09.10.2024
Neue Honorarpauschalen für die Hausärzte
Eine faktenbasierte Kommentierung und viele offene Fragen
Susanne Müller, Geschäftsführerin Bundesverband Medizinische Versorgungszentren (BMVZ)
Das GVSG biegt in den nächsten Wochen auf die parlamentarische Zielgerade ein. Mit ihm soll nicht nur die Entbudgetierung der Allgemeinmedizin, sondern auch eine weitreichende Reform der hausärztlichen Honorare kommen. Umstrittener Kern ist die Umstellung auf Jahrespauschalen und die Anbindung der Vorhaltefinanzierung an konkrete Leistungsvoraussetzungen. Wer hier allerdings allein auf die daraus resultierende Umverteilungswirkung schaut, verpasst möglicherweise die Chancen, die diesem Reformansatz innewohnen. Voraussetzung ist allerdings, dass nicht nur plakativen Überschriften der Debatte Gehör finden, sondern Zielstellung und Wirkmechanismen trotz aller Komplexität genau hinterfragt werden. Als Anstoß dazu bietet diese Analyse eine faktenbasierte Kommentierung des Gesetzesentwurfes.
Am 22. Mai 2024 hat die Bundesregierung den parlamentarischen Beratungsprozess für das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune – kurz GVSG – gestartet. Darin enthalten ist die schon seit drei Jahren angekündigte Entbudgetierung der Allgemeinmedizin, die allerdings neu mit den zusätzlichen Vorhaben
(1) die Chronikerbetreuung künftig jahres- statt quartalsbezogen zu honorieren sowie
(2) eine erstmals leistungsgebundene Vorhaltefinanzierung für Hausarztpraxen einzuführen verbunden werden soll.
Die Vorgaben zu dieser allgemeinen „Vorhaltepauschale“ sowie zur Neukonzipierung der Chronikerpauschale, die im Gesetz als „Versorgungspauschale“ bezeichnet wird, da in ihr sowohl die bisherige Versichertenpauschale als auch die heutige Chronikerpauschale aufgehen sollen, wurden Ende März 2024 erstmals konkret veröffentlicht. In der Folge ist unmittelbar und bis heute anhaltend ein Deutungsstreit ausgebrochen, ob diese neuen Pauschalen mehr Chance oder mehr Gefahr für das hausärztliche Einkommen bedeuten.
Der Verband der in erster Linie betroffenen Hausärzt:innen (HÄV) kommentierte die Pläne vergleichsweise entspannt, und hielt es bereits in einer Pressemeldung vom April ‚für eine gute Nachricht, dass der Entwurf viele wichtige und dringend notwendige Reformvorhaben adressiert, die die hausärztliche Versorgung nachhaltig stärken könnten.‘ Dagegen fiel die unmittelbare Reaktion der für die Honorarverhandlungen ärztlicherseits zuständigen Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) kritischer aus. In einem von der KBV dazu beauftragten Zi-Paper wurde das Vorhaben im April vergleichsweise drastisch als ‚Abrissbirne der hausärztlichen Versorgung‘ eingestuft. Der Regierungsentwurf vom Mai bekam dann das KBV-Prädikat: ‚Etwas positiver, aber längst keine Entwarnung!‘ (KBV v. 22.05.2024) Dieser Wertungsunterschied liegt nicht allein daran, dass die KBV, anders als der monothematische Hausärzteverband, divergierende Interessen ausgleichen muss und daher auch für alle anderen Fachgruppen Verbesserungen einzufordern versucht. Vielmehr fällt auf, dass KBV und HÄV in dieser speziellen Frage unterschiedliche Zielparameter anzulegen scheinen. Eine Entwicklung, die sich schon seit Herbst 2023 abzeichnete und seitdem anhält.
Um diese Einschätzungsdissonanz einordnen zu können, lohnt es, einen Schritt zurückzugehen und statt der Reaktion der Ärzteschaft die Quelle des Ganzen zu betrachten: den offiziellen Regierungsentwurf für das GVSG. Denn wie so oft bei komplexen Reformen gilt auch in dieser Frage: Kaum einer hat die Details wirklich gelesen und/oder gar verstanden, welche Folgen sie haben werden oder haben könnten. Diskutiert wird somit primär über Schlagzeilen und Überschriften, die dadurch nicht selten ein Eigenleben entwickeln. Im Folgenden werden daher, um dem entgegenzuwirken – ausgehend von der originären Analyse des Gesetzesentwurfes – möglichst wertfrei die erwartbaren Konsequenzen abgeleitet und hinterfragt.
CAVE! Es besteht eine gewisse Verwechslungsgefahr zwischen den drei Begriffen der Versicherten-, Versorgungs- und Vorhaltepauschale. Das kann in der Debatte schnell zu Missverständnissen führen – eine saubere Zuordnung und Ansage, wovon jeweils die Rede ist, ist also Pflicht.
Plandetails Vorhaltepauschale
In § 87 SGB V soll ein zusätzlicher Paragraf 2q eingeführt werden, der regelt, dass der Bewertungsausschuss innerhalb eines Vierteljahres nach Inkratfttreten „eine Vergütung zur Vorhaltung der zur Erfüllung von Aufgaben der hausärztlichen Grundversorgung notwendigen Strukturen“ (S. 13 im Entwurf) beschließt. Diese soll als Jahreshonorar gewährt werden und damit gerade nicht – wie bisher – der Quartalslogik folgen. Gleichzeitig soll ihre Gewährung an die Erfüllung versorgungsbezogener Kriterien geknüpft werden, wodurch Hausärzten, die diese Kriterien nicht erfüllen, eine Minderhonorierung droht. Welche Kriterien sich das BMG vorstellt, wird allerdings nicht im Gesetzestext selbst, sondern nur in der Begründung (S. 48f) näher ausgeführt. Dort wird auch darauf verwiesen, dass die dann neuen Kriterien auch für die Ansetzung inhaltlich ähnlicher Pauschalen, wie die derzeit bereits im EBM enthaltene GOP 03040 gelten sollen.
Bei dieser derzeit mit gut 16 € bewerteten Vorhaltepauschale erschöpft sich die Leistungslegende in der inhaltsleeren Verpflichtung, die „zur Erfüllung von Aufgaben der hausärztlichen Grundversorgung notwendigen Strukturen“ vorzuhalten. Sie kann also als weitgehende bedingungslose Aufwandsentschädigung für den hausärztlichen Versorgungsauftrag verstanden werden. Dementgegen sollen künftig ausweislich der Gesetzesbegründung Mindestbedingungen als Anspruchsvoraussetzungen definiert werden. Diese zielen auf eine gute bzw. verbesserte Basisversorgung und -erreichbarkeit der Hausärzte ab. Angedacht sind etwa Mindestvorgaben zur Fallzahl und die Vorschrift, dass auch Hausbesuche und Abendsprechstunden zum Regelangebot gehören sollten. Im Gesamten lassen sich diese verschiedenen vom BMG angeführten Parameter durchaus als patientenorientiert zusammenfassen. Insofern wirkt die über das eingangs erwähnte Zi-Paper ausgedrückte Gegenwehr der KBV, die im Wesentlichen auf dem Argument fußte, dass es auch Hausärzt:innen gäbe, die – bezogen auf eine Vollzeitstelle – weniger als die Hälfte der Durchschnittspatientenzahl versorgen oder sich nicht zu einer „regelmäßigen, monatlichen Abendsprechstunde“ imstande sehen, bzw. die sich Hausbesuchen bei (sehr) alten Patienten verweigern, irgendwie … stark arztzentriert und wenig patientenfreundlich.
Trotzdem wurden die im ursprünglichen Referentenentwurf vom 12. April 2024 enthaltenen Kriterien in Reaktion auf die KBV-Proteste bereits maßgeblich aufgeweicht, weswegen der hier besprochene Regierungsentwurf vom 22. Mai ohne jede zahlenmäßige Vorgabe auskommt. Tatsächlich hat sich das BMG soweit zurückgezogen, dass nur noch von bedarfsgerechten Fallzahlen, bedarfsgerechten Sprechzeiten und bedarfsgerechten Hausbesuchsquoten, etc. gesprochen wird. Außerdem gehört die Nutzung der ePA und die Pflege des Medikationsplans zu den Bedingungen, die das BMG gern an die Gewährung dieser Vorhaltepauschale knüpfen würde. Letzteres sind allerdings Anforderungen, die ohnehin jeder Vertragsarzt ab dem nächsten Jahr erfüllen muss. Ihre besondere Erwähnung erfüllt somit vor allem eine psychologische und die Digitalgesetze verstärkende Funktion.
Einschätzung Vorhaltepauschale
Hinter der von Zi und KBV geäußerten Kritik steht spürbar die Einsicht, dass die Einführung einer an konkrete Leistungskriterien gebundenen Vorhaltepauschale zu einer fachbereichsinternen Umverteilung führen wird: Fallzahlschwache Hausärzte hätten Honorareinbußen hinzunehmen, echte Versorgerpraxen bekämen ein Mehr zugestanden. Der KBV ging es somit augenscheinlich darum, Honorarverlierer in jedem Fall zu verhindern. Aber aus Sicht der Bürger und Patienten sowie der besonders fallzahlstarken Ärzte muss die Frage erlaubt sein, ob diese offensichtlich richtig erkannte Steuerungsabsicht des Gesetzes per se als falsch einzustufen ist? Und ob nicht zentral vielmehr die Frage sein wird, wie die Pauschale letztlich im Detail vom Bewertungsausschuss umgesetzt werden wird. Denn das BMG hat diesbezüglich mangels Zuständigkeit bisher nicht mehr getan, als den groben Weg, den es sich vorstellt, zu skizzieren. Alle Detailentscheidungen sollen dagegen in die Hände des Bewertungsausschusses gelegt werden. Dieser besteht aus KBV und GKV-Spitzenverband, die damit die für die Umsetzung der Pauschalen verantwortlichen Akteure sind, bzw. sein werden.
Dieser Umstand, dass also die konkrete Konzipierung der neuen Jahrespauschale und auch der Kriterien, an die sie gebunden werden soll, aktiv von KBV und Kassen gestaltet werden, wird in der Debatte, gerade ärztlicherseits, oft völlig ausgeblendet. Dabei lässt der Gesetzesentwurf ausgesprochen viel Spielraum für die Gestaltungsdetails und benennt z.B. ausdrücklich auch die Option, die neue Vorhaltepauschale der Höhe nach zu staffeln, also z.B. ein Abschlags- oder Zuschlagssystem einzuführen, wenn einzelne Kriterien nicht oder besonders viele erfüllt werden. Mit etwas patientenfokussierter Fantasie bietet also der Auftrag aus dieser Änderungsvorschrift durchaus Chancen, hausärztliche Versorgungsangebote über die Honorierung sinnvoll zu steuern.
Statt diesen Chancenansatz zu verfolgen, analysierte das Zi anhand der GVSG-Fassung vom März/April erst einmal das Gefahrenszenario als Worst Case: „Spielt man die im Gesetzesentwurf genannten Kriterien durch, wären nach aktuellem Stand etwa 2.000 bis 22.000 Praxen davon betroffen, mindestens ein Kriterium für die Vorhaltepauschale nicht zu erfüllen.“ Dazu dürften – und diese Information ist sehr wichtig zu beachten – auch zahlreiche leistungsstarke Hausarztpraxen gehören, die eigentlich als spezialisierte Facharztpraxen z.B. der diabetologischen oder rheumatologischen Versorgung aufgestellt sind – eine indirekte Folge der Bedarfsplanung, die gleichzeitig recht weit verbreitet ist. Hürde für diese oft sehr fallzahlstarken Praxen wäre die ebenfalls vom BMG vorgeschlagene Bedingung, wonach auch die Versorgung von geriatrischen und palliativen Patienten als „hausärztliche Kernleistungen“ eine Anspruchsvoraussetzung der Vorhaltepauschale werden soll. Solche „verkappten“ Facharztpraxen, die unbestritten sehr versorgungsrelevante, gleichwohl atypische, also andere Kernleistungen anbieten, könnten bei einer solchen, starr ausgeführten Regelung tatsächlich große Probleme bekommen. Diesen Praxen drohten somit Honorarkürzungen, die zu ihrer Leistung im krassen Widerspruch stehen, sollten ihre Spezifika nicht spätestens im Bewertungsausschuss besondere Berücksichtigung finden. So gesehen wäre eine Klarstellung direkt im Gesetz, dass die Besonderheiten typischer-atypischer Hausarztpraxen zwingend bei der Umsetzung beachtet werden müssen, ausgesprochen wünschenswert.
Plandetails Versorgungspauschale
In § 87 2b SGB V sollen mehrere Sätze zur neuen Chronikerpauschale hinzugesetzt werden. Konzeptioneller Kern ist bekanntermaßen auch hier die Ablösung des Quartalsbezugs. Als Ziel formuliert das BMG den Wunsch, die „Kapazitäten der Hausärzt:innen effizient zu nutzen, wozu auch gehört, das ärztliches und nicht-ärztliches Personal von aus medizinischer Sicht nicht notwendigen Arzt-/Praxis-Patienten-Kontakten entlastet wird.“ (S. 47). Explizit sprechen dabei Gesetzesentwurf und -begründung hinsichtlich der Zielgruppe allein von chronisch kranken Patienten, die „einer kontinuierlichen Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel“ bedürfen, weshalb auch Bezug darauf genommen wird, dass die derzeitig geltende Quartalslogik die für alle Seiten sinnvolle Option des Ausstellens von Wiederholungsrezepten behindert.
Das Zi-Paper – und in der Folge die KBV-Öffentlichkeitsarbeit – bezieht sich dagegen in den Berechnungen auf sämtliche Chroniker des Abrechnungsjahres 2022, wenn angegeben wird, dass (vorgeblich) 63% der hausärztlichen Honorare umgeschichtet werden sollen. Ein kurzer Faktencheck bei dem ein oder anderen Hausarzt hat jedoch ergeben, dass das Verhältnis von Chronikern mit und ohne Arzneimittelbedarf bei ca. 80 – 85% zu 15 – 20% liegen dürfte, dass also ein knappes Fünftel der bisherigen Chroniker grundsätzlich nicht von dieser neuen Pauschale adressiert wird. Als weitere Bedingung wird zudem in der Gesetzesbegründung formuliert, dass es um genau jene Patienten gehen soll, „die zwar der kontinuierlichen Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel bedürfen, jedoch keinen intensiven Betreuungsaufwand aufweisen.“ D.h. neben den nicht arzneimittelbedürftigen Chronikern sind auch explizit jene nicht gemeint, die einen hohen Betreuungsaufwand erfordern. Die plumpe Kritik, die aus der Zi-Auswertung spricht und einfach sämtliche Chroniker in die Planberechnung mit einbezieht, geht damit doppelt fehl.
Große Unbekannte ist natürlich auch bei dieser Pauschale, was aus dieser Erkenntnis für die Verhandlungen im Bewertungsausschuss folgt. Es drängt sich z.B. die Frage auf, ob die neue jährliche Versorgungspauschale die bisherigen Chronikerzuschläge gemäß GOPs 03220 – 03222 komplett ersetzen soll, oder ob beide Systeme parallel bestehen bleiben. Was Sinn machen könnte, wenn man die notwendige und im Gesetzesentwurf vorgesehene Unterscheidung zwischen Chronikern jeweils mit und ohne Arzneimittelbedarf sowie mit und ohne intensiven Betreuungsaufwand betrachtet.
Auch hier gilt, dass sämtliche konzeptionellen Überlegungen sowie die Ausgestaltung der Umsetzung in die Verantwortung des Bewertungsausschusses gelegt werden soll. D.h. auch die Frage der Parallelität von alter und neuer Chronikerpauschale könnten die Verhandlungspartner bis zu einem gewissen Grad selbst entscheiden. Gleichzeitig wird im Entwurfstext ausdrücklich Spielraum eingeräumt, bei der Pauschalenhöhe mit Stufen zu arbeiten, also die Honorarpauschale z.B. nach Schweregrad oder Krankheitsbild zu differenzieren. Für diese Festlegungen ist eine Frist von sechs Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehen. Wobei das BMG als Zwischenschritt zeitnah die Vorlage des Konzeptes zur Genehmigung einfordert, also eine engmaschige Kontrolle vorsieht, ob die Akteure der Selbstverwaltung hier auch wirklich mit dem gewünschten Ziel konstruktiv zusammenarbeiten.
Einschätzung Versorgungspauschale
Deutlich wird, dass es darum gehen soll, medizinisch unnötige Kontakte in den Arztpraxen mangels Anreiz künftig einfach nicht mehr stattfinden zu lassen. Nimmt man dagegen die Zi-/KBV-Kritik, scheint es eine Umdeutung zu geben, dass Ärzte ihre Chronikerpatienten nicht mehr öfter als einmal jährlich sehen dürfen – oder sich das zumindest betriebswirtschaftlich einfach nicht mehr werden leisten können. Diese Interpretation scheint aber mehr als verwegen und dürfte auch dem Berufsethos der meisten Ärzt:innen widersprechen.
Selbstverständlich muss eine jährliche Chronikerpauschale, in der – wie im Gesetzesentwurf beschrieben – zusätzlich auch die bisherigen Versichertenpauschalen aufgehen sollen, um ein Vielfaches höher ausfallen, als die bisherigen 16 – 20 €. Das muss verhandelt werden. Aber so oder so, ist das dann für jede Praxis eine Mischkalkulation aus Patienten, die wirklich nur ein- oder zweimal kommen (müssen) und solchen, die einer engmaschigeren Betreuung bedürfen. Aber wo ist hier der Unterschied zu bisher? Und für Praxen mit gegebenenfalls überdurchschnittlich betreuungsintensiver Klientel ergibt sich – mindestens der Theorie nach – ein Zusammenspiel mit der neuen Vorhaltepauschale, wenn dort die Stufenoption, die das Gesetz in Spiel bringt, intelligent umgesetzt wird.
Exkurs: Patienten mit mehreren Hausärzten
Natürlich hat die KBV aber recht, wenn sie darauf verweist, dass es rund ein Drittel Patient:innen gibt, die im Bezugsjahr 2022 mehr als einen Hausarzt aufgesucht haben, von denen künftig nur noch einer (der erste) die Versorgungspauschale bekommen soll, weil diese einen auf die nächsten vier Quartale bezogenen Ausschluss auslöst. Vielleicht sollte dieses Problem aber eher auf der Ebene der Patientensteuerung angegangen werden, anstatt es durch eine gießkannenartige Honorierung weiter zu tolerieren. Zusätzlich drängt sich die Frage auf, ob solche Patienten wirklich regelmäßig (und nicht nur einmalig) bei mehr als einer Hausarztpraxis in Betreuung waren und daher tatsächlich mehrfach als Chroniker geführt wurden. Und es ist zu fragen, nimmt man das ausdrücklich genannte Kriterium des Arzneimittelbezugs hinzu, ob all diesen Patienten auch von mehreren Praxen regelmäßig ihre Medikamente quasi doppelt verschrieben wurden. In diesem Fall wäre es auf jeden Fall gesellschaftlich wünschenswert, eine solche Praxis zu unterbinden.
Insgesamt scheint gerade dieser von der KBV besonders herausgestellte Kritikpunkt nicht der Belastbarste zu sein, um zu begründen, warum besser alles beim Alten bleiben sollte. Viel wichtiger scheint dagegen nachzuforschen, inwieweit sich hinter diesen 35 % Patientengut mit Mehrfach-Hausarztkontakten, wie weiter oben schon beschrieben, auch Praxen verbergen, die zwar der hausärztlichen Versorgung zugerechnet werden, die aber eher als Facharztpraxen auftreten und nur umständehalber ‚als zweite Hausarztpraxis‘ abrechnen. Zu denken wären etwa an Behandlungskombinationen aus Hausarzt und bedarfsplanungsrechtlich dem Hausarztbereich zugeordneten Onkologen, Diabetologen, Rheumatologen, etc. Denn jeweils einer die beiden hätten mit der neuen Regelung wirklich ein Problem. Dass solche Kombinationen öfter auftreten, als die meisten denken, liegt im Übrigen schlichtweg daran, dass fachinternistische Sitze anders als Hausarztzulassungen meist Bedarfsplanungssperren unterliegen, weswegen sich spezialisierte Internisten nicht selten notwendigerweise als „Hausarzt“ niederlassen.
Die beiden neuen Pauschalen: Umverteilung und andere Folgen
Das Zi – und gleichlautend die KBV – hat sich frühzeitig darauf festgelegt, dass die Pläne nach dem GVSG „faktisch einer Abrissbirne der hausärztlichen Versorgung insgesamt und insbesondere der hausärztlichen Versorgung der betreuungsintensiven chronisch kranken Versicherten gleich[kommen].“ Allerdings wird bei dieser Betrachtungsweise viel zu wenig die Chance gesehen, die darin liegt, eingefahrene Pfade zu verlassen und die Rahmenbedingungen neu zu denken. Dies gilt selbst unter der limitierenden Bedingung, dass eine reine Budget-Umverteilung anstelle von mehr Geld zwangsläufig auch Honorarverlierer produzieren muss. Hier ist genaues Hinschauen im weiteren Beratungsprozess auf jeden Fall geboten. Ein Grund, den regulatorischen Ansatz von vornherein zu verdammen, ist es jedoch nicht.
Es gibt zwar Krankenkassen, die davon ausgehen (und auch das Zi-Papier basiert auf dieser Annahme), dass eine relevante Zahl an Ärzten die Voraussetzungen für die neuen Pauschalen nicht schaffen könnten und dass es so im Gesamten zu einer Minderanforderung durch die Hausärzteschaft kommen könnte. Die Erwartung, dass so aus Kassensicht die eigentliche Entbudgetierung kompensiert werden könnte, geht aber fehl. Der GVSG-Entwurf schreibt klar vor, dass für nicht verteilte Honorare des Hausarzttopfes eine Art Sonderausschüttung vorzusehen ist. Angedacht ist für ‘Überschüsse’ die Einrichtung eines ‘Sammeltopfes’, aus dem dann als besonders förderungswürdig definierte Grundversorgerleistungen zusätzlich vergütet werden sollen. D.h., was im Hausarzttopf drin ist, soll auch im Hausarzttopf bleiben.
Dennoch gilt – werden die Pläne umgesetzt –, dass es auf jeden Fall zu Veränderungen der Honorarflüsse kommen wird und dass die einzelne Hausarztpraxis sich gegebenenfalls wird anpassen müssen. Die Stoßrichtung der Änderung scheint aus Patientensicht jedoch eher richtig. Aus Arztsicht wird dagegen vor allem wichtig sein, Kollateralschäden bei sogenannten ‘lückenfüllenden Hausarzt-Schwerpunktpraxen’, wie den schon angeführten, aber auch solchen, die z.B. auf Schmerztherapie spezialisiert sind oder besonders viele Sonografien machen, zu vermeiden. Hier hat der Bewertungsausschuss im Anschluss an die Gesetzgebung eine extrem wichtige Aufgabe und Verantwortung.
Eine solche besteht auch für die Frage, wie sich die neuen Pauschalen im besonderen Kontext fachübergreifender MVZ und/oder Großpraxen verhalten. Mehr als sinnvoll wäre es hier, wenn schon der Gesetzgeber eine Klarstellung einfügen würde, dass Kooperationen – gleich ob in Form von BAG oder von MVZ – bei der Zumessung der neuen Pauschalen gleichwertig zu berücksichtigen sind. Dazu wäre es notwendig, eine Prüfung auf Wechselwirkungen der neuen Regelungen mit dem vorgesehenen Behandlungsfallbezug und fachübergreifender Kooperation festzuschreiben. Und nicht zuletzt muss sich der Bewertungsausschuss mit den Folgen für das sogenannte Cashmanagement befassen: Denn die Umstellung auf Jahrespauschalen wird den Liquiditätsfluss von KVen und Praxen ordentlich durcheinanderbringen. In der Konsequenz werden auch die Auswirkungen auf die monatlichen Abschlagszahlungen spannend.
Fazit
Unabdingbar sollten bei der anstehenden Reform die Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre mit diversen Anreizsystemen (und deren Missbrauch) rund um die Förderung von Gesprächsleistungen und der adäquaten Betreuung chronisch kranker Menschen einbezogen werden. Denn, dass die Leistung der Ärzte dem Geld folgt, ist und bleibt eine Binsenweisheit. Insofern ist aber der Ansatz des BMG, die gewollte Leistung – hier: die hausärztliche Grundbetreuung im jeweils medizinisch sinnvollen Maß – zu definieren und darauf aufbauend die Systempartner entsprechende Anreizsysteme gestalten zu lassen, bei aller berechtigter Detailkritik nicht der verkehrteste. Dass dafür als Primärprämisse nicht mehr Geld in das System kommt, sondern bestehende Honorarmittel in Milliardenhöhe lediglich umverteilt werden sollen, ist aus Akteurssicht ohne Frage ein Drama. Die Umverteilungsfrage und daraus resultierende Effekte für Verlierer- bzw. Gewinnerpraxen treten aber davon unabhängig auf und können und sollten somit auch davon unabhängig betrachtet und bewertet werden.
Zu problematisieren wären allerdings – im Besonderen im Kontext fachübergreifender Praxisstrukturen – die Folgen des Behandlungsfallbezugs, der für beide Pauschalen im Gesetzesentwurf vorgesehen wird. Wobei Ausschlüsse und damit die sich daraus für MVZ und BAG ergebenden systematischen Benachteiligungen ja auch erst im EBM, also durch den Bewertungsausschuss vereinbart würden, und somit ebenfalls dem Verhandlungsgeschick und -ziel von KBV und Kassen unterlägen. Die Verantwortung, die sich aus all dem für die Verhandlungspartner GKV-Spitzenverband und KBV ergibt, ist jedenfalls enorm groß und verlangt immense Um- und Weitsicht.
Die Frage, ob die geplante Honorarreform vor allem Chance oder Gefahr darstellt, hängt somit maßgeblich vom Willen des Bewertungsausschusses ab, die Zielstellung des BMG aktiv mitzutragen. Dies ist – neben dem Wunsch, Anreize für unnötige Arzt-Patientenkontakte durch Ablösung des Quartalsbezugs abzuschaffen – explizit auch das Ziel, über die Vorhaltepauschale besonders versorgungsrelevante Praxen künftig auf Kosten leistungsschwächerer Praxen besonders zu honorieren. Ein Verhandlungspartner, der einer solchen Umverteilung per se ablehnend gegenüberstünde, würde in den GVSG-Plänen natürlich vor allem diese als Gefahr herausstellen. Ein Gedanke, der den Bogen zur eingangs erwähnten Einschätzungsdissonanz zwischen Hausärzt:innen-Verband und KBV spannt. Eventuell wäre es daher eine Überlegung wert, im Gesetz auch zu regeln, dass zu diesem besonderen Thema im Bewertungsausschuss auf Arztseite zusätzlich zur KBV auch die Hausärzteschaft selbst aktiv als Verhandlungspartner eingebunden werden muss.
Gleichzeitig ist an die Parlamentarier der Appell zu richten, auf der Metaebene die gewollte Steuerungswirkung der neuen Pauschalen so klar als möglich zu definieren sowie unbedingt zu beachtende Ausnahmen im Gesetz selbst festzuschreiben, ohne indes den Honorarexperten im Bewertungsausschuss den Gestaltungsspielraum für die Umsetzung zu sehr einzuengen. Ein schwieriger Spagat? Ja, klar. Aber Gesetzgebung in Zeiten klammer Kassen bedeutet nun einmal immer, Ziele priorisieren zu müssen. Eine Verantwortung, der sich die Bundestagsabgeordneten in diesen Zeiten nicht nur, aber eben auch bei der Hausarztreform stellen müssen.
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