Pflege ist systemrelevant: Jetzt ist ein System notwendig, das trägt

Monika Nirschl, COO compassio Gruppe

Die Debatte um die Zukunft der stationären Pflege wird heute oft in dramatischen Schlagzeilen geführt: Insolvenzen, Fachkräftemangel, Pflegenotstand. Dass diese Lage ernst ist, steht außer Frage. Doch sie lässt sich nicht mit Symbolpolitik oder kurzfristigen Entlastungspaketen lösen. Wer in der Pflege tatsächlich etwas bewegen will – politisch oder unternehmerisch –, muss sich mit den operativen Realitäten vor Ort befassen. 

Als einer der größten privaten Betreiber stationärer Pflegeeinrichtungen in Deutschland waren auch wir gezwungen, unsere Geschäftsgrundlagen zu hinterfragen und neu zu justieren. Der wirtschaftliche Druck, dem die gesamte Branche unterliegt, ist immens – dennoch stehen wir heute wieder in der Gewinnzone. Die Rahmenbedingungen in der Branche bleiben weiter schwierig. Daher haben wir die Steuerbarkeit unserer Strukturen – also das, was man als Betreiber selbst in der Hand hat – konsequent in den Mittelpunkt gerückt.

 

Pflegeheime sind Fixkostenbetriebe

Der Turnaround, der uns im Jahr 2024 gelungen ist, war keine Frage von Glück oder einzelner Maßnahmen. Sie war das Ergebnis eines grundsätzlichen Perspektivwechsels, der operative Steuerung, wirtschaftliche Vernunft und pflegerische Qualität miteinander in Einklang bringt. Unsere Erfahrung zeigt: Gute Pflege braucht nicht nur Engagement, sondern Strukturen. Sie braucht nicht nur Berufung, sondern Führungsfähigkeit. Und sie braucht eine Politik, die diese Zusammenhänge erkennt und unterstützt. Wer Versorgung sichern will, muss nicht nur mehr Geld ins System geben, sondern dafür sorgen, dass dieses Geld dort wirksam werden kann, wo es am dringendsten gebraucht wird: in den Einrichtungen selbst. Dort, wo Entscheidungen täglich unter Unsicherheit getroffen werden, wo Teams arbeiten, oft am Limit, und wo Führungskräfte Verantwortung tragen für die Pflege alter, kranker und oft hochkomplex betreuungsbedürftiger Menschen.

Der wohl wichtigste Hebel für wirtschaftliche Stabilität ist und bleibt die Belegung. In der öffentlichen Debatte wird selten erwähnt, dass Pflegeheime faktisch Fixkostenbetriebe sind. Die Infrastruktur muss unabhängig von der Auslastung bereitgestellt und vorgehalten werden. Bereits eine temporäre Unterbelegung kann ausreichen, um die Wirtschaftlichkeit eines Hauses dauerhaft zu gefährden. Bei compassio haben wir diesen Zusammenhang sehr früh systematisch adressiert.

Wir haben ein datenbasiertes Belegungscontrolling eingeführt, das alle Einrichtungen wöchentlich auf relevante Kennzahlen hin analysiert – darunter Auslastung, Pflegegradstruktur, Kapazitätsauslastung nach Wohnbereichen und regionale Nachfragetrends. Ergänzt wird das System durch eine 10-Punkte-Belegungsstrategie, die konkrete Maßnahmen für Marketing, Zusammenarbeit mit Kliniken, Hausärzten und Angehörigen sowie das interne Schnittstellenmanagement definiert. Unser Ziel war von Beginn an, Belegung nicht als nachgelagertes Ergebnis, sondern als zentral steuerbare Führungsgröße zu verstehen. Mit Erfolg: Wir konnten die durchschnittliche Auslastung konzernweit auf über 92 Prozent steigern – ein Wert, der deutlich über dem aktuellen Branchendurchschnitt liegt.

 

Kritischer Faktor: Leiharbeit

Ein ebenso kritischer Faktor für die betriebliche Stabilität ist der Umgang mit dem Thema Leiharbeit. Wir haben uns bei compassio entschieden, vollständig auf den Einsatz externer Pflegekräfte zu verzichten. Diese Entscheidung war keineswegs bequem – aber sie war notwendig. Leiharbeit ist nicht nur wirtschaftlich ineffizient, sie untergräbt auch die Teamkultur in den Einrichtungen, führt zu Reibungsverlusten im Alltag und erschwert die langfristige Personalentwicklung. Stattdessen haben wir unsere eigene Flexibilität gestärkt: mit einem konzernweiten Springerpool, mit gezielter Rekrutierung über digitale Plattformen und durch Investitionen in eine moderne Arbeitgebermarke.

Im Jahr 2024 konnten wir mehr als 3.000 neue Mitarbeitende gewinnen – ein Erfolg, der nicht durch Glück, sondern durch System entstanden ist. Unsere Führungsstruktur spielt dabei eine entscheidende Rolle: Wer bei compassio eine Einrichtung leitet, trägt Ergebnisverantwortung – und erhält gleichzeitig strukturierte Unterstützung durch HR-Teams, digitale Tools und ein Netzwerk aus erfahrenen Regionalleitungen. Das Ergebnis: stabile Personalschlüssel, sinkende Fluktuation und eine Rückkehr zur verlässlichen Dienstplangestaltung.

Ein weiterer zentraler Bestandteil unseres operativen Neuausrichtung war die Entlastung nicht-pflegerischer Funktionsbereiche durch standardisierte, aber qualitativ hochwertige Lösungen. Beispielhaft lässt sich dies an der Neuausrichtung unserer Verpflegungskonzepte zeigen. In der Vergangenheit war es üblich, in jeder Einrichtung täglich frisch zu kochen – ein Anspruch, der angesichts des Fachkräftemangels, der begrenzten Flächen und der steigenden Anforderungen an Hygiene und Kosteneffizienz zunehmend an seine Grenzen stieß.

Wir haben uns entschieden, einen systemweiten Umstieg auf ein Cook-&-Chill-System mit hochwertigen Convenience-Komponenten vorzunehmen. Das bedeutet nicht den Verzicht auf Frische oder Individualität – im Gegenteil: Es bedeutet Standardisierung dort, wo sie hilft, und Individualisierung dort, wo sie sinnvoll ist. Durch die neuen Konzepte konnten wir nicht nur den Personaleinsatz im Küchenbereich optimieren, sondern auch die Lebensmittelverschwendung drastisch reduzieren. Die Rückmeldungen unserer Bewohner:innen bestätigen, dass Qualität, Auswahl und Verlässlichkeit der Verpflegung sogar gestiegen sind. Für uns ist das ein gutes Beispiel dafür, wie wirtschaftliches Denken und Versorgungssicherheit in Einklang gebracht werden können – wenn man bereit ist, Gewohnheiten zu hinterfragen und pragmatisch zu handeln.

 

Bundesweit einheitliche Verfahrensstandards notwendig

Doch auch bei einem noch so stabil aufgestellten Träger steht und fällt der langfristige Erfolg mit der Refinanzierung durch die Kostenträger. Pflegesatzverhandlungen sind vielerorts nicht mehr strategisch gestaltbar, sondern zu einem mühsamen Aushandlungsprozess geworden, bei dem sich die Verhandlungspartner oft in formalen und methodischen Fragen verlieren. compassio hat ein internes Pflegesatz-Controlling aufgebaut, das monatlich belastbare Daten zu Kostenstruktur, Pflegegradverteilung, Auslastung und Personalschlüssel liefert. Diese Grundlage macht es möglich, Gespräche mit den Kassen auf einer sachlichen Ebene zu führen.

Was fehlt, ist ein übergreifender Ordnungsrahmen: Bundesweit einheitliche Verfahrensstandards, ein klares Verhandlungszeitfenster und transparente Vergleichsgrößen. Stattdessen erleben wir, dass einzelne Kostenträger eigene Bewertungsmaßstäbe anlegen, Bearbeitungen Monate dauern und Entscheidungen teils von der regionalen Kassenlage abhängen. Für Einrichtungen, die wirtschaftlich auf Kante genäht sind, ist das existenzgefährdend. Wer Versorgung stabilisieren will, muss endlich die Refinanzierung systematisch absichern – nicht punktuell, sondern strukturell. 

Ein zentrales Thema bleibt auch die Rolle der Führung. compassio hat in den letzten zwei Jahren stark in die Qualifizierung und Weiterentwicklung seiner Führungskräfte investiert. Dabei geht es nicht nur um Zahlenverständnis und Controlling, sondern vor allem um Haltung, Kommunikation und Verantwortungsbewusstsein. Wer ein Haus leitet, führt nicht nur ein Team – er trägt Verantwortung für die wirtschaftliche Stabilität, für das Klima im Haus und für das Vertrauen der Angehörigen. Gute Führung ist der wichtigste Hebel für Veränderung, sie entscheidet über Motivation, Fluktuation, Teamerfolg und am Ende über die Qualität der Pflege.

Wir haben eigene Schulungsformate entwickelt, regelmäßige Austauschrunden etabliert und ein Mentoring-System für neue Leitungen aufgebaut. Die Wirkung ist messbar: Häuser mit klarer, mutiger Führung arbeiten stabiler, sicherer – und erfolgreicher. Dieses Führungsverständnis gehört stärker in den Mittelpunkt der pflegepolitischen Diskussion. Denn unabhängig von Tarifen, Personalschlüsseln oder Förderprogrammen ist es immer der Mensch an der Spitze, der entscheidet, ob eine Einrichtung funktioniert oder nicht.

 

Führung ist kein Talent, sondern Handwerk

Einrichtungserfolg ist kein Zufallsprodukt. Er entsteht aus System, Klarheit und Konsequenz. Deshalb entwickeln wir derzeit ein einheitliches Führungsmodell, das betriebswirtschaftliche Steuerung, Pflegequalität und Teamkultur miteinander verbindet. Dieses Modell basiert auf fünf Grundprinzipien: Datenbasierung, Verantwortungsdelegation, Führbarkeit, Transparenz und Wirkungskontrolle. Ziel ist es, Führung systemisch zu ermöglichen – nicht durch mehr Kontrolle, sondern durch bessere Orientierung. Wir glauben: Führung ist kein Talent, sondern ein Handwerk. Ein Handwerk, das man lernen, entwickeln und kultivieren kann – und das die Pflege der Zukunft dringend braucht.

Damit diese Pflege der Zukunft möglich wird, braucht es jedoch mehr als gute Führung und effiziente Strukturen. Es braucht politische Koordination, Investitionssicherheit und ein neues Verständnis von Versorgungsgestaltung. Pflegeeinrichtungen wie die unseren übernehmen Verantwortung für ein Drittel der pflegebedürftigen Bevölkerung. Doch sie werden im politischen Diskurs häufig als privatwirtschaftliche Anbieter mit Eigeninteresse gesehen, nicht als Träger einer kritischen Infrastruktur. Das muss sich ändern.

Wir sind bereit, uns regional zu vernetzen, mit Kommunen zusammenzuarbeiten, Übergänge mit Krankenhäusern zu koordinieren und neue Versorgungsmodelle mitzugestalten. Aber dafür braucht es klare Rollen, verlässliche Partner und politische Strukturen, die Kooperationen fördern statt hemmen. Wenn Pflege in Zukunft systemisch funktionieren soll, dann muss sie auch systemisch gedacht und organisiert werden – und das beginnt mit einem ordnungspolitischen Rahmen, der Versorgungsziele definiert, Zuständigkeiten klärt und Träger stärkt, statt sie zu fragmentieren.

Wir stehen heute an einem Wendepunkt. Unser Turnaround hat bewiesen, dass auch unter schwierigsten Bedingungen eine wirtschaftlich tragfähige und qualitativ hochwertige Pflege möglich ist – wenn man bereit ist, die Dinge neu zu denken. Doch wir wissen auch: Nicht jeder Träger hat die Ressourcen, die Tiefe oder den strukturellen Rückhalt, um diesen Weg allein zu gehen. Deshalb ist es jetzt an der Politik, zu handeln. Es braucht keine weiteren Sonntagsreden über die Bedeutung der Pflege. Es braucht entschlossenes, strukturell durchdachtes Handeln: einen verlässlichen Ordnungsrahmen, partnerschaftliche Refinanzierung, pragmatische Entbürokratisierung und ein gemeinsames Verständnis von Verantwortung in der Versorgung.

Pflege ist systemrelevant. Jetzt braucht sie ein System, das trägt.


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