01.07.2020
Neue Rolle für Apotheker in integrierten regionalen Versorgungssystemen – das Potenzial ist groß
Beispiele zu Pharmaceutical Care aus den USA, Schottland und Deutschland
Dr. h. c. Helmut Hildebrandt
Alpana Mair
Lauren F. Lyles-Stolz
Die klassische Arbeitsteilung zwischen Pharmazie und Medizin bricht immer mehr auf, interprofessionelle Kooperationen nehmen zu. Diese Entwicklung ist ein internationaler Prozess, der sich in den kommenden Jahren weiter verstärken wird. Auch in Deutschland sollten wir das Potenzial nutzen. Denn gerade in regionalen, value-based orientierten Gesundheitsnetzwerken könnten Apotheker als „Medikamentenexperten“ eine wichtige Rolle übernehmen, zum Beispiel in der kontinuierlichen Begleitung chronisch kranker Patienten. Diese Abhandlung[1] beschreibt den Beitrag von Apothekern für die Optimierung der Gesundheitsversorgung in den USA und Schottland sowie die ersten Schritte zur Integration von Apothekern in die Organisation regionaler Versorgungsmodelle in Deutschland.
Die Rollen und Aufgaben der unterschiedlichen Berufsgruppen und Einrichtungen im Gesundheitswesen verändern sich in allen entwickelten Ländern. Dies hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen: steigende Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheitsversorgung, neue digitale Möglichkeiten, stetige Weiterentwicklung von Arbeitsteilung, Entwicklung im medizinisch-pharmazeutischen Wissen und aufkommender Fachkräftemangel. International erfährt dabei der Trend zu einer neuen Form der Integration der Gesundheitsversorgung mehr und mehr Aufmerksamkeit, die Stichwörter lauten Integrated Healthcare Delivery [1] und Population Health Management (PHM), also Management der Bevölkerungsgesundheit [2]. Dabei geht es um Versorgungsformen, die versuchen, drei Zieldimensionen zugleich zu erreichen: Verbesserung des Gesundheitsstatus der Bevölkerung, eine gute und patientennahe Organisation der Versorgung und möglichst geringe Gesamtkosten (Triple Aim) [3]. Oft wird hierfür die Organisation der Versorgung durch eine regionale Managementstruktur verändert, die über ergebnisorientierte Verträge wie z. B. regionale Budgetmitverantwortung ein wirtschaftliches Interesse an den obigen drei Zielen erhält. International gibt es diverse innovative Ansätze von PHM durch Netzwerke von Apothekern, von denen hier einige vorgestellt werden.
Das Potenzial ist hoch: Es wird geschätzt, dass weltweit 3 bis 6 Prozent aller Krankenhauseinweisungen auf Medikamente zurückzuführen sind. In den USA reichen die Zahlen von 2 bis 19 Prozent und in Großbritannien von bis zu 11 Prozent (1,16 bis 18 Prozent). Würde man letztere Zahl auf die Europäische Union hochrechnen, gäbe es 8,6 Millionen ungeplante Einweisungen aufgrund von medikamentenbedingten Nebenwirkungen, von denen die Hälfte vermeidbar wäre. Mindestens 70 Prozent der ungeplanten Einlieferungen entfielen auf Personen über 65 Jahre, die fünf oder mehr Medikamente einnehmen.
Elemente von Population Health Management
Abbildung 1: Elemente von Population Health Management. Lauren F. Lyles © 2019
Erfahrungen aus den USA: Studien zeigen deutliche Verbesserung des Gesundheitszustands
Rund 21.909 unabhängige Gemeindeapotheken (Community Pharmacists) gibt es weiterhin in den USA, auch wenn zusätzlich mehr als 40.000 Apotheken über Firmenketten organisiert sind. Zirka 1.800 unabhängige Apotheken dienen in ihrer Gemeinde als einzige Apothekenanbieter vor Ort. [14,15] Während chronische Patienten ihre Apotheke etwa 35 Mal pro Jahr besuchen, sind dieselben Patienten durchschnittlich nur 3,5 Mal pro Jahr in ihrer behandelnden Arztpraxis. Immer wieder wurde daher überlegt, ob Apotheken sich nicht sinnvoll mit Integrierten Versorgungslösungen und Triple Aim-Modellen kombinieren lassen [16-18].
Das Center for Medicare and Medicaid des U.S. Department of Health and Human Services unterstützt dies, zum einen indem es sich für erweiterte Apothekerleistungen (Pharmaceutical Care Services) einsetzt, zum anderen indem Vereinbarungen über die Zusammenarbeit mit Ärzten (Collaborative Practice Agreements, CPAs) sowie andere Partnerschaften ermöglicht werden.
Vielerorts wurden mittlerweile CPAs zwischen Krankenkassen, Ärzten bzw. Accountable Care-Organisationen und lokalen Apotheken vereinbart. Ein Beispiel: Apotheker in Ohio können im Rahmen einer CPA mit mehreren Anbietern Verträge abschließen, um das vollständige Arzneimittelprofil des Patienten zu verwalten, Labortests in Auftrag zu geben und Arzneimittel auf Grundlage der Ergebnisse zu modifizieren.
Die Chisholm-Burns-Studie von 2010 zeigt, dass sich der Gesundheitszustand der Patienten hinsichtlich Blutdruck, Hämoglobin A1C, Cholesterin und unerwünschter Arzneimittelwirkungen deutlich verbessert, wenn die Apotheker gemeinsam mit Ärzten und anderen Akteuren den gesamten Patienten betreuen.
Eine der meistzitierten Studien für die Betreuung von Patienten durch Apotheken ist das Asheville-Projekt mit dem „Patient Self-Management Program for Diabetes“ [15-17] und die „Diabetes Ten City Challenge“. Letztere ging zurück auf die Arbeitgeber, die damit versucht haben, die Gesundheit ihrer Angestellten bzgl. chronischer Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck und hohem Cholesterinspiegel besser zu managen. Gemeindeapotheker haben dazu mit Ärzten und Pflegekräften Versorgungsteams gebildet. Die Ergebnisse waren erhebliche Einsparungen, eine gesundere Bevölkerung und verbesserte Präventionsmaßnahmen [18]. Herausforderungen bestehen allerdings in den USA weiterhin bei der Kostenerstattung, bei dem begrenzten Zugang der Apotheker zu elektronischen Patientenakten (EPA) und bzgl. der interprofessionellen Akzeptanz der Gesundheitsberufe untereinander.
Ein besonders erfolgreiches Beispiel ist das Community Pharmacy Enhanced Services Network (CPESN® USA). Damit wurde ein klinisch integriertes Apothekennetzwerk mit über 2000 Apotheken ab März 2019 geschaffen. Jede teilnehmende gemeindebasierte Apotheke des CPESN wird darin unterstützt, folgende Leistungen im Bereich Pharmaceutical Care anzubieten [19]:
- spezielle pharmazeutische Patientenberatung (z. B. Medikamentenüberprüfungen, Arzneimittelsynchronisation, Führung einer Medikationsakte)
- Impfungen
- zusätzliche innovative Dienste wie z. B. Unterstützung für Opioid-Patienten und Aufklärung von Ärzten wie Patienten, Unterstützung für HIV-Patienten
- Teilnahme an Disease Management-Programmen zu Diabetes, Bluthochdruck, Asthma, COPD oder Herzinsuffizienz
CPESN USA entwickelte den Pharmacist eCare-Plan als Plattform, um die Effekte der Interventionen der Apotheker und ihrer Patienten zu erfassen (Patientenziele, Medikamentenliste und medikationsbezogene Probleme) und darauf aufbauend ergebnisbezogene Vergütungen zu arrangieren. Mit Hilfe des eCare-Plans werden darüber hinaus Gesundheitsinformationen zwischen verschiedenen Apotheken ausgetauscht [20]. Der künftige Stand des Pharmacist eCare-Plans geht über die Aufzeichnung hinaus und nutzt seine Interoperabilität für die Kommunikation der Interventionen von Apotheken mit anderen Netzwerken, gemeindebasierten Apotheken und Partnern wie z. B. Accountable Care-Organisationen, Kliniken für die Primärversorgung.
Errungenschaften in Schottland: Apotheker als Partner in Arztpraxen zur Sicherstellung eines optimalen Polypharmazie-Managements
2012 wurde die erste Scottish Polypharmacy Guidance, ein Leitfaden der schottischen Regierung, veröffentlicht, die Apotheker und Allgemeinmediziner anweist, das Problem der Polypharmazie bei älteren, insbesondere gebrechlichen Menschen durch Polypharmazie-Management-Dienstleistungen und Interventionen anzugehen. Um eine angemessene Überprüfung der Polypharmazie zu standardisieren, wurde ein siebenstufiger Prozess mit der Schlüsselfrage „What matters“ entwickelt. (Abb. 1) Dies betont die Elemente des bevölkerungsbezogenen Gesundheitsmanagements wie Patientenaufklärung und koordinierte Versorgung, die sicherstellen, dass die Patienten eine aktive Rolle bei der Überprüfung einnehmen und an der gemeinsamen Entscheidungsfindung beteiligt werden. [20]
Abbildung 2
Es wurde außerdem eine mobile App inklusive Website[2] entwickelt, die Angehörige der Gesundheitsberufe, Patienten und Pflegekräfte dabei unterstützt, auf der Grundlage des Polypharmazie-Leitfadens der schottischen Regierung gemeinsame Entscheidungen über Arzneimittel zu treffen.
Im Jahr 2013 wurde die Umsetzung der Richtlinie auch in den Vertrag für Allgemeinmediziner in Schottland aufgenommen. Die wirtschaftliche Bewertung der einzelnen Leitlinien hat gezeigt, dass die Überprüfungen der Polypharmazie die Anzahl der Medikamente, die der Einzelne einnimmt, um 1 bis 2 Medikamente pro Person reduziert und damit etwa 120 £ pro Person und Jahr eingespart hat. Um Verbesserungen zu erfassen, wurden Indikatoren entwickelt. Ein Beispiel dafür ist die Rate des kombinierten Einsatzes von nicht-steroidalen Entzündungshemmern, Diuretika und Angiotensin-konvertierenden Enzyminhibitoren.
Im Jahr 2013 wurde der Prescription for Excellence-Aktionsplan veröffentlicht, um eine verbesserte koordinierte Versorgung zwischen Apothekern, Ärzten und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen zu fördern und ein angemessenes Management von Mehrfacherkrankungen, insbesondere das Medikamentenmanagement, zu unterstützen. Apotheker müssen sich zu unabhängigen „Verschreibern“ ausbilden lassen, um diese Dienstleistungen umzusetzen und mit den Allgemeinärzten partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Nach der Zusatzqualifizierung sollten die Apotheker in der Lage sein, Patienten mit Multimedikation und Multimorbidität direkt in den Arztpraxen zu übernehmen und ihre Arzneimittelversorgung zu managen. Dies schafft eine Autonomie, Medikamente zu wechseln und zu überprüfen, während gleichzeitig Kapazitäten in der Allgemeinmedizin und im Krankenhausbereich frei werden, um mehr Patienten zu betreuen.
Angesichts des steigenden Bedarfs an Primärversorgung aufgrund einer alternden Bevölkerung und der zunehmenden Zahl eingenommener Medikamente hat sich der Kabinettsstaatssekretär für Gesundheit verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Apotheker in die Praxis der Primärversorgung integriert werden. Dies betrifft zukünftig alle Praxen von Allgemeinmedizinern in ganz Schottland. Der Aktionsplan betont auch, dass die Verbesserung der angemessenen Verschreibung in allen Bereichen der Gesundheits- und Sozialfürsorge erfolgen sollte. Wie wichtig dies ist, zeigen die Apotheker von Primärversorgungspraxen, die sich an die obdachlose Bevölkerung wenden und klinische Interventionen zur Verbesserung der Ergebnisse der Bevölkerung anbieten. In einer Pilotstudie mit 46 Patienten in Obdachlosenunterkünften wurden beispielsweise eine Reihe von Interventionen für die obdachlose Bevölkerung unter der Leitung von Apothekern durchgeführt, u. a.: Medikamentenmanagement, Management des Krankheitszustands, Screening von Patienten mit COPD und Dienstleistungen zur Schmerzbehandlung.
In Schottland wurden die Apotheker zusätzlich zu ihren klinischen Fähigkeiten geschult und als unabhängige Verschreiber ausgebildet, d. h. sie sind in der Lage, Arzneimittel für ihre Patientenpopulation zu verschreiben und zu ändern. Die transformative Prescription for Excellence-Politik für die Verschreibungsbefugnis von Apothekern in der Hausarztpraxis wurde in ganz Großbritannien übernommen. Im Rahmen der Projekte kamen die Verantwortlichen zu der Schlussfolgerung, dass zusatzqualifizierte Gemeindeapotheker nicht nur in Praxen oder Kliniken sondern auch in der Apotheke selbst in einer idealen Position sind, um erste Anlaufstelle für chronisch kranke und multimorbide Patienten im Hinblick auf Polypharmazie zu sein. Derzeit wird diese spezielle Art von Pharmaceutical Care weiter ausgearbeitet, beginnend mit dem Management einfacher Harnwegsinfektionen, der Unterstützung von Selbstmanagementplänen für COPD und der Behandlung von Impetigo. Die Erwartung ist, dass damit fehlende Arztstellen zumindest in Teilen substituiert werden können. [24]
Erfahrungen und Trends innerhalb Deutschlands
Obwohl Population Health Management in der Wissenschaft ausführlich diskutiert wird und eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Sektoren im Gesundheitswesen im Koalitionsvertrag der Bundesregierung zur Zielsetzung erklärt wurde, gibt es bisher nur wenige Initiativen, die dies regional umsetzen. Einige von ihnen wurden evaluiert und konnten bereits ihren Proof of Concept erbringen wie z. B. das seit 15 Jahren bestehende Integrierte Versorgungssystem Gesundes Kinzigtal mit der AOK-Baden-Württemberg und der SVLFG Baden-Württemberg als Partner. An der Gesundes Kinzigtal GmbH ist neben dem regionalen Ärztenetz Medizinisches Qualitätsnetz – Ärzteinitiative Kinzigtal (MQNK) OptiMedis beteiligt, ein auf Population Health Management und dessen wissenschaftliche Unterstützung ausgerichtetes Unternehmen [25].
Gesundes Kinzigtal – Einbeziehung von Apothekern in die Integrierte Versorgung
Die Gesundes Kinzigtal GmbH hat ein Gesundheitsnetzwerk mit zahlreichen lokalen Partnern aufgebaut und setzt im Rahmen eines Einsparcontracting-Vertrags[3] mit den Krankenkassen diverse Maßnahmen zu Prävention, Gesundheits- und Versorgungsmanagement, Gesundheitsförderung etc. um. In den vergangenen Jahren wurden (und werden) auch Apotheker vermehrt in die Arbeit einbezogen, u. a. durch:
- Kontinuierliche Teilnahme von zwei Apothekervertretern der örtlichen Apotheken und der Apotheker des Ortenauklinikums (lokales Schwerpunktkrankenhaus) an einer Arzneimittelkommission und Diskussion von Datenauswertungen zur Arzneimittelversorgung der betroffenen Bevölkerung (zirka zwei Sitzungen pro Jahr).
- Raucherentwöhnungsprogramm im Kinzigtal durch direkte Bezahlung der Abgabe von Vareniclin an die Programmteilnehmer durch Gesundes Kinzigtal.
- Forschungsprojekt zur Bereitstellung von Medikamenten-Blisterpackungen für zirka 100 chronisch kranke Patienten, die mit mehr als vier Medikamenten behandelt werden.
- Schulung mehrerer lokaler Apotheker in der Arzneimitteltherapiesicherheit (ATHINA-Projekt) gemeinsam mit dem Landesapothekerverein Baden-Württemberg und Subventionierung von Einzelprüfungen.
- Test der Überweisung chronisch kranker Patienten durch Apotheker zu einem speziellen Patienten- und Präventionscoaching.
Allerdings konnten, ähnlich wie in anderen Projekten, die gegenseitigen Abgrenzungen zwischen Ärzte- und Apothekerschaft nur zum Teil überwunden werden. So wurde der Test der Überweisung chronisch kranker Patienten durch Apotheker zu einem speziellen Patienten- und Präventionscoaching nach einiger Zeit eingestellt, da die Beteiligung zu gering war. Und auch in das von Ärzten sehr geschätzte Arzneimittelkonsil unter Leitung eines Pharmakologen des Universitätsklinikums Mannheim sind die Apotheker bisher noch nicht einbezogen, dies soll sich aber künftig ändern. Für die Zukunft ist ebenfalls geplant, den Apothekern das Praxis-TV von Gesundes Kinzigtal anzubieten. Traditionell ist die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Apothekern in Deutschland auf positive Einzelfälle beschränkt, während sie auf Verbandsebene mit gegenseitigen Vorbehalten und Abgrenzungen belastet ist. Insofern ist selbst die begrenzte Integration der Apotheker im Kinzigtal der normalen Zusammenarbeit zwischen Apothekern und Ärzten weit voraus. [32].
Gesunder Werra-Meißner-Kreis – Integration von Apothekern von Anfang an
OptiMedis startete im Januar 2019 ein weiteres Integriertes Versorgungssystem ähnlich Gesundes Kinzigtal im nordhessischen Werra-Meißner-Kreis. Grundlage ist ein Einsparcontracting mit der lokal starken BKK Werra-Meissner. Von Anfang an wurde hier eine enge Partnerschaft mit den Apotheken verfolgt. Folgende Ansätze wurden dafür entwickelt:
Abbildung 3: Partnerschaftslösungen mit Apothekern für ein regionales integriertes Gesundheitsmanagement der Bevölkerung: ©Helmut Hildebrandt, OptiMedis 2019
Die Gesunder Werra-Meißner-Kreis GmbH hat dazu ein alternatives Vergütungsmodell für Apotheker entwickelt, die sich an diesen Ansätzen und an den Aktivitäten des Gesundheitsmanagements für die Bevölkerung im Landkreis beteiligen. Die Vergütung ist zunächst leistungsbezogen (z. B. für die Beratung durch die Gesundheitslotsen, die Teilnahme an Schulungen etc.), soll später aber zusätzlich ergebnisorientiert ausgestaltet werden [33].
Optimierung von Unter-, Über- und suboptimaler Versorgung durch den FORTA-Algorithmus
Gleichzeitig arbeitet OptiMedis daran, das polypharmazeutische Klassifikationsinstrument „FORTA = Fit for the Aged“ mittels Algorithmen und künstlicher Intelligenz weiterzuentwickeln. Es kann Ärzte und Apotheker dabei unterstützen, für mehrfach erkrankte ältere Patienten die am besten geeignetste Medikation einzusetzen [34]. FORTA ist eine diagnoseabhängige Positiv- und Negativbewertung von Arzneimitteln bzw. Substanzen, die ältere Patienten häufig und in der Regel länger als vier Wochen erhalten. Insgesamt wurden darin bereits über 225 Substanzen bzw. Substanzgruppen in 25 Diagnosegruppen anhand der wissenschaftlichen Evidenz bezüglich Sicherheit, Effektivität und der allgemeinen Angemessenheit im Alter in vier Kategorien bewertet:
- A = Unverzichtbar (Absolutely)
- B = Vorteilhaft (Beneficial)
- C = Fragwürdig (Careful)
- D = Zu vermeiden (Don‘t)
Ziel ist die Aufdeckung von Unter-, Über- und suboptimaler Versorgung mit Arzneimitteln und die Hilfestellung bei der optimalen Medikation.
Nach klinischer Validierung der Sinnhaftigkeit des FORTA-Konzepts wurde der Algorithmus dementsprechend entwickelt und auf regionaler Ebene getestet. Grundlage waren GKV-Routinedaten von Krankenkassen in Verbindung mit Integrierten Versorgungssystemen im Kontext von OptiMedis. Für die Testregionen Gesundes Kinzigtal und Gesundheit für Billstedt/Horn – das zweite von OptiMedis gemeinsam mit Partnern konzipierte Integrierte Versorgungssystem – ermittelte der Algorithmus durchschnittlich etwas mehr als 4 Abweichungen von den FORTA-Empfehlungen pro Patient ab 65 Jahren [35,36]. Bei Gesundes Kinzigtal und im Gesunden Werra-Meißner-Kreis soll der entwickelte Algorithmus weiter ausgearbeitet werden, sodass Ärzte und Apotheker dieses Softwaretool in naher Zukunft im Alltag direkt nutzen können. Im Kinzigtal soll künftig ein Kennzahlensystem die Daten der Leistungspartner-Praxen analysieren, einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess steuern und gleichzeitig Interventionen wie das Arzneimittelkonsil evaluieren. Auch hier werden die FORTA-Analysen eine wichtige Rolle spielen.
Neues Bundesgesetz über die Möglichkeiten der Vergütung von pharmazeutischen Dienstleistungen
Die Diskussion über die Sicherung der medizinischen Versorgung der Menschen in ländlichen Gebieten hat u. a. die Politik dazu geführt, neue Versorgungsformen von pharmazeutischen Dienstleistungen und deren Vergütung unabhängig von dem Preis eines Arzneimittels zu ermöglichen [Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken, 2019]. Der Mangel an Ärzten und anderen medizinischen Fachkräften sowie die Kritik an der eigenen Handlungsbeschränkung auf die reine Abgabe von Arzneimitteln führte schon über längere Zeit zu einem Nachdenken innerhalb der Standesvertretung der Apothekerschaft über die optimale Arbeitsteilung zwischen Apothekern und Ärzten. Fragen sind z. B.:
- Können die relativ niedrigen Raten an gegen Grippe geimpften Senioren durch eine niedrigschwelligere Grippeschutzimpfung in Apotheken verbessert werden?
- Können Apotheker chronisch Kranke im Disease-Management beraten und einen optimierten Medikamenteneinsatz unterstützen?
- Kann die Verschreibung von Medikamenten für die chronische Pflege für einen bestimmten Zeitraum wiederholt werden, damit der Patient nicht unnötig oft die Arztpraxis aufsuchen muss?
Die mit 150 Millionen Euro ausgestatteten neuen Möglichkeiten im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken harren noch ihrer Ausführungsbestimmungen, allerdings haben die Ärzteorganisationen sich schon mehrheitlich negativ positioniert, sodass sich hier noch weiterer Diskussionsbedarf andeutet.
Erste Schlussfolgerungen und Ausblick
Die Arbeitskräfteknappheit im Bereich der Ärzteschaft, die Weiterentwicklung des pharmakologisch-medizinischen Wissens wie aber auch der Trend zu Value-based Healthcare und damit zu Einsparcontracting-Verträgen und anderen Formen der Übernahme von Budgetmitverantwortung auf regionaler Ebene sind starke Strömungen, die die Entwicklung von Pharmaceutical Care-Dienstleistungen international fördern. Dass Apotheker derzeit international meist ihren Verdienst zumindest teilweise aus dem Umsatz an Arzneimitteln erzielen und dadurch immer dem Verdacht unterliegen, nur an dessen Mehrung ein Interesse zu haben, hat sich lange Zeit als Hemmnis für die Entwicklung von Pharmaceutical Care-Dienstleistungen dargestellt. Erst mit der Entwicklung eines anderen Geschäftsmodells, das wie die Einsparcontracting bzw. Shared Benefit/Shared Savings-Modelle von OptiMedis in Deutschland oder England bzw. den Accountable Care Organisationen in den USA, das bessere Gesundheitsergebnis für eine Bevölkerung zum Ausgangspunkt einer Vergütung macht, entsteht ein Ausweg aus diesem potenziellen Interessenkonflikt.
Apotheker sind aufgrund ihres pharmazeutisch-medizinischen Knowhows und ihrer niedrigschwelligen Zugänglichkeit für die Patienten ein wesentlicher Teil des Gesundheitswesens. Sie wissen um die praktischen Bedürfnisse der Patienten oft unmittelbarer als manch andere Spezialisten. Gleichzeitig können sie aufgrund ihrer betriebswirtschaftlichen Kenntnisse mit den Modellen von Value-based Healthcare und Einsparcontracting-Verträgen auch Verantwortung für regionale Lösungen von Budgetmitverantwortung übernehmen. Darüber hinaus kann qualifiziertes Personal in den Apotheken auch bei Gesundheitscoachings unterstützen.
Für Deutschland könnten die Anreize aus dem Gesetz zur Stärkung der Vor-Ort-Apotheken mit den darin vorgesehenen 150 Millionen Euro für pharmazeutische Dienstleistungen einen Entwicklungsschub bieten, die Beteiligung oder auch das Management von Verträgen zur Integrierten Versorgung steht Apothekern auch heute schon offen. So plant OptiMedis zusammen mit einem Apotheker in einer anderen Region Nordhessens aktuell einen weiteren regionalen Managementvertrag mit Krankenkassen und auf Grundlage eines Einsparcontractings (unterstützt durch einen Großbetrieb in der Region, der für seine Mitarbeiter einen besseren Gesundheitsstatus anstrebt, und in Kooperation mit einem Ärztenetz). Weitere ähnliche Kooerpationslösungen mit Apothekern sind in Sachsen und in Bade-Württemberg im Gespräch. Diese bereits in der Initiierung konzipierte pharmazeutische Beteiligung könnte ein weiterer, wichtiger Schritt in der Entwicklung regionaler populationsorientierter Versorgung und damit beispielgebend für Deutschland sein.
[1] Der Artikel ist eine überarbeitete Fassung eines englischsprachigen Aufsatzes in der Zeitschrift „International Journal of Integrated Care, https://www.ijic.org/
[2] http://www.polypharmacy.scot.nhs.uk/polypharmacy-guidance-medicines-review/
[3] Einsparcontracting heißt in diesem Fall, dass die Gesundes Kinzigtal GmbH Prävention und Versorgung der Versicherten mit eigenem Investment, gezielten Anreizen, Datenanalysen und Nudging-Konzepten optimiert und im Erfolgsfall einen Anteil der daraus entstehenden Minderausgaben der Krankenkassen gegenüber Referenzwerten rückwirkend von den Kassen als Vergütung erhält (analoge Modelle gibt es z. B. im Energieeffizienz-Einsparcontracting [28] und in den sogenannten Shared Savings-Verträgen zwischen Krankenkassen und Pharmaindustrie [29]).
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- Kurzlechner, W.: Selektivverträge: Apotheker bleiben außen vor. Pharmazeutische Zeitung 9.3.2010: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-102010/apotheker-bleiben-aussen-vor/
- vgl.: https://gesunder-wmk.de/partner/#partner-netzwerk
- Wehling M, Burkhardt H, Kuhn-Thiel A et al. VALFORTA: A Randomized Trial to Validate the FORTA (Fit fOR The Aged) classification. Age Ageing. 2016;45:262-7
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Dr. h. c. Helmut Hildebrandt
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