15.04.2024
Innungskrankenkassen für gestaffelte Mutterschutzfristen bei Fehlgeburten
Hans Peter Wollseifer
Hans-Jürgen Müller
Unstrittig ist, dass eine Fehl- oder Totgeburt zu den traumatischsten Ereignissen im Leben einer Frau gehört. Doch obwohl in Deutschland rund 26.000 Schwangerschaften jährlich in einer Fehlgeburt enden, ist das Thema in der Öffentlichkeit weitgehend mit einem Tabu belegt, und die Frage des Schutzbedarfs der betroffenen Frauen wurde lange ignoriert. Deshalb ist es höchste Zeit, dass wir uns diesem Thema stellen und den Handlungsbedarf anerkennen.
Denn als Gesellschaft müssen wir alles dafür tun, Entscheidungen von Frauen für ein Kind zu unterstützen. Gleichzeitig müssen wir uns dafür einsetzen, dass diese Entscheidung im beruflichen Kontext nicht zu einem Nachteil wird.
Keine automatische Krankschreibung nach Fehlgeburt
Angesichts des Fachkräftemangels brauchen wir jede Arbeitskraft! Deshalb liegt es nach Ansicht der Innungskrankenkassen in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, diesen Frauen zu ermöglichen, sich körperlich und psychisch zu erholen. Das derzeitige Problem: Eine Fehlgeburt löst erst ab der 24. Schwangerschaftswoche mutterschutzrechtliche Folgen aus. Davor gilt: Statt den Betroffenen Zeit zu geben, das Ereignis, den Verlust körperlich und emotional zu verarbeiten, werden Frauen, die ihr Kind in den ersten vier Monaten verlieren, nicht einmal automatisch krankgeschrieben. Stattdessen hängt es bislang vom Wohlwollen der Ärztinnen und Ärzte ab, ob und wie lange sie nach einer frühen Fehlgeburt der Arbeit fernbleiben dürfen. Es ist unverständlich, dass Betroffene auch noch in die Bittstellerinnen-Position gebracht werden.
Die derzeitige Regierungskoalition hat das Thema zwar in ihrem Koalitionsvertrag angesprochen. Aber die Innungskrankenkassen nehmen auf vielen Ebenen wahr, dass die im Koalitionsvertrag geeinten Projekte – zum Beispiel zur Verbesserung der Finanzsituation der GKV – nicht oder nur zögerlich umgesetzt werden. Und deshalb haben wir uns als IKK e.V. zusammen mit der IKK Südwest einer entsprechenden Initiative der Autorin und Unternehmerin Natascha Sagorski angeschlossen.
Zum Hintergrund: Nach jetziger Rechtslage gibt es bei Fehlgeburten für Frauen, die ihr Kind bis zum letzten Tag der 23. Schwangerschaftswoche verlieren, keinen einzigen Tag Mutterschutz. Verlieren Mütter ihr Kind aber nur 24 Stunden später, also am ersten Tag der 24. Woche, stehen ihnen 18 Wochen Mutterschutz zu. Diese strikte, gleichwohl medizinisch völlig willkürliche Einteilung berücksichtigt nicht angemessen die Situation der Frauen nach dem tragischen Ereignis einer Fehlgeburt. Die gesetzlichen Regelungen sind in Bezug auf die Mutterschutzfristen zu starr und führen zu Ungleichheit!
Das Konzept, das die Innungskrankenkassen unterstützen, legte Natascha Sagorski vor. Sie erlitt 2015 selbst eine Fehlgeburt, sollte am nächsten Tag aber wieder zur Arbeit gehen. Seither engagiert sie sich für dieses Thema mit einer Petition für den gestaffelten Mutterschutz (2022), die mehr als 75.000 Unterschriften erzielte. Gleichzeitig bat sie Verfassungsrechtler Prof. Dr. Klinger um Prüfung, ob die Diskriminierung von Müttern totgeborener Kinder verfassungswidrig sei. Klinger bestätigte den Verdacht und unterstützt zusammen mit Sagorski vier betroffene Frauen bei einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht.
Mindestens 14-tägiger Mutterschutz notwendig
Ziel des angestrebten gestaffelten Mutterschutzes ist es, dass, je weiter die Schwangerschaft bis zur Fehlgeburt fortgeschritten ist, desto länger der Mutterschutz andauern soll. Konkret: Frauen, die zwischen der sechsten und 14. Schwangerschaftswoche ihr Kind verlieren, soll ein mindestens vierzehntägiger Mutterschutz zustehen. Bei einer Fehlgeburt bis zur 23. Schwangerschaftswoche sollen es bis zu vier Wochen sein, von der 24. Woche an bis zu acht Wochen. Im Koalitionsvertrag ist die Ausweitung des Mutterschutzes auf die Zeit nach der 20. Schwangerschaftswoche formuliert. Diese neue Frist würde weiterhin eine Vielzahl der von einer Fehlgeburt betroffenen Frauen vom Mutterschutz ausschließen.
Wichtig ist der gemeinsamen Initiative, dass alle betroffenen Frauen selbst entscheiden können, ob sie den Mutterschutz ganz oder nur teilweise in Anspruch nehmen – oder aber auch sofort in den Beruf zurückkehren wollen. Es geht nicht darum sie zu bevormunden, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst zu entscheiden, welcher Weg für sie der Beste ist.
Die Innungskrankenkassen haben erstmals berechnet, welche finanziellen Auswirkungen die Einführung des gestaffelten Mutterschutzes auf die Solidargemeinschaft, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Krankenkassen, haben könnte. Das Ergebnis: Die finanzielle Belastung ist geringer als angenommen. Eine Ausweitung der Schutzfristen hätte unmittelbare finanzielle Auswirkungen für die GKV über das Mutterschaftsgeld, und zwar in Höhe von 13 Euro pro Tag. Auf der Arbeitgeberseite käme es zu einer Verlagerung von Kosten zwischen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bzw. den Umlagekassen. Der Hintergrund ist folgender: Aufgrund der bisherigen Regelung ist davon auszugehen, dass von einer Fehlgeburt betroffene Frauen zumindest in Einzelfällen eine AU-Bescheinigung erhalten. Das bedeutet für die Firmen, dass sie bis zu sechs Wochen weiter Lohn zahlen. Lediglich Betriebe mit maximal 30 Beschäftigten sind hier über die Umlagekasse (U 1 – Krankheitsumlage) abgesichert und erhalten einen Teil der Kosten erstattet. Steht einer Frau aber eine Mutterschutzfrist zu, werden die Kosten für alle Arbeitgeber über die sogenannte Mutterschaftsumlage (U 2) vollständig erstattet. Das bedeutet: Gerade kleine und mittelständische Unternehmen werden finanziell weniger belastet, weil sich die Kosten des Mutterschutzes über die Umlage 2 auf mehreren Schultern verteilen.
Nur 0,005 Prozent des GKV-Anteils erforderlich
Was käme nun konkret auf die Krankenkassen bzw. die Umlagekassen zu? Selbst wenn 100 Prozent der betroffenen Frauen den gestaffelten Mutterschutz in Anspruch nähmen, so die Innungskrankenkassen, entstünden der gesetzliche Krankenversicherung (GKV) pro Jahr lediglich Mehrkosten in Höhe von zirka fünf Millionen Euro. Für die Umlagekasse kämen Mehrkosten von 25 Millionen Euro pro Jahr hinzu.
Wenn aber nur 50 Prozent der Betroffenen sich für den Mutterschutz entscheiden, was wohl eher realistisch ist, sind es GKV-seitig dann noch 2,5 Millionen Euro. Auf die Umlagekasse kämen in diesem Fall dann noch 12,5 Millionen Euro zu. Hiervon wären dann aber noch die Kosten abzuziehen, die derzeit aufgrund der Lohnfortzahlung von den Arbeitgebern direkt übernommen werden. Zum Vergleich: Gemessen an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung im vergangenen Jahr in Höhe von 300 Milliarden Euro macht das einen Anteil von nur 0,005 Prozent aus! So oder so sind das Kostenbeträge, die angesichts der Bedeutung des Themas vernachlässigbar sind, darin sind sich die Innungskrankenkassen einig.
Neben der Ausweitung eines gestaffelten Mutterschutzes setzen sich die Innungskrankenkassen auch für mehr Aufklärung und Beratung bei Fehlgeburten ein, für eine bessere Datenlage und eine sektorenübergreifende Betreuung von Frauen nach Fehlgeburten. Dabei denken sie insbesondere an die engere Zusammenarbeit zwischen Krankenkassen, Ärzten und anderen medizinischen Fachkräften, damit die Frauen die bestmögliche Versorgung und Betreuung erhalten.
Als ersten Schritt hat die Initiative am 12. März 2024 einen parlamentarischen Abend in Berlin veranstaltet. Dort zeigte sich, dass ein breiter interfraktioneller Konsens besteht, die Ausweitung des Mutterschutzes auf politischer Ebene voranzutreiben.
Des Weiteren haben sich die Innungskrankenkassen vorgenommen, auch innerhalb der GKV und des Gesundheitswesens insgesamt, Mitstreiter für eine Änderung der Mutterschutzrichtlinien bei Fehlgeburten zu gewinnen.
Hans Peter Wollseifer
Vorstandsvorsitzender des IKK e.V.
Hans-Jürgen Müller
Vorstandsvorsitzender des IKK e.V.
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