Nachhaltigkeit? Aber nur mit neuen ergebnisbezogenen Geschäftsmodellen

Replik auf den Kommentar von Dr. Susanne Wagenmann im Observer Gesundheit

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG

Im Umwelt- und Klimaschutz, wie aber auch in jeder industriellen Produktion, haben wir gelernt: Wenn wir sehenden Auges den Schaden eintreten lassen, dann ist die Aufarbeitung und Linderung des Schadens zigfach kostenaufwändiger als die kluge Vermeidung. Dennoch scheint uns die Sicht auf die Nöte der Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die Finanzsorgen der Krankenhäuser und Pflegenden sowie auf das Leid der Patienten mit schon eingetretenen Erkrankungen den Blick zu vernebeln. Wir vergessen das Prinzip, zunächst der Quelle des Übels nachzuspüren, und bleiben allzu leicht an den Symptomen kleben.

Der Kommentar von Dr. Susanne Wagenmann, Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), im Observer Gesundheit vom 6. Februar 2023 unter der Überschrift „Nachhaltigkeit? Auch für die Sozialversicherung unabdingbar!“ plädiert für „nachhaltige und effizienzsteigernde Strukturreformen“, lässt aber die Analyse der eigentlichen Probleme vermissen.

 

Fokus auf das wirkliche Strukturproblem richten

Aber was ist das wirkliche Strukturproblem im Gesundheitswesen, das zu dem zu erwartenden Gesamtsozialversicherungsbeitragssatz von über 40,7 % für Ende 2023 führt? In der Öffentlichkeit wird jetzt sehr die Anzahl der Krankenhäuser in den Vordergrund gestellt und dass in zu vielen Kliniken Leistungen erbracht werden, die mit hinreichender Qualität nur in breiter aufgestellten Zentren erbracht werden sollten. Ja, dies ist schon lange ein Ärgernis und muss angegangen werden, genauso wie die aktive weitere Digitalisierung und Ambulantisierung und damit die Schaffung von ambulant-stationären Mischformen, telemedizinisch verbundenen Gesundheitszentren und den sog. Level 1i-Zentren. Aber all dies hebelt noch nicht die ökonomische Fehlstellung des gesamten Gesundheitssystems aus und wird zunächst erst einmal weitere Kosten und Investitionsbedarfe für die Umstellungen produzieren.

Das wirkliche Strukturproblem stellt Susanne Wagenmann nicht in das Zentrum ihres Plädoyers, es ist das grundlegende Geschäftsmodell der Praxen, Dienste und Einrichtungen unseres Gesundheitssystems. Belohnt wird mit bürokratisch akribischer Kontrolle das Ausmaß und die Anzahl der Leistungen, anstatt den herbeigeführten Nutzen wirtschaftlich zu belohnen, also wie sie es erfolgreicher als andere schaffen, die Gesundheit ihrer Patienten möglichst lange zu erhalten. Mit dem AMNOG wurde – übrigens unter Ägide der FDP – für neue Medikamente der Pharmaindustrie ein Modell geschaffen, den produzierten „Zusatznutzen“ als Maßstab für die Preisfindung zu nutzen, sodass zumindest ansatzweise das Gesundheitsergebnis Berücksichtigung erfährt. Auch bei den digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) werden Kosten-Nutzen-Vergleichserwägungen für die Preisfindung in vorsichtiger Form mit genutzt.

 

Entökonomisierung statt wirklicher Transformation?

Aber während in anderen Branchen neue Geschäftsmodelle die alten ablösen, sperrt sich Deutschland trotz der für 2023 zu antizipierenden Leistungsausgaben der GKV von knapp 300 Milliarden Euro gegen outcome-orientierte Innovationen. Menge statt Nutzen, „volume“ statt „value“. Die betriebswirtschaftliche Intelligenz bleibt damit auf die einzelwirtschaftlich kluge Ausbalancierung von Unter- und Übergrenzen sektoraler Budgets, die clevere Leistungssteuerung und den kostengünstigsten Personaleinsatz ausgerichtet. Und genau das erleben wir in den Krankenhäusern, in Arztpraxen, in Medizinischen Versorgungszentren wie aber auch in Pflegeheimen etc. Und die Öffentlichkeit zusammen mit Lobbyisten anderer Profiteure des Systems fordern die Bestrafung und/oder Einschränkung derjenigen, die sich in diesem Geschäftsmodell einrichten, will investorengetriebene MVZ-Ketten einschränken, Krankenhäuser „entökonomisieren“, Pflegeheimen einen Gewinndeckel verpassen. Man glaubt damit, die „Exzesse“ einschränken zu können, ohne sich die Mühe machen zu müssen, eine wirkliche Transformation des Geschäftsmodells im Gesundheitssystem vorzudenken.

Susanne Wagenmann bezieht sich auf den Sachverständigenrat Gesundheit und dessen Vorschläge für mehr Wettbewerb in der Versorgung, für eine Krankenhausreform, für die Überwindung der Sektorengrenzen sowie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen und folgt der gern zitierten Behauptung, wir hätten „bezüglich der notwendigen Maßnahmen kein Erkenntnisproblem“. Der Verfasser glaubt, dass es sich diese Aussage zu einfach macht.

Analog zu den Diskussionen rund um die Klimakrise ist zu erwarten, dass wir bei Fortsetzung des bisherigen ökonomischen Prinzips in wenigen Jahren den tipping point für die zumindest weitgehend solidarische Finanzierbarkeit unseres GKV-Gesundheitssystem überschreiten. Wenn wir den Kipppunkt hinausschieben und besser ganz vermeiden wollen, dann muss sich die Zielrichtung auf die Transformation der ökonomischen Rahmenbedingungen für die Akteure im Gesundheitswesen orientieren. Wir brauchen ein neues Geschäftsmodell, dass das breite Feld der alten wie neuen Akteure und Einrichtungen im Gesundheitswesen („digital – ambulant – stationär – rehabilitativ/pflegerisch“) in Verfolgung ihrer wirtschaftlichen Interessen auf neue Versorgungsformen ausrichtet, um dann aus der Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung einer Region ihren betriebswirtschaftlichen Erfolg zu erzielen.

 

Erfolgsorientierte Geschäftsmodelle möglich

Und an dieser Stelle versagt die aktuelle gesundheitspolitische Diskussion bis auf wenige Ausnahmen. Interessanterweise sind es BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, die sich hier mit dem Konzept der „Integrierten Gesundheitsregionen“ auf den Weg der Suche nach einem alternativen Geschäftsmodell gemacht haben. Mit der Einführung einer regionalen Metaebene oberhalb der einzelnen Leistungserbringer begegnen sie der Herausforderung, dass erfolgsorientierte Geschäftsmodelle kaum auf der Ebene der einzelnen Leistungserbringer möglich sind. Anders ist es heute schon für die Summierung der Ergebnisentwicklung für große Kollektive, so etwa mit einer ganzen Region von z. B. 100.000 Menschen in einem Landkreis. Mit den Routinedaten der Krankenkassen zu Morbidität, zur Nutzung des Gesundheitssystems und zum Alter, den Daten aus der Sozialstatistik und auf der Basis der heutigen IT mit ihren Matching-Algorithmen können hier Bezugsgrößen für die Populationen insgesamt definiert werden, um z. B. Verschiebungen des Eintrittsalters von bestimmten chronischen Erkrankungen, von häuslicher oder stationärer Pflegebedürftigkeit, von Dialysepflichtigkeit und Ereignissen wie Schlaganfällen, Oberschenkelhalsbrüchen, letztendlich damit vermeidbare vorzeitige Morbidität und Mortalität zu bestimmen. Nicht zu vergessen die Gesamtkosten der Krankenkassen für die Patienten als Folge der Morbidität und die Nutzung des kassenübergreifenden Ausgleichssystems mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds als weiterem Maßstab.

Gleichzeitig wird damit der Blick über den Einzelnen hinaus auf die Bevölkerung gerichtet (man könnte auch sagen von „health care“ zu „public oder population health“), und die deutschen Gesundheitsanbieter schließen damit an die internationale Entwicklung neuer populationsorientierter Versorgungslösungen und neuer Begriffe wie Value-based Healthcare, Accountable Care, Alternative Payment Systems, wie sie auf den G 7- wie G 20- Diskussionen und zuletzt u.a. auf dem World Economic Forum in Davos (WEF 2023) diskutiert werden. Unter Obama hat sich in den USA dafür eine ganze vielfältige Industrie dafür entwickelt, eine Industrie, die zunehmend auch in andere Länder ausstrahlt.

Eigentlich hatten wir mit der Einführung der „Integrierten Versorgung“ unter Grüner Regie im Jahre 2000 und fortgesetzt unter allen anderen Farben des politischen Spektrums eine Öffnung entwickelt, leider aber ohne ausreichende Anreizveränderungen für Leistungserbringer wie Krankenkassen, sodass nur wenige Lösungen mit wirklichem Populationsbezug beweisen konnten, dass solche Geschäftsmodelle erfolgreich funktionieren und sogar internationale Aufmerksamkeit erlangen können (vgl. Siemens Healthineers, 2021).

Eine solche Transformation des grundlegenden Geschäftsmodells im Gesundheitswesen ist keine Aufgabe für eine einzelne Partei, aber ist vielleicht genau der zusammenführende Faktor für die Ampel-Regierung, die gesundheitspolitisch aktuell eine gemeinsame Konzeption eher vermissen lässt. Die daraus resultierende soziale Dimension würde gut zu SPD und Grünen passen. Die nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa interessanten Geschäftsmodell-Innovationen mit einem Start-Up-Impetus für neue hybride Unternehmensformen (digital-analog) würden sich gut für FDP und Grüne eignen. Und die Vermeidung einer deutlich über die 40% Grenze hinausschießenden Belastung der Sozialbeiträge für Wirtschaft und Beitragszahler wäre die Formel, die sich für alle drei Regierungsparteien wie auch für die CDU/CSU-Opposition anbieten würde.

 

Triple-Wumms notwendig

Mit Blick auf die nächsten Jahre und die anstehenden Verteilungskonflikte rund um den Bundeshaushalt und die Schuldenbremse bleibt uns nicht mehr viel Zeit für eine Transformation der Fehlanreize des heutigen Gesundheitssystems. Jeder Monat, den wir heute versäumen, wird sich in den nächsten Jahren bitter in überschießenden Kosten und sozialen Konflikten rächen. Die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften sollten hier die Frühwarnerrolle übernehmen. Das reine Plädoyer für nachhaltige und effizienzsteigernde Strukturreformen ohne den Angriff auf das zugrundeliegende Geschäftsmodell reicht nicht. Das Ziel sollte der Triple-Wumms sein: Krankheitslast verringern + zeitlich verschieben + neue ergebnisbezogene Geschäftsmodelle für diese Transformation ermöglichen!

 

 

Literatur:

 

 

Lesen Sie auch:

Dr. Susanne Wagenmann: „Nachhaltigkeit? Auch für die Sozialversicherung unabdingbar!, Observer Gesundheit, 6. Februar 2022.


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