltung lässt nichts Gutes erahnen für die Umsetzung in nationales Recht. Die Verbände von GKV und Industrie wären daher gut beraten, sich selbst des Problems anzunehmen – soweit es die Vergütungen betrifft. Bei externen Unglücken, wie EU-Verordnungen, sitzen Industrie und GKV in einem Boot. Auch das spricht für eine Resilienz-Vereinbarung – am besten im Auftrag des Gesetzgebers.
Nutzenbewertung im G-BA: Unsinn darf sich nicht etablieren
Nicht nur der triste Alltag der Generika-Versorgung bietet Anlass zur Sorge. Auch spektakuläre Fortschritte in der Therapie werden teilweise behandelt wie Stiefkinder. Um dies zu erkennen, muss man den Blick in die lichte Höhe der Nutzenbewertung wenden. Ehrenwerte Methoden sind nicht davor gefeit, gefährlichen Unsinn zu produzieren. Der Weg zu dieser Erkenntnis ist allerdings weit:
Seit 2011 müssen Hersteller neuer Wirkstoffe mit klinischen Studien beweisen, dass der Wirkstoff besser ist, als der vom G-BA gesetzte Therapie-Standard in Deutschland (Beleg des Zusatznutzens). Ob dem so ist, entscheidet der G-BA in seiner „frühen Nutzenbewertung“ nach der Zulassung. Das Ergebnis der Bewertung ist die Basis für die Preisverhandlungen mit der GKV. Das Prinzip: Wer besser ist, kriegt mehr. Die strahlende Ur-Logik der Nutzenbewertung wurde zwar durch grobe Sparvorgaben im GKV-FinStG („Leitplanken“) erheblich beschädigt. Jetzt gilt: Wer deutlich besser ist, kriegt mehr – dies wiederum mit Ausnahmen (s.o. nach MFG). Die relative Bedeutung des Zusatznutzens ist aber unverändert: Das Label des Zusatznutzens weist den Weg für die Höhe des Preises. Zusätzlich soll mit dem Nutzen-Label des G-BA den behandelnden Ärzten eine Information über den medizinischen Wert neuer Therapien an die Hand gegeben werden.
Es geht also nicht nur ums Geld, sondern auch um das Wohl der Patienten. Ein Grund, höchste Anforderungen an die Qualität des Verfahrens zu stellen. Hier lohnt sich ein kritischer Blick auf die Aussagekraft der Bewertungen im G-BA. Fragwürdig ist in jedem Fall eine Erkenntnis: Der G-BA lässt neue Wirkstoffe durchfallen, wenn die Therapie-Entscheidungen der Patienten (!) nicht in sein methodisches Weltbild passen. Was soll das heißen?
Cross-over – Vergleichen ist gut, Überleben ist besser
In klinischen Studien wird den Patienten („Probanden“) zugemutet, sich im Blindflug therapieren zu lassen. Um den Placebo-Effekt auszuschließen, dürfen die Patienten nicht wissen, ob sie den neuen Wirkstoff erhalten, oder „nur“ die Vergleichstherapie. Die Ethik setzt diesem Prinzip jedoch Grenzen. Damit den Patienten ihr Unwissen nicht zum Schaden gereicht, gilt: Sobald der neue Wirkstoff einen außerordentlichen Vorteil (z.B. beim Überleben) zeigt, müssen sie darüber informiert werden. Wer will, darf dann zur neuen Therapie wechseln („Cross-over“). Die Logik: Man kann die Probanden in der Vergleichsgruppe nicht unwissentlich sterben lassen, nur um einen sauberen Vergleich mit dem neuen Wirkstoff zu erhalten. Die Folge: Entscheiden sich viele Probanden aus der Vergleichsgruppe, zum neuen Wirkstoff zu wechseln, ist ein aussagekräftiger Vergleich – mangels Masse – kaum noch möglich. Das Problem: Der Vergleich ist die heilige Kuh der frühen Nutzenbewertung. Das wird nun ausgerechnet für große Fortschritte in der Medizin zum methodischen Verhängnis.
Das Problem hat inzwischen auch die Spruchpraxis des G-BA erreicht. Im November 2024 verweigerte das Plenum des G-BA einem neuen Wirkstoff (gegen die genetisch bedingte Zerstörung roter Blutkörperchen) ein qualifiziertes Nutzen-Label. Die Begründung: Für chronische Erkrankungen, wie einen Gendefekt, fordert der G-BA einen Vergleich über mind. 24 Wochen. Ein Cross-over war hier aber bereits nach vier Wochen möglich, und die Patienten entschieden sich im Schnitt (Median) nach knapp elf Wochen, zum neuen Wirkstoff zu wechseln. Den Patienten war die Methodenwelt des G-BA egal, das Nachsehen hat der Hersteller – und die behandelnden Ärzte, denen ein verzerrtes Nutzen-Label mitgeteilt wird. Wer hier noch zum Abwiegeln tendiert, dem sei ein weiterer Aspekt für methodische Feinschmecker erläutert:
In klinischen Studien gilt das Prinzip „Intend to treat“, das vorgibt: Alle Probanden werden in ihrer Gruppe gezählt, egal was passiert. Damit will man verhindern, dass ein neuer Wirkstoff zu gut dasteht. Ein Beispiel: Wenn ein neuer Wirkstoff starke Nebenwirkungen verursacht und damit Patienten zum Therapie-Abbruch treibt, würde er zu gut dastehen, wenn diese Patienten nicht mehr gezählt würden. Die Therapie-Abbrecher werden also bei der Endauswertung berücksichtigt und relativieren so den Vorteil des neuen Wirkstoffes. Das ist auch gut so. Gleiches gilt aber auch für alle Patienten, die vom Cross-over Gebrauch machen und die Therapie wechseln. Das heißt: Der Vorteil des neuen Wirkstoffes wird (für die Wechsler) der alten Therapie zugerechnet, weil die Wechsler in ihrer ursprünglichen Gruppe gezählt werden. Die alte Vergleichstherapie feiert damit statistisch Erfolge, die ihr gar nicht zustehen. Das ist nicht gut so. Der Vergleich wird so ad absurdum geführt, das Ergebnis ist schlicht Unsinn. Das Nachsehen haben wiederum der Hersteller und die behandelnden Ärzte.
Man stelle sich nun vor, dieses Problem würde anhand eines drastischen Beispiels einem semi-kompetenten Politiker voller Gestaltungsdrang geschildert. Die wahrscheinliche Reaktion: Damit muss Schluss sein! Das heißt: Es steht nichts weniger auf dem Spiel, als die Reputation der frühen Nutzenbewertung. Das sollte beunruhigen. Der G-BA kann das methodische Problem der Studien zwar nicht lösen. Sein Einfluss auf internationale Prinzipien der Forschung dürfte eher begrenzt sein. Er könnte aber seine eigene Methodik für die Bewertung ergänzen um eine Möglichkeit, von den starren Vorgaben abzuweichen. Besondere Fälle, wie ein spektakulärer Fortschritt in der Therapie, erfordern einen besonderen Fokus. Patienten, die überleben wollen, müssen mit der Methodenwelt des G-BA vereinbar sein. Dabei muss die heilige Kuh der Nutzenbewertung, der Vergleich, nicht gleich geschlachtet werden. Man kann auch anders vergleichen, soll heißen: aus der Vergangenheit lernen.
Historisch oder sauber
Hierzu muss man sich nochmal mit der Methodik befassen. Der Goldstandard für einen methodisch sauberen Vergleich ist der direkte (zeitgleiche) Vergleich mit
- zufälliger und geheimer Zuordnung der Probanden (zu Innovation oder Standard) und
- Therapie zur gleichen Zeit unter gleichen Bedingungen.
Wenn eine solche Studie aus bestimmten Gründen nicht möglich ist, oder nicht zu verwertbaren Aussagen führt, dann bleibt noch eine Möglichkeit: der historische Vergleich. Hier verzichtet man auf eine (gleichzeitige) Vergleichsgruppe. Stattdessen erhebt man in der Studie nur den Erfolg der neuen Therapie, und vergleicht diese mit Ergebnissen vor deren Einführung. Das geht mit Daten aus guten Datensammlungen über Therapie-Erfolge in der Praxis (genannt Krankheitsregister). Solche Register sind leider Mangelware. Es gibt massenweise Daten, die wenigsten sind aber so strukturiert erfasst, dass man sie für saubere Vergleich auf hohem methodischem Niveau verwenden könnte. Was also tun? Das BMG bereitet seit langer Zeit ein Gesetz vor, mit dem Anforderungen (evtl. auch Aufträge) für Krankheitsregister gesetzlich vorgeben werden sollen. Das ist notwendig, denn: Erst wenn es eine Infrastruktur für hochwertige (historische) Daten gibt, werden Vergleiche jenseits des Goldstandards (direkter Vergleich) eine praxistaugliche Option in der Nutzenbewertung.
Nun ist das lange geplante Registergesetz dem Ampel-Aus zum Opfer gefallen. Besondere Aufmerksamkeit genoss es noch nie. Karl Lauterbach erwähnt es nicht einmal mehr in seinem Brief an die SPD-Fraktion, mit dem er seine Pläne für die halbfertigen Gesetzentwürfe des BMG in der nächsten Legislatur erläutert. Ein Gesetz, das auf den ersten Blick langweilig und bürokratisch klingt, braucht eben Fürsprecher. G-BA, GKV und Industrie könnten sich nun in einem gemeinsamen Brief an die zukünftigen Koalitionspartner wenden und um Aufnahme des Registergesetzes in den Koalitionsvertrag bitten. Daran hätten alle Interesse. Die Verantwortlichen müssten nur gemeinsam aus dem Knick kommen. Dann wird der Brief gelesen. Koalitionsverträge schreiben sich nicht von selbst.
Fazit
Arzneimittelpolitik ist ein komplexes Unterfangen. Hier wurden zwei Probleme erläutert, die eine ausführliche Betrachtung verdienen: Die Resilienz der Generika-Versorgung ist in Gefahr. Und: Die Nutzenbewertung neuer Wirkstoffe ist vor Unsinn nicht gefeit. Daraus ergeben sich Aufgaben, die in der kommenden Wahlperiode angegangen werden sollten. Der Vorschlag:
- GKV-Spitzenverband und die Herstellerverbände schließen eine Resilienz-Vereinbarung zur Sicherung der Versorgung mit Generika – im Auftrag des Gesetzgebers.
- Der G-BA modifiziert seine Methoden zur Nutzenbewertung neuer Wirkstoffe, damit die Entscheidungen der Patienten kein Störfaktor mehr sind.
- GKV, G-BA und Industrie mischen sich gemeinsam in die Koalitionsverhandlungen ein und fordern die zügige Umsetzung des halbfertigen Registergesetzes.
Diese Maßnahmen erfordern die Zusammenarbeit von Verbänden mit unterschiedlichen Interessen. Dafür gibt es im deutschen Gesundheitswesen einen wunderbaren Begriff: Selbstverwaltung. Diese scheint mehr denn je gefordert – auch in der Arzneimittel-Politik.
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