Pflegefinanzierung: Vom Charme des „Sockel-Spitze-Tauschs“

Was es dabei auch in Zeiten der Corona-Krise zu beachten gilt

Dr. Robert Paquet

Pflegekräfte sind knapp. Das verdeutlicht die Corona-Krise noch einmal drastisch. Das Personalproblem beherrscht die Krankenhäuser und die Pflegeheime. Daher sind Organisation und Finanzierung der Pflege Themen, die neben und in Folge von Corona aktuell bleiben. [1]

So werden derzeit aus guten Gründen Verbesserungen bei der Zahl und den Einkommen der Pflegekräfte angestrebt. Das wird voraussichtlich die Kosten, insbesondere in der stationären Pflege nach oben treiben. Bei gleichbleibenden Leistungssätzen der Pflegeversicherung wird das zu einem Anstieg der „Eigenanteile“ führen, die die Pflegebedürftigen für ihre Versorgung zahlen müssen. Befürchtet wird, dass dadurch auch die Hilfe zur Pflege (Sozialhilfe) wieder häufiger in Anspruch genommen werden muss. Vor diesem Hintergrund ist der Charakter der Pflegeversicherung als Teilleistungssystem in die Kritik geraten. Als Lösung des Problems wird der sog. „Sockel-Spitze-Tausch“ vorgeschlagen, bei dem der Eigenanteil auf fixe Beträge begrenzt wird und die Pflegeversicherung das gesamte darüberhinausgehende Kostenrisiko tragen soll. SPD und LINKE gehen noch weiter und fordern eine Pflege-Vollversicherung. Dabei findet die Absicht, den Betroffenen zu helfen, große Sympathie. Es wird jedoch wenig über die Konsequenzen eines solchen Systemwechsels und mögliche Alternativen nachgedacht.

 

Ausgangspunkt

Auf der Website des GKV-Spitzenverbandes (GKV-SV) wird die Pflegeversicherung wie folgt charakterisiert: „Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung. Sie stellt eine soziale Grundsicherung in Form von unterstützenden Hilfeleistungen dar, die die Eigenleistungen der Versicherten und anderer Träger nicht entbehrlich machen.“[2] Heinz Rothgang kritisiert diesen Sachverhalt als „Geburtsfehler“ der Pflegeversicherung (Rothgang 2019, S. 393). Bei ihrer Einführung mit dem Pflegeversicherungsgesetz sollte erreicht werden, dass die überwiegende Zahl der Pflegebedürftigen nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen sein sollte. Allerdings sei das Ziel einer konsequenten „Lebensstandardsicherung“, das etwa für die Rentenversicherung maßgeblich ist, in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) nicht verankert. Umgesetzt worden sei von Anfang an ein Leistungssystem, das eine Grundversorgung sicherstellt, die im Regelfall (nur) ausreicht, um die pflegebedingten Aufwendungen abzudecken.

Dabei wurde mit den ursprünglichen drei Pflegestufen auf der Basis von Erfahrungswerten eine typisierende Leistungsbeschreibung umgesetzt. Diese Leistungen waren bei der Einführung der Pflegeversicherung auch tatsächlich „im Regelfall“ ausreichend. Die Schere öffnete sich allerdings durch die Kostenentwicklung in der Pflege und die bis 2008 ausgesetzte und auch danach unbefriedigend geregelte Dynamisierung der Leistungen. Die Eigenanteile sind demzufolge gestiegen.

Spätestens mit den Beschlüssen der Konzertierten Aktion Pflege im Jahr 2019, die die Personalausstattung und die Bezahlung der Pflegekräfte verbessern sollen, werden die Kosten beschleunigt steigen. Dadurch würden sich die Eigenanteile bis 2025 mehr als verdoppeln (Rothgang et al. 2019). Rothgang will dieser Entwicklung mit dem Konzept des „Sockel-Spitze-Tauschs“ begegnen, das er in einem Gutachten für die Initiative Pro-Pflegereform im Mai 2017 erstmals vorgestellt hat (Initiative Pro-Pflegereform 2019). Die Initiative beschreibt den Ansatz selbst in aller Kürze: „Bisher bezahlt die Pflegekasse den festen Sockel und die nach oben offene Spitze zahlen die Kunden als Eigenanteil. Jede Verbesserung treibt also nur die Kosten der Kunden in die Höhe. Mit dem Sockel-Spitze-Tausch drehen wir das um: Die Kunden bezahlen den festen Sockel und alle weiteren Kosten bezahlt die Pflegekasse.“[3] Dabei könne in einem zweiten Schritt eine zeitliche Begrenzung dieses Eigenanteils eingeführt werden. Nach x Jahren würde die Pflegeversicherung die gesamten Kosten übernehmen. Mit einem „Sockel von Null“ wäre man dann bei der Vollversicherung.

Der Sockel-Spitze-Tausch findet zunehmend Unterstützer: so etwa die DAK und die Hamburger Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks[4]. Auch den GRÜNEN gefällt das Konzept; sie haben es sich unter dem Namen „Doppelte Pflegegarantie“ zu eigen gemacht[5]. SPD und LINKE sparen sich die Zwischenschritte und fordern gleich die Vollversicherung[6]. Auch Minister Spahn steht diesen Ansätzen zwar kritisch gegenüber, sucht aber händeringend nach einer eigenen Lösung. Bei der Veranstaltungsreihe des BMG „Pflege sichern. Sicher pflegen.“ kündigte Spahn (am 17.2. in Düren) einen Reformvorschlag zur Finanzierung der Pflegeversicherung an: „Wir wollen unsere Pflegeversicherung vorbereiten auf die Herausforderungen der 20er Jahre. Lange bevor die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden, muss klar sein, wie wir das finanzieren. Dazu werde ich im Sommer ein Konzept vorlegen.“[7]

Im Folgenden soll ein kurzer Rückblick zeigen, wie es zum „Teilleistungskonzept“ gekommen ist. Zwei Faktoren spielten dafür eine Rolle: Die damalige Entscheidung für ein Leistungs-System mit finanziellen Zuschüssen (Bestimmung der Leistungshöhe in Form von Pauschalen für typisierte Bedarfslagen) sowie die Frage der Dynamisierung der Leistungen.

 

Gab es eine „Entscheidung“ für ein Teilleistungssystem?

Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde zwar anerkannt, dass Pflegebedürftigkeit „ein unabhängig vom Lebensalter bestehendes allgemeines Lebensrisiko“ ist, das einer solidarischen Absicherung bedarf. So das Vorblatt des Gesetzentwurfs (Hervorhebung vom Verfasser). Konstruiert wurde allerdings ein neuer Typ der Sozialversicherungsleistung, der weder nach dem Äquivalenzprinzip (wie die Renten- und Arbeitslosenversicherung), noch nach dem Bedarfsdeckungsprinzip (wie die Krankenversicherung) gestaltet wurde. Außerdem gab es den politischen Druck, die Leistungen knapp zu kalkulieren. Die Ziele der Kostenbegrenzung und Berechenbarkeit standen im Vordergrund. Die Reform durfte auch die Arbeitgeber und den damaligen Koalitionspartner FDP nicht überfordern. Zur Akzeptanz des neuen Sozialversicherungszweiges war ein niedriger Einstiegs-Beitragssatz erforderlich.

Allerdings war immer klar, dass die Pflegeversicherung nur die zusätzlichen Kosten der Pflege tragen kann und die Alterseinkommen (Rente etc.) den Lebensunterhalt decken müssen (Jacobs /Paquet 2015). In § 4 Abs. 2 des Fraktionsentwurfs hieß es: „Bei häuslicher und teilstationärer Pflege ergänzen die Leistungen der Pflegeversicherung die familiäre, nachbarschaftliche oder sonstige ehrenamtliche Pflege und Betreuung. Bei vollstationärer Pflege werden die Pflegebedürftigen von pflegebedingten Aufwendungen entlastet; die Aufwendungen für Unterkunft und Verpflegung tragen die Pflegebedürftigen selbst.“ (Pflege-VG 1993) Die Formulierung gilt mit kleinen redaktionellen Änderungen bis heute. In der Begründung wird dieses Leistungsvolumen zwar gegen eine „Vollversorgung“ abgegrenzt. Die vorgesehenen Leistungen in den drei Stufen sollten jedoch im ambulanten Bereich „grundsätzlich dem Bedarf gerecht werden“. „Reichen die Leistungen der Pflegeversicherung im Einzelfall nicht aus, muß der Pflegebedürftige die weitergehenden Leistungen mit eigenen Mitteln bezahlen“, ggf. unter Inanspruchnahme der Sozialhilfe.

Im bis heute unveränderten § 25 „Wirtschaftlichkeitsgebot“ wird die Abgrenzung zur „Vollversorgung“ weiter verstärkt: Im Gegensatz zur Krankenversicherung (§ 12 SGB V) müssen die Leistungen nicht „ausreichend“ sein. Dieser Begriff begründet nämlich in der GKV den Leistungsanspruch nach dem Behandlungsbedarf in jedem Einzelfall. Aus Gründen der Kostenbegrenzung (vgl. auch das Gebot der Beitragssatzstabilität in § 79 SGB XI) kann daher „das Wirtschaftlichkeitsgebot in der sozialen Pflegeversicherung nicht das Gebot ausreichender Leistungsgewährung umfassen.“ Die Leistungsansprüche wurden somit typisiert und in ihrer Höhe begrenzt. Sie sollten aber – das geht auch aus den Begründungen des Pflege-VG für die ambulanten Pflegesachleistungen (§ 32) und die vollstationären Leistungen (§ 39) hervor – „in der Regel … zur Deckung des Pflegebedarfs ausreichen“ bzw. die Pflegekosten der Heime „abdecken“.

Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass die Dynamisierung der Leistungen bis heute nicht systematisch geregelt ist. Das ist eine Besonderheit der Pflegeversicherung gegenüber allen anderen Sozialversicherungszweigen. In § 30 SGB XI wurde die Bundesregierung zwar schon mit dem Inkrafttreten des Pflege-VG ermächtigt, durch Rechtsverordnung die „Höhe der Leistungen im Rahmen des geltenden Beitragssatzes und der sich daraus ergebenden Einnahmeentwicklung anzupassen“. Dann geschah jedoch lange nichts. Bis zur ersten Anpassung im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz 2008 hatten die Leistungen daher durch Inflation und Kostensteigerung der Pflegedienste und -Heime ständig an Wert verloren. 2008 kam dann die Verpflichtung, die Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung alle drei Jahre durch die Bundesregierung zu prüfen. Außerdem kam der (noch heute geltende) Hinweis auf eine Referenzgröße hinzu: „Als ein Orientierungswert für die Anpassungsnotwendigkeit dient die kumulierte Preisentwicklung in den letzten drei abgeschlossenen Kalenderjahren; dabei ist sicherzustellen, dass der Anstieg der Leistungsbeträge nicht höher ausfällt als die Bruttolohnentwicklung im gleichen Zeitraum.“ Auch das klingt nicht gerade großzügig. Der entscheidende Mangel ist aber, dass es keine automatische Anpassungsregel gibt, wie etwa für die Leistungen der Rentenversicherung oder die Höhe der Bezugsgröße (§ 18 SGB IV) etc.

Durch die Kostenentwicklung einerseits, die lange unterbliebene Leistungsanpassung andererseits ging die Schere zwischen den Leistungssätzen und den tatsächlichen Pflegekosten immer weiter auf. Erst damit trat der Teilleistungscharakter der Pflegeversicherung so deutlich hervor, wie er heute diskutiert wird. Tatsächlich dürfte zu dieser Frage damals eher konzeptionelle Indifferenz als bewusste Absicht geherrscht haben. Um die Pflegeversicherung überhaupt einführen zu können, mussten viele politische Kompromisse geschlossen und auch wichtige Fragen offengelassen werden.

 

Das ungelöste Problem der Investitionsfinanzierung

Dabei spielt ein weiterer Aspekt eine Rolle: Auch die ausbleibende Investitionsfinanzierung der Länder für die Heime ist ein wichtiger Treiber für den Anstieg der Eigenanteile. Auch bei diesem Thema zeigt sich in der Rückschau die „konzeptionelle Indifferenz“, das Phänomen von Formelkompromissen, die eigentlich „Nicht-Entscheidungen“ waren. Ursprünglich sollte es nach dem Fraktionsentwurf des Pflege-VG eine monistische Finanzierung geben. Pflegedienste und Pflegeheime sollten komplett über den Preis finanziert werden, der die Betriebs- und Investitionskosten decken sollte[8]. Auf Umwegen kam es dann jedoch zu einer Anlehnung an das Prinzip der „dualen Finanzierung“, wie es für die Krankenhäuser gilt.

Aus dem im Fraktionsentwurf noch vorgesehenen Bundeszuschuss für die Investitionsförderung der Pflegeinrichtungen (§ 69 Pflege-VG 1993) wurde schon in der Beschlussempfehlung für den Bundestag[9] ein „Finanzierungsbeitrag der Länder“. Sie sollten einen Teil der Einsparungen, die den Sozialhilfeträgern durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen, an das Bundesversicherungsamt abführen. Dort sollte ein Fonds eingerichtet werden, aus dem die Investitionsmittel auf der Basis eines Staatsvertrags zwischen Bund und Ländern verteilt werden sollten.

Diese schöne Idee wurde im Kompromiss mit dem Bundesrat noch weiter aufgeweicht. In § 9 „Aufgaben der Länder“, der im Wesentlichen heute noch gilt, hieß es schließlich: „Die Länder sind verantwortlich für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur. Das Nähere zur Planung und zur Förderung der Pflegeeinrichtungen wird durch Landesrecht bestimmt. … Zur finanziellen Förderung der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen sollen Einsparungen eingesetzt werden, die den Trägern der Sozialhilfe durch die Einführung der Pflegeversicherung entstehen.“ Damit ging jede Verbindlichkeit verloren.

Das Ergebnis war aus heutiger Sicht nicht überraschend: Die Länder hatten ihre Investitionsverpflichtungen im Bereich der Krankenhäuser schon seit Anfang der 90er Jahre immer weniger erfüllt. Im Bereich der Pflegeversicherung haben sie mit Investitionen praktisch nie angefangen.

Bei diesen Problemen des „Teilleistungssystems“ von einem „Geburtsfehler“ der Pflegeversicherung zu sprechen, verkennt die historische Entwicklung. Wenn die aus heutiger Sicht möglicherweise wünschenswerten Weichenstellungen bereits damals vorgenommen worden wären, wäre die Pflegeversicherung zu diesem Zeitpunkt nicht eingeführt worden[10].

 

Probleme und alternative Lösungsansätze

Was sind nun die Lösungsmöglichkeiten? Die Einführung des Sockel-Spitze-Tauschs bzw. der Übergang zu einer Vollversicherung erscheinen einfach und passen in ein populäres Narrativ: Der Sozialstaat soll endlich leisten, was er mal versprochen hat[11]. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass ein solcher Systemwechsel auch mit Nachteilen verbunden wäre und dass das angestrebte Ziel durchaus auf anderem Wege erreicht werden könnte. Was sind die Probleme?

  • Ein Vollversicherungssystem hätte weitreichende Wirkungen für die Finanzstabilität. Das aktuelle „Zuschusssystem“ fördert die Beitragssatzstabilität. Auf Basis der demographischen Entwicklung und der Eintrittswahrscheinlichkeiten von Pflegebedarf können die Gesamtausgaben der Pflegeversicherung relativ gut geschätzt werden. Im Gegensatz zu dieser Planbarkeit liefe die Vollversicherung auf die Einrichtung eines Sachleistungssystems mit individualisierten Ansprüchen hinaus. Das würde auch die Einteilung in die Pflegegrade in Frage stellen, die ja letztlich die Fortsetzung der „Typisierung“ von Leistungsansprüchen (in Form finanzieller Zuschüsse) darstellt. Der Eigenanteil hätte nur noch den Charakter einer Selbstbeteiligung an den Pflegekosten.
  • Statt der Pauschalierung der Leistungen müsste das System im einzelnen Anspruchsfall prüfen, welche Leistungen „ausreichend“ [12] und angemessen wären. Das System müsste schon gesetzlich die Ansprüche genauer definieren und auch den Entscheidungspfad für die Art der in Anspruch genommenen Leistungen vorschreiben. Das wäre aufwendig und streitbehaftet.
  • Im Bereich der Allokation ergäbe sich ein ernsthaftes „Moral Hazard-Problem“. Die Vollversicherung in der Spitze führt zur Gefahr einer Überinanspruchnahme durch
    – die Wahl einer (zu) teuren Versorgungsform,
    – die Wahl eines (zu) teuren Anbieters und
    – die Ausweitung der Leistungsmengen.
    Diese Probleme müssten ggf. durch verschiedene Maßnahmen (Einheitspflegesatz auf Landesebene, individuelle Preisverhandlungen etc.) in Schach gehalten werden. Zur Vermeidung von Fehlentwicklungen müssten die Leistungsansprüche durch die Selbstverwaltung detailliert bestimmt werden. Dazu müsste ein institutionelles Arrangement geschaffen werden, das z.B. dem Gemeinsamen Bundesausschuss im SGB V (§ 91) entspricht.
  • Außerdem hätten die vorgeschlagenen Lösungen Implikationen in Bezug auf die Verteilungswirkungen: Im stationären Sektor würden zunächst verstärkt Mittel in hochpreisige Einrichtungen fließen. Regional betrachtet würden etwa Mittel von Ost nach West fließen etc. (Dieser Effekt könnte z.B. durch bundesweite Personalbemessungsverfahren und flächendeckende Tariflöhne eingedämmt werden).
  • Das gegenwärtige System wirkt funktional staatsentlastend, indem es dem Versicherten die letzte Verantwortung dafür überlässt, welche Leistungen er sich in welcher Qualität einkauft. Der Gesetzgeber erspart sich damit eine genauere Regulierung der Leistungen (gegenüber dem Status quo, in dem die Leistungsangebote grundsätzlich nach oben offen sind und die privaten Zahlungen von den Pflegebedürftigen nach ihrem persönlichen Bedarf eingesetzt werden können). Dahinter steht faktisch das Konzept eines „persönlichen Budgets“ im Sinne einer Stärkung der Autonomie der Pflegebedürftigen.
  • Dazu trägt auch bei, dass der Pflegebedürftige Vertragspartner der Leistungserbringer ist. Positiv ist dabei das freiheitliche Element der Eigenverantwortung. Bei Übergang zu einer Vollversicherung wäre die Einführung des Sachleistungsprinzips dagegen die logische Konsequenz. Das hätte wiederum die Regulierung durch Kollektivverträge zur Folge.
  • Andererseits haben wir es hier mit einem Personenkreis zu tun (auch z.B. Demenzkranke), für den „Konsumentensouveränität“ nur bedingt unterstellt werden kann. Umso wichtiger sind die institutionelle Qualitätssicherung der Leistungen und die Beratung der Pflegebedürftigen (und ihrer Angehörigen) bei der Auswahl der Leistungen und ihrer Anbieter. Wünschenswert wäre somit eine bessere „Steuerung“, die die Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen wahrt und nicht in einen institutionellen Paternalismus abgleitet.
  • Zudem muss eingeräumt werden, dass die Autonomie der Pflegebedürftigen zur Fehlsteuerung führt, wenn die Eigenanteile auf breiter Front nicht mehr individuell getragen werden können. Das Autonomie-Konzept stößt in den Fällen an seine Grenze, in denen Hilfe zur Pflege in Anspruch genommen werden muss: Der Sozialhilfeträger ist dann regelmäßig gehalten, für die Pflegebedürftigen das preisgünstigste Leistungsangebot zu wählen.
  • Zu prüfen wäre außerdem, wieweit sich der Sockel-Spitze-Tausch unterschiedlich auf die Verhältnisse in der stationären und der ambulanten Pflege auswirken würde, die doch recht verschiedene Kostenstrukturen aufweisen. (Die Pflegestärkungsgesetze waren dagegen darauf ausgerichtet, die Leistungssätze im ambulanten und stationären Bereich aneinander anzugleichen!) Auch die Zahlungswege (einschließlich des dann als Selbstbeteiligung wirkenden Eigenanteils) müssten neu konzipiert werden: Die Pflegeversicherung würde die Leistungserbringer direkt vergüten; die Zwischenposition des Pflegebedürftigen für den Finanztransfer wäre nicht mehr erforderlich etc..
  • Dabei ist zu bedenken, dass immer mehr Pflegebedürftige ambulant versorgt werden. Die Ambulantisierung der Pflege und der Ausbau der intermediären Pflegeformen sind langfristige Trends (Heger et al. 2019). Bei der ambulanten Pflege stellt sich das Problem des steigenden Eigenanteils aber in weitaus geringerem Maße als bei der stationären Pflege.

Diese Bedenken werden offenbar im BMG geteilt. Auf eine „schriftliche Frage“ der Abgeordneten Kordula Schulz-Asche (Bündnis 90/Die Grünen), wie die Bundesregierung den Ansatz des Sockel-Spitze-Tausches bewertet, antwortete die parlamentarischen Staatssekretärin im BMG, Sabine Weiss, am 9. März 2020: „Der im Rahmen des Sockel-Spitze-Tausch vorgesehene feste Eigenanteil birgt die Gefahr von Fehlanreizen. Deshalb schlagen die Gutachter (gemeint sind Rothgang/Kalwitzki, der Autor) zwingend die Einführung einer individuellen Bedarfsprüfung vor. Sie würde den Pflegebedürftigen entsprechende Vorgaben machen, während die Pflegebedürftigen heute gemäß ihrer konkreten Situation darüber selbst entscheiden können. Eine solche Prüfung wäre zudem nur mit erheblichem zusätzlichem Aufwand zu leisten.“ (Bundestags-Drs. 19/17884, Frage Nr. 120, S. 78)

Immerhin wussten auch die GRÜNEN – trotz ihrer Sympathie für den Sockel-Spitze-Tausch – noch im Sommer 2018: „Ohne Gegenmaßnahmen aber entstünden gravierende Probleme für die Pflegeversicherung: Insbesondere würde der aktuelle Anreiz zur Begrenzung der individuellen Pflegekosten entfallen, da zusätzliche Leistungen die Pflegebedürftigen nicht mehr selbst zahlen müssten, sondern diese für sie „kostenlos“ wären. Es könnte ein neuer Anreiz für die Pflegebedürftigen entstehen, immer mehr und immer teurere Leistungen zu wünschen. Hier müsse gegengesteuert werden“.[13]

 

Alternativen

Alternative Lösungsansätze sind insbesondere:

  • Die Anhebung der Leistungssätze der Pflegeversicherung, was zwangsläufig zu höheren Beitragssätzen führen würde. Innerhalb der bisherigen Systematik sollte dabei an erster Stelle mit einer regelhaften Dynamisierung der Leistungen nach § 30 SGB XI begonnen werden. In den maßgeblichen „Orientierungswert“ sollten dabei nicht nur die allgemeine Inflationsrate, sondern z.B. auch die speziellen Dienstleistungskosten der Pflegeanbieter eingehen (spezielle Lohnentwicklung und Personalstruktur etc.).
  • Die Einführung von Steuerzuschüssen zur Pflegeversicherung. Sie würde eine Steigerung der Leistungen ohne Beitragssatzanhebung ermöglichen bzw. den Beitragssatzanstieg dämpfen. Auch der GKV-Spitzenverband fordert das. Die „versicherungsfremden Leistungen“ sollten vom Staat übernommen werden. Dazu zählt der GKV-SV vor allem die Leistungen der sozialen Sicherung der Pflegepersonen (§ 44 SGB XI) und die Leistungen im Rahmen der stationären Pflege von Menschen mit Behinderung (§ 43a SGB XI). Diese Leistungen sind in der SPV in den letzten Jahren deutlich gestiegen (auch aufgrund gesetzlicher Änderungen) und beliefen sich im Jahr 2018 auf rund 2,6 Mrd. Euro (Kiefer 2019, S. 24).
  • Die Übernahme der Investitionskosten für die Pflegeheime durch die Länder, so wie es ursprünglich im Pflege-VG 1994 vorgesehen war. Gemäß § 9 SGB XI liegt die Verantwortung für die Planung und Förderung der Pflegeeinrichtungen in der Zuständigkeit der Länder. Wenn diese Kosten übernommen würden, führte das unmittelbar zu einer Entlastung der Pflegebedürftigen (§ 82 SGB XI). Die in § 9 Satz 3 SGB XI erwähnten Einsparungen in der Sozialhilfe fallen auch heute noch an und beliefen sich im Jahr 2015 auf rund fünf Milliarden Euro (Bericht der Bundesregierung 2016 nach § 10 SGB XI). Alleine im Jahr 2018 wurden den Pflegebedürftigen von den Einrichtungen 4,1 Mrd. Euro an Investitionskosten in Rechnung gestellt (Kiefer 2019). Möglicherweise könnte sich auch der Bund mit einem Zuschuss an der Investitionsfinanzierung beteiligen, so wie es in der ursprünglichen Fassung des Fraktionsentwurfs zum Pflege-VG vorgesehen war.
  • Ergänzende private Versicherungen sind ebenfalls eine Möglichkeit der finanziellen Vorsorge. Die Form einer freiwilligen Zusatzversicherung, wie sie im Vierzehnten Kapitel (§§ 126 ff. SGB XI) vorgesehen ist, hat jedoch das Problem der Treffgenauigkeit. Selbst wenn die Förderbeträge höher wären (und gleichgültig ob sie aus der Pflegeversicherung oder aus Steuermitteln kommen), gilt, dass gerade bei denjenigen, die mit dem Eigenanteil überfordert wären, die Wahrscheinlichkeit zum Abschluss einer ausreichenden Versicherung am geringsten wäre. Dieses Grundproblem wird auch durch die neuesten Vorschläge der PKV für Zusatzversicherungen nicht gelöst[14]. Eine verpflichtende Lösung könnte dagegen organisatorisch im kollektiven System verbleiben und liefe praktisch auf eine Erweiterung des Pflegevorsorgefonds hinaus (Aufbau eines kollektiven Kapitalstocks zur Überbrückung des Renteneinstiegs der „Babyboomer“ bzw. zur Entlastung der Beitragssätze ab dem Jahr 2035 nach den §§ 131ff. SGB XI).
  • Eine sinnvolle Entlastung der Pflegeversicherung wäre auch der „Wechsel der Finanzierungsverantwortung für die medizinische Behandlungspflege sowie die geriatrische Rehabilitation“ [15] zur GKV. Begründet war die damalige und mehrfach verlängerte Zuordnung zur Pflegeversicherung ausschließlich mit der finanziellen Entlastung der GKV; ein Grund, der sich inzwischen erledigt hat. Nach dem Charakter der Leistung gehört sie zweifellos in die Zuständigkeit der Krankenversicherung (Rothgang und Müller 2013).
  • Im Hinblick auf den Anspruch der Lebensstandardsicherung muss außerdem gesehen werden, dass dafür nicht in erster Linie die Pflegeversicherung zuständig ist. Dementsprechend reagiert die Politik z.B. mit Maßnahmen zur Stabilisierung der Altersrenten, insbesondere im Niedriglohnsektor („Grundrente“ etc.). Alle Pläne zur Sicherung und Erhöhung der Alterseinkommen und die Suche nach neuen Formen der Mindestsicherung dienen letztlich auch dazu, dass die Pflegebedürftigen ggf. die Eigenanteile der Pflegeversicherung besser verkraften können.

 

Fazit

Die Corona-Krise hat die Pflegeversicherung zwar noch nicht erreicht. Im Moment erscheint es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass die Covid19-Erkrankungen die Zahl der Pflegebedürftigen nach oben treiben wird. Allerdings wird sich das Arbeitskräfteproblem in der Pflege weiter verstärken, weil sich die besondere Gesundheitsbelastung des professionellen Pflegepersonals und der pflegenden Familienangehörigen voraussichtlich viele Monate, wenn nicht Jahre hinziehen wird. Auf der anderen Seite wird das krisenbedingte Einbrechen des Bruttoinlandprodukts die Finanzierungmöglichkeiten für die Sozialversicherungen insgesamt auf eine harte Probe stellen.

Umso wichtiger wird es sein – wenn man sich wieder ernsthaft mit den Finanzierungsproblemen der Pflegeversicherung beschäftigen kann –, die Vor- und Nachteile der verschiedenen Lösungswege sorgfältig zu durchdenken. Die vordergründige Plausibilität der Vollversicherung könnte dabei auf einen Irrweg führen.

Das noch größere Problem der Pflege ist und bleibt der Personalmangel. Auch mit gestiegenen Löhnen werden es die Heime schwer haben, die freien Stellen zu besetzen. Immer noch zu wenig beachtet werden in diesem Zusammenhang z.B. die Steuerung der Pflegebedürftigen in bedarfsgerechte Settings und die organisatorischen Rahmenbedingungen der ambulanten und der stationären Pflege. Zu selten wird auch über die Steigerung der Produktivität in diesem Dienstleistungsbereich nachgedacht.

Erfreulich ist in diesem Zusammenhang der vor kurzem veröffentlichte „Zweite Zwischenbericht zur Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen“ (SOCIUM 2020). Die umfangreiche empirische Untersuchung bestätigt zwar insgesamt einen Personalmehrbedarf. Sie lenkt aber den Blick auch auf die bestehenden Ineffizienzen in der indirekten Pflege und fordert erhebliche Anstrengungen in der Organisations- und Personalentwicklung. Dabei wird z.B. auch die Vorgabe der starren Fachkraftquote in Frage gestellt; der Mangel zeige sich vor allem bei den Pflege-Assistenzkräften. Die Rollen von Fach- und Assistenzkräften müssten neu definiert werden etc.

Eine erweiterte Finanzierung der Pflege darf sich daher nicht mit der bloßen Fortschreibung der bestehenden Organisationsstrukturen etc. begnügen („Mehr vom Gleichen“). Die notwendigen Veränderungen gehen weit darüber hinaus und machen auch erhebliche Investitionen in den Heimen (Heger et al. 2019), in die bauliche und technische Infrastruktur sowie in die Digitalisierung des Pflegebereichs[16] erforderlich.

 

[1] Dieser Aufsatz greift wegen der Aktualität des Themas einige Argumente auf, die der Autor in einem Beitrag für den WIdO-Pflege-Report 2020 ausführlicher dargestellt hat: „Struktureller Reformbedarf in der Pflegeversicherung – ein Vierteljahrhundert nach ihrer Einführung“, herausgegeben von K. Jacobs et al., Springer Verlag Berlin. Der Report erscheint im Frühsommer 2020.

[2] https://www.gkv-spitzenverband.de/pflegeversicherung/pv_grundprinzipien/grundprinzipien.jsp

[3] https://www.pro-pflegereform.de/die-reform/

[4] Cornelia Prüfer-Storcks, Senatorin für Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg, und Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit, bei einer Veranstaltung der Freien und Hansestadt Hamburg zum Thema am 5.11.2019 in Berlin

[5] https://www.gruene-bundestag.de/themen/pflege/doppelte-pflegegarantie-plaedoyer-fuer-ein-neues-denken

[6] https://www.die-linke.de/themen/gesundheit-und-pflege/ und Beschluss Nr.3 beim ordentlichen Bundesparteitag 2019 (6.-8. Dezember) zum Leitantrag „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit: Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ (S. 18) https://indieneuezeit.spd.de/aktuelles/tag-2/sozialstaat/ (zuletzt abgerufen am 29.01.2020)

[7] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/pflegesichern.html#c17351 (zuletzt abgerufen am 19.3.2020)

[8] Explizit im Vorblatt des Fraktionsentwurfs Pflege-VG 1993 (Ziffer B 5)

[9] Bundestags-Drs. 12/5920

[10] Auch beim Vertrag zur deutschen Wiedervereinigung wissen ja dreißig Jahre später viele, was man damals alles hätte besser machen müssen.

[11] Ob die Pflegeversicherung bei ihrer Einführung tatsächlich „Lebensstandardsicherung“ versprochen hat, ist dabei in Frage zu stellen.

[12] Analog zu § 12 SGB V für die Krankenversicherung

[13] So heißt es nach einer Veranstaltung zum Thema (25. Juni 2018) auf der Homepage der Fraktion https://www.gruene-bundestag.de/pflege/pflegeversicherung-der-zukunft.html) (letzter Zugriff 19.3.2020).

[14] PKV-Verband: Pressemitteilung vom 23.10.2019; https://www.pkv.de/themen/pflege/neuer-generationenvertrag/ abgerufen am 24.01.2020

[15] 92. Gesundheitsministerkonferenz – Sonder-Kamin „Weiterentwicklung der Pflegeversicherung“ am 11. November 2019; Problemaufriss

[16] Ein erster Anlauf dazu wird im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG 2019) gemacht.

 

Literatur:

Heger et al. (2019): Heger D./Augurzky B./Kolodziej I./Krolop S./Wuckel C.: „Pflegeheim Rating Report 2020. Zwischen Nachfragewachstum und Kostendruck“, Heidelberg

Initiative Pro-Pflegereform (2019): die neueste Version des Gutachtens: Heinz Rothgang/Thomas Kalwitzki/Janet Cordes: „Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung“, Auftraggeber: Initiative Pro-Pflegereform, Bremen, im November 2019, auf https://www.pro-pflegereform.de/die-reform/

Jacobs Klaus/ Paquet Robert (2015): „Die Pflegeversicherung als Sozialversicherung – institutionelle Rahmenbedingungen und Grenzen“, in Sozialer Fortschritt, Heft Januar/Februar 2015, S. 1–7

Kiefer Gernot (2019): (Vorstand des GKV-SV) im Referat „Reform- und Finanzbedarf der Pflegeversicherung“ beim Presseseminar des GKV-Spitzenverbandes, Sommerfeld, 17./18. Juni 2019

Pflege-VG (1993): Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Entwurf eines Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG), Bundestags-Drs. 12/5262.

Rothgang Heinz (2019): „Defizite der derzeitigen Ausgestaltung der Pflegeversicherung“, in Soziale Sicherheit 11/2019

Rothgang et al. (2019): Rothgang Heinz/Kalwitzki Thomas/Domhoff Dominik: „Modellrechnungen zur Finanzreform der Pflegeversicherung, Kurzexpertise im Auftrag der DAK-Gesundheit“ von Oktober 2019

Rothgang Heinz/Müller Rolf (2013): „Verlagerung der Finanzierungskompetenz für Medizinische Behandlungspflege in Pflegeheimen von der Pflege- in die Krankenversicherung“, Gutachten für die Robert Bosch Stiftung, Bremen

SOCIUM (2020): SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP), Institut für Arbeit und Wirtschaft (iaw), Kompetenzzentrum für Klinische Studien Bremen (KKSB), Projektleitung Prof. Heinz Rothgang: „Zweiter Zwischenbericht im Projekt Entwicklung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben gemäß § 113c SGB XI (PeBeM)“, Bremen, Februar 2020


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