Mehr als Entbudgetierung: Zusammenhänge und offene Fragen zur Honorarreform der Hausärzte

Susanne Müller, Geschäftsführerin Bundesverband Medizinische Versorgungszentren (BMVZ)

Aktuell ist viel von der überraschenden Einigung der Ex-Ampelparteien zur Aufhebung des Honorardeckels für die Hausarztmedizin die Rede. Insbesondere FDP und Hausärzteverband sind in Feierlaune. Allerdings besteht die Honorarreform – neben der Entbudgetierung – aus zwei weiteren Komponenten, die wiederum nicht unumstritten sind.

Die Ausgestaltung des Reformrahmens, den der Gesetzesentwurf nur in groben Zügen vorgibt, obliegt der Selbstverwaltung. Was hier im Ergebnis auf die Hausärzteschaft zukommt, ist noch weitgehend unklar.

 

Keine Änderungen seit letzter Fassung des GVSG

Das Wichtigste voran: Der aktuelle Entwurf zur Hausarzthonorarreform entspricht bin zum letzten Komma exakt jener Fassung, die das BMG bereits im Mai 2024 als Teil des Regierungsentwurfes des GVSG veröffentlicht hatte. Sprich: Sie bietet inhaltlich null Neuigkeitswert. Jedenfalls für all jene, die sich bereits mit den Reformvorschlägen auseinandergesetzt hatten. (Siehe auch: Neue Honorarpauschalen für die Hausärzte: Eine faktenbasierte Analyse und viele offene Fragen, Observer Gesundheit, 9. Oktober 2024. Da die damals analysierte Textfassung der entspricht, die aktuell beschlossen werden soll, ist der Beitrag aus Oktober 2024 quasi von tagaktueller Zeitlosigkeit.)

Die aufgeregten Presseaktivitäten und -reaktionen lassen indes vermuten, dass gänzlich Neues zur Beratung steht. Dabei ist das Einzige, was sich geändert hat, der Blick auf eben jene bereits bekannten Inhalte. Was vor allem an der Einsicht liegen dürfte, dass aktuell wirklich keine Zeit für Diskussionen mehr ist, soll das Projekt noch in Kraft gesetzt werden. Denn realistischerweise muss davon ausgegangen werden, dass die kommende Regierung (gleich welcher Couleur) kaum Spielraum für Entbudgetierungsprojekte haben wird. Kommt die Entbudgetierung also nicht innerhalb der nächsten vier Wochen, kommt sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nie. Ein Faktum, das gut erklärt, weshalb allen voran der Hausärzteverband den Entwurf mit dem Eifer einer Löwenmutter gegen jeden (vermeintlichen) Angriff verteidigt. (Entbudgetierung – Ärzteverbände: KBV-Position „fatal” und „absurd”, Hausärztliche Praxis, 23.01.2025)

Dabei hatte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) am Tag zuvor nichts weiter getan, als zu wiederholen, was sie bereits im Frühsommer 2024 zu dem Projekt gesagt hatte: Dass nämlich die praktische Umsetzung der BMG-Ideen zur Aufweichung der Quartalslogik in der Hausarzthonorierung durch Einführung neuartig konzipierter Vorhalte- und Chronikerpauschalen immens aufwendig, bzw. eine fast unlösbare Aufgabe für die Selbstverwaltung (www.kbv.de, 22.01.2025) sei. Die die Ärzteschaft zudem im Bewertungsausschuss gemeinsam mit dem GKV-Spitzenverband lösen muss, dessen Interessen naturgemäß häufig denen der Ärzte zuwiderlaufen. Selbst wer daher die Materie nur ein wenig kennt, kann erahnen, dass an dieser Aussage was dran ist. Insbesondere wenn die KBV korrekterweise anmerkt, dass die „geplanten Änderungen in ihrer Detailtiefe … sehr komplex und in ihren Auswirkungen auf die Versorgung kaum vorhersehbar [seien].“

 

Vergütungsreform besteht aus drei Elementen

Wer jetzt verwirrt ist, sollte sich vergegenwärtigen, dass die von Lauterbach angestoßene Vergütungsreform der Hausärzte aus insgesamt drei Elementen besteht: 1) die Entbudgetierung | 2) die Ablösung der Quartalslogik bei der Chronikerpauschale | 3) die Einführung einer an Bedingungen gebundenen Vorhaltepauschale (die bisher bedingungslos gezahlt wird). Und während die Hausärzte sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit vor allem auf Element 1, die Entbudgetierung, konzentrieren, spricht die KBV über die Elemente 2 und 3. Beiden Akteuren ist dabei klar, dass es die Vergütungsreform nur als Gesamtpaket gibt. Denn, siehe oben: Für Diskussionen über Änderungen lässt die vorgezogene Neuwahl absolut keine Zeit. Ex und hopp ist also die Devise. Ein inhaltlicher Sieg, der Karl Lauterbach eher unerwartet und nur den besonderen Umständen geschuldet in den Schoß fällt.

Soweit die KBV allerdings kritisiert, dass „der aktuell vorliegende Entwurf [nicht] auf die zwischenzeitlich vorgebrachte sachliche Kritik [eingeht]“, überreizt sie ihr Blatt. Ursprünglich war es Lauterbachs Absicht, ohne Wenn und Aber eine jahrweise zu zahlende Chroniker- und Vorhaltepauschale einzuführen, für die im GVSG-Referentenentwurf von April 2024 konkrete Versorgungsvoraussetzungen und eine breite Patientenzielgruppe vorgegeben war. Die KBV bewertete dies als „Abrissbirne der hausärztlichen Versorgung“ und unkte, dass dadurch abertausende Hausarztpraxen weniger Honorar als bisher erhalten würden.

 

Bewertungsausschuss hat viel Spielraum

Der folgende Aufschrei war massiv. Was dazu führte, dass der Regierungsentwurf, dem der aktuell zum Beschluss vorliegende vollständig gleicht, an drei entscheidenden Stellen im Vergleich zum Referentenentwurf geändert wurde: Erstens wurde die Vorgabe, auf eine Jahrespauschale umzustellen, aufgeweicht, indem ihr neu der Teilsatz angehängt wurde, dass es aber „mindestens zwei aufeinanderfolgende Kalenderquartale“ sein müsste. Zweitens wurden sämtliche konkreten Voraussetzungen für die Gewährung der Vorhaltepauschale in unkonkrete Phrasen umgewandelt. Und drittens wurde die Zielgruppe für die Chronikerpauschale von Patienten, bei denen „mindestens eine lang andauernde, lebensverändernde Erkrankung“ vorliegt, auf jene Patientenklientel, die „wegen einer chronischen Erkrankung, die … keinen intensiven Betreuungsbedarf begründet,“ reduziert.

Zusammengenommen bedeuten diese drei Änderungen, dass dem Bewertungsausschuss, also KBV und GKV-Spitzenverband, enorm viel Spielraum verbleibt, die versorgungspolitischen Absichten des BMG auszugestalten. Und hier schließt sich der Kreis zur KBV-Klage über die Unvorhersagbarkeit der Folgen der Honorarreform. Denn der vom BMG unmissverständlich formulierte Regelungszweck ist die Umverteilung bestehender Honorare; was zwangsweise neben Gewinnern auch Verlierer hervorbringt. Nur, wer zu welcher Gruppe gehören wird, ist völlig unklar und hängt tatsächlich maßgeblich von den künftigen Entscheidungen der Selbstverwaltung ab. Dass aber diese Umverteilungsabsicht aus der Patientenperspektive durchaus richtige Akzente setzt und daher nicht pauschal verurteilt werden sollte, wurde bereits im Ursprungsbeitrag zu den Reforminhalten im Observer Gesundheit beschrieben und begründet.

Damals wurde auch erläutert, dass es aus Arztsicht vor allem wichtig werde, bei dieser Umverteilung Kollateralschäden bei sogenannten „lückenfüllenden Hausarzt-Schwerpunktpraxen“ zu vermeiden. Hier käme dem Bewertungsausschuss im Anschluss an die Gesetzgebung eine extrem große Bedeutung zu. Die auch für die Frage bestünde, wie sich die neuen Pauschalen im besonderen Kontext fachübergreifender MVZ und/oder Großpraxen verhalten. Es folgte die Forderung: „Mehr als sinnvoll wäre es hier, wenn schon der Gesetzgeber eine Klarstellung einfügen würde, dass Kooperationen – gleich ob in Form von BAG oder von MVZ – bei der Zumessung der neuen Pauschalen gleichwertig zu berücksichtigen sind.“ Klar ist heute allerdings, dass solche Präzisierungen nicht kommen, weil es – wie gesagt – aufgrund der Zeitläufe keinerlei Spielraum für substanzielle Änderungen des Entwurfes gibt.

 

Verantwortung liegt bei Verhandlern

Umso bemerkenswerter ist es daher, dass sich das BMG durchaus eines der kritisierten Aspekte angenommen hat, nämlich der Sorgen der spezialisierten Hausarzt-Schwerpunktpraxen. Natürlich nicht im Gesetzestext, sondern dadurch, dass es öffentlich und auch gegenüber dem Gesundheitsausschuss bestätigt hat, dass das Problem verstanden wurde, dass aber bereits „die vorliegende Formulierung gewährleistet, dass der Bewertungsausschuss die Möglichkeit hat, die Rolle der Schwerpunktpraxen zu berücksichtigen.“
(„Versorgungspauschale soll nicht zum GAU für Schwerpunktpraxen werden“, Ärzte Zeitung, 22.01.2025).

Genau diesen Umstand, dass eben der Gesetzesentwurf KBV und GKV-Spitzenverband unglaublich viel Raum für sinnvolle Gestaltungen zumisst, wurde auch schon in der Analyse von Oktober im Observer Gesundheit hervorgehoben. Verbunden mit einer gesunden Portion Skepsis, ob es im Bewertungsausschuss genügend patientenfokussierte Phantasie (statt klientelbezogener Interessenlogik) gäbe, um die der Umsetzung innewohnenden Chance überhaupt nutzen zu können.

Nun denn! Da die Regelungen in der unveränderten Fassung kommen werden, liegt alle Verantwortung bei den Verhandlern. Von daher drängt sich als Fazit ein Rückgriff auf die Oktober-Analyse förmlich auf: Die Frage, ob die geplante Honorarreform vor allem Chance oder Gefahr darstellt, hängt somit maßgeblich vom Willen des Bewertungsausschusses ab, die Zielstellung des BMG aktiv mitzutragen. Dies ist – neben dem Wunsch, Anreize für unnötige Arzt-Patientenkontakte durch Ablösung des Quartalsbezugs abzuschaffen – explizit auch das Ziel, über die Vorhaltepauschale besonders versorgungsrelevante Praxen künftig auf Kosten leistungsschwächerer Praxen besonders zu honorieren. (…) Die Verantwortung, die sich aus all dem für die Verhandlungspartner GKV-Spitzenverband und KBV ergibt, ist jedenfalls enorm groß und verlangt immense Um- und Weitsicht.  

Einfacher stellt sich das nur bei der eigentlichen Entbudgetierung dar. Deren Folgen sind weitgehend klar vorhersehbar: Hausärzte in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und den drei Stadtstaaten werden direkt profitieren, da in diesen Regionen die Hausarztvergütung derzeit teils deutlich unterhalb der angeforderten Honorare liegt. Entsprechend werden die Kassen zuschießen müssen – insgesamt ist von 300 bis 400 Millionen Euro die Rede. Für die anderen zwölf KV-Regionen werden die Effekte dagegen gering(er) ausfallen, da die Honorarsituation dort bereits jetzt einer faktischen Entbugdetierung gleicht. So gesehen geht es dem Hausärzteverband vor allem auch ums Prinzip sowie um eine Absicherung der Zukunft, da gerade das Beispiel der KV BaWü erst vor Kurzem gezeigt hatte, wie schnell eine Region aus der komfortablen Situation einer Vollvergütung in die Budgetierungsnotwendigkeit rutschen kann.
(Honorar Hausärzte ab Quartal 4/2023: Ende der 100-Prozent-Vergütung, www.kvbawue.de).

 

Fazit

Für den anstehenden Gesetzesbeschluss gilt: Die kritische Dämpfung der Euphorie seitens der KBV hat ebenso ihre Berechtigung wie die Freude der Allgemeinärzte über die Abschaffung ihres Honorardeckels. Insgesamt sollen parallel Geld neu verteilt (Entbudgetierung), bestehende Honorarflüsse umgeleitet (bedingte Vorhaltepauschalen) und die Chronikerbetreuung versorgungspolitisch umstrukturiert (Ablösung der Quartalslogik) werden. Wobei es dabei in jeder Hinsicht auf die Selbstverwaltung ankommt: Schaffen es Kassen und Kassenärzte, sich für eine Umsetzung zusammenzuraufen, die tatsächlich die Patientenbedürfnisse in den Mittelpunkt stellt? Oder bekommen wir eine der üblichen Verhandlungsschlachten, bei denen die Ärzteschaft versucht, jeden Honorarabstrich bei jedem einzelnen Arzt zu vermeiden, während die Kassen hauptsächlich darüber nachdenken, wo und wie sie Kosten einsparen können?

 

Kostenneutralität könnte Segen sein

Dass der Gesetzesentwurf für die Neukonzipierung von Vorhalte- und Chronikerpauschale von vornherein eine strenge Kostenneutralität festschreibt, könnte sich daher als Segen erweisen. Die Kassen wissen so, dass sie auf diesem Feld – egal mit welchen Regelungsdetails – gar nichts einsparen können. Und der KBV ist klar, dass es diesmal auf jeden Fall Honorarverlierer geben muss. Korrekterweise identifiziert hierfür aber bereits der Gesetzesentwurf jene Hausarztpraxen, die vom früheren KBV-Chef Andreas Köhler frecherweise als Hobbypraxen bezeichnet wurden. Die also ohne nachvollziehbare Gründe in Fallzahlen oder z.B. bei Hausbesuchen weit unterdurchschnittlich in der Patientenversorgung engagiert sind. Wenn gleichzeitig sichergestellt wird, dass spezialisierte Allgemeinärzte sowie solche, die Teil einer fachübergeifenden Kooperation sind, nicht aus strukturellen Gründen benachteiligt werden …

… dann, ja dann, könnte aus dieser Honorarreform, die eben viel mehr als nur eine Entbudgetierung ist, echter versorgungspolitischer Mehrwert entstehen. Die Verantwortung für das Gelingen liegt, so das Gesetz beschlossen wird, ausschließlich beim Bewertungsausschuss. Wir hoffen auf weise Entscheidungen.


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