Im Osten was Neues? Die Sondierungen und die Gesundheitspolitik – ein Ordnungsversuch

Robin Rüsenberg

Die Ampel-Koalition auf Bundesebene ist Geschichte. In den Ländern hingegen bahnen sich erneut unerprobte Koalitionen an. Die Urnengänge in Sachsen und Thüringen (beide 1. September) und Brandenburg (22. September) waren nicht nur vor diesem Hintergrund von besonderer Bedeutung. Ihre langfristigen Folgen werden sich erst noch zeigen. Nun stehen aber zunächst Koalitionsverhandlungen an – mit dem BSW als neuem parteipolitischen Akteur. Gibt es neue Erkenntnisse für die Gesundheitspolitik?

CDU, SPD und BSW verhandeln in Thüringen, SPD und CDU in Brandenburg über die Bildungen von Länderregierungen. In Sachsen sind die Sondierungsgespräche gescheitert, allerdings nicht an der Gesundheitspolitik. Sondierungspapiere liegen vor (auch aus Sachsen als Zwischenstand). Sondierungen markieren normalerweise den Handlungsspielraum von Koalitionspartnern ex ante, indem sie die „schweren Punkte vom Tisch“ (Brandenburgs BSW-Landeschef Robert Crumbach, zitiert nach Lassiwe & Henke 2024) räumen, d. h. die entscheidenden Leitplanken – vermeintlich oder tatsächlich – klären, um den Parteienwettbewerb einzuhegen.

 

Lagerübergreifende Sondierungen als besondere Herausforderung

Dazu passt, dass – schaut man sich die Historie von Regierungsbildungen in Deutschland an – Sondierungen scheitern können, Koalitionsverhandlungen hingegen eigentlich nicht. Hinzu kommt: Koalitionsverhandlungen auf Länderebene, Sondierungen zudem, finden gemeinhin gesundheitspolitisch wenig Interesse auf Bundesebene. Im Falle der aktuellen Gespräche – Thüringen „Brombeere“ getauft – ist das anders. Schaut man genauer hin, fallen insbesondere zwei Faktoren auf, die hier eine Rolle spielen:

Erstens: Die Septemberwahlen waren von ostdeutschen Besonderheiten geprägt (vgl. Mau 2024). Sie sind aber im Ergebnis vor allem typisch für die mittlerweile erschwerte Regierungsbildung im neuen deutschen Parteiensystem (vgl. Best 2024). Waren in den Ländern früher Alleinregierungen gang und gäbe, sind nun auch hier lagerübergreifende Koalitionen – durchaus mit mehr als nur zwei Partnern – oft anzutreffen. Derartige Koalitionen sind aber schwieriger zu managen. Die nun zerbrochene Ampel zeigte die erheblichen Probleme ideologisch heterogenen Regierens. Gesundheitspolitisch kommt das programmatisch vornehmlich beim Thema Finanzierung zum Ausdruck (Rüsenberg et al. 2023). In Thüringen wurde bereits ein umfassendes Sondierungspapier (24 Seiten + Präambel) veröffentlicht, auch aus Sachsen (wurde nie offiziell) und Brandenburg liegen – schmalere – Papiere vor. Wo finden sich also Kompromisslinien?

Zweitens: Das BSW. Bisher handelt es sich noch recht weitgehend um eine Terra incognita (erste gesundheitspolitische Einschätzung bei Rüsenberg & Rüsenberg 2024). Betrachtet man die Programmatik zur Europawahl 2024, hat das BSW unter den Bundestagsparteien die größte Übereinstimmung mit der AfD (wenn auch nicht sehr hoch), es folgen die Linke, FDP, CDU/CSU und SPD. Die Grünen haben am wenigsten Schnittstellen (Thomeczek 2024). Nun gelangt die Neugründung potenziell in parteihistorischer Lichtgeschwindigkeit in exekutive Verantwortung. Die sich – möglicherweise – bildenden Koalitionen sind insgesamt höchst ungewöhnliche Allianzen, nicht nur wenn man an die Einbindung der CDU denkt, die bis vor kurzem noch undenkbar gewesen wären. Vertraut ist hingegen das Setting der Verhandlungen: Vorsondierungen („Kennenlerngespräche“), Sondierungen, das Einsetzen von Arbeitsgruppen sowohl für Sondierungen als auch Koalitionsverhandlungen, im Falle der SPD Sachsen war auch eine Mitgliederbefragung in der Diskussion. Neu hingegen der starke Einfluss der BSW-Parteivorsitzenden auf die regionalen Verhandlungssettings. In Thüringen führt dies zu offenem Streit mit den Landesvorsitzenden (Hintergründe bei Becker et al. 2024). Man könnte dies als Office-seeking vs. Vote-seeking zusammenfassen. Was sind die gesundheitspolitischen Duftmarken des BSW in den Sondierungen?

 

Schwerpunkte bei (Krankenhaus-) Versorgung und Corona-Aufarbeitung

Der Blick nach Thüringen offenbart ein recht klassisches Aufgabenheft für eine Landesregierung. Dass hier eine völlig neue Regierungskoalition im Entstehen ist, findet inhaltlich kaum Niederschlag. Die genannten Projekte wären auch bei anderen parteipolitischen Konstellationen denkbar. Ins Auge fällt, um einige der vereinbarten Punkte auszuwählen, das „Konzept des 20-Minuten-Landes“ – womit die Erreichbarkeit von medizinischer Versorgung gemeint ist. Es handelt es sich um eine Unions-Idee. Die Landesbehörden könnten hierfür theoretisch (und mühselig) auf den Landesausschuss einwirken. Gemeint sind allerdings mehr Studienkapazitäten, Niederlassungsförderung, Stipendienprogramme. Die ebenfalls geplante „Landapothekerquote“ kommt auch von der CDU (nicht klar, wie sie umgesetzt werden soll, es ist aber keine komplett neue Idee: CDU und SPD haben in Hessen 2023 ähnliches vereinbart). „Alle“ Krankenhausstandorte sollen bleiben, auch dies keine neue Forderung in Länderkoalitionsverträgen – allerdings als „Orte medizinischer Versorgung“, hier wären also Level Ii-Lösungen denkbar. (Das scheint auch der BSW-Parteivorstand so zu sehen, s. u.) Eine Schnittmenge zum KHVVG birgt auch der geplante Krankenhaustransformationsfonds, den SPD und CDU eingebracht haben. Gleichzeitig soll Trägerpluralität gelten und auf Bundesebene ein Vorschaltgesetz auf den Weg gebracht werden.

Auch im Bereich Pflege finden sich viele Ideen, die problemlos in anderen Koalitionsverträgen stehen könnten. Sie kommen aber zumeist von CDU und/oder SPD, wenn sie nicht direkt unter allen drei potenziellen Partnern unmittelbar konsensfähig sind (z. B. Reduktion der Pflegekosten durch Übernahme von Investitionskosten in Pflegeheimen). Auf Bundesebene will man „Thüringer Perspektiven zur Senkung der Pflegekosten für Heimbewohner aktiv einbringen“ – angesichts potenziell sehr unterschiedlicher Sichtweisen bleibt die spannende Frage: Wie genau? Originäre BSW-Forderungen finden sich wenig: Die im Wahlprogramm als Ziel ausgegebene Reduktion der Krankenkassen auf Bundesebene findet sich nicht – eine Landesaufsicht über Krankenkassen gibt es in Thüringen auch nicht mehr.

Etwas anders ist das Bild in Brandenburg: Während das Sondierungspapier aus Erfurt mit 24 Seiten im Grunde schon ein kleiner Koalitionsvertrag ist, erinnert sein Potsdamer Pendant vom 28. Oktober mit knappen drei Seiten schon vom Umfang an ein Sondierungspapier. Gesundheits- oder gar pflegepolitisch halten sich SPD und BSW nicht lange auf: Krankenhausplanung bleibt Ländersache, alle Krankenhausstandorte bleiben erhalten und die wohnortnahe Versorgung wird gestärkt. Also zum einen ein krankenhauspolitischer Strukturkonservatismus, zum anderen ein Schwerpunkt im Themenbereich Corona: Es soll eine Enquetekommission eingerichtet werden, die „für die Zukunft“ staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte, Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und die Pandemiefestigkeit des Gesundheitssystems untersuchen soll, inklusive „Beratungen“ eines Corona-Amnestiegesetzes. Corona ist auch in Thüringen prominentes Thema, sowohl gesundheits- als auch gesellschaftspolitisch. Allerdings gilt in Erfurt: „Die Partner verständigen sich gemeinsam über den Weg der Aufarbeitung.“ An dieser Stelle findet sich in Brandenburg also ein stärkerer BSW-Fußabdruck (wobei sich das BSW in Thüringen ebenso für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ausspricht, der auch schon durchgesetzt wurde mit Hilfe der CDU – die Parteifreunde in Brandenburg hingegen für die erwähnte Enquetekommission; ein gewichtiger Unterschied für die spätere politische Praxis).

Ein Wort zu Sachsen: Dort wurden die Gespräche am 6. November ergebnislos abgebrochen. Allerdings liegt ein (nicht offizieller) Zwischenstand vom 17. Oktober vor (8 Seiten). Was dort zu Gesundheit und Pflege formuliert wurde, gleicht in dem skizzierten Instrumentarium der Angebotsplanung allerdings stark dem Thüringer Sondierungspapier. Zudem wurde eine Bundesratsinitiative zur Pflegeversicherung zur Entlastung der zu Pflegenden und der pflegenden Angehörigen angekündigt. Bemerkenswert, was strittig war: Landespflegegesetz (Forderung von BSW und SPD), Landesgesundheitsamt (SPD), Gründung einer privaten medizinischen Hochschule (BSW) sowie eine „Stärkung der evidenzbasierten Medizin“ (unklar). In Sachen Corona sicherte das BSW mit seinem Stimmen Ende Oktober einem AfD-Antrag für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses (Auftrag „u. a. Untersuchung der Krisenpolitik der Staatsregierung im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 und COVID-19“). Die SPD unterbrach daraufhin zeitweilig die Gespräche.

 

Gesundheitspolitik als Wahlmotiv bei den Septemberwahlen

Die Forschung betont die ökonomische Grundierung bei der Wahlentscheidung für populistische Parteien. Dazu zählt zuvorderst eine Wahrnehmung des Abgehängtwerdens in Regionen, die negativ von Transformationsprozessen betroffen sind (z. B. Manow & Schwander 2022, Bergmann et al. 2023). Hierfür finden sich Indizien bei den Landtagswahlen: In Orten bis 100.000 Einwohner sagt eine deutliche Mehrheit in Thüringen, dass sich die ärztliche Versorgung in den letzten Jahren verschlechtert hat, zumindest Umfragen zufolge (auch zum Folgenden Neu & Pokorny 2024a). Eine Verschlechterung der eigenen regionalen Lebensumstände empfinden vor allem BSW- und zuvorderst AfD-Wähler. Die AfD erfreut sich in kleineren Orten auch hoher Wahlergebnisse – beim BSW spielt die Ortsgröße hingegen keine Rolle (Ähnliche Ergebnisse zeigen sich in Sachsen, vgl. Neu & Pokorny 2024b). Das „Brombeer“-Sondierungspapier trägt diesen Trends letztlich Rechnung, betont – wie beschrieben – die Bedeutung von Standorten, Erreichbarkeit, Flächendeckung, etc. Eine neue Schwerpunktsetzung ist dies freilich nicht: Auch beliebige andere Koalitionsverträge auf Landesebene – Ausnahmen bestätigt die Regel – pochten in der Vergangenheit auf Planungshoheiten und Standortkontinuitäten. Aus Sicht des Deutschen Landkreistages stellt das KHVVG ein „Konjunkturprogramm“ für die AfD dar (zitiert nach Zeit Online 2024). Spinnt man den Gedanken weiter, führt der Wandel des Parteiensystems unter den Bedingungen neuer Koalitionsformate letztlich zu einer Verhärtung der Reformdiskussion, die Strukturreformen schwieriger bis unmöglich macht. Der zähe Aushandlungsprozess zwischen Bund und Ländern zum KHVVG deutet einen solchen Effekt bereits an.

 

Fazit

Was ist nun die gesundheitspolitische Raison d’Être lagerübergreifenden Koalitionen (es wird sich zeigen, ob eine SPD-BSW-Zusammenarbeit eine solche ist) unter Beteiligung der neuen Partei von Sahra Wagenknecht? Mit Blick auf die bisherigen Sondierungen kann man im Grunde den BSW-Parteivorstand vom 30. Oktober zitieren: 1) „Erhalt aller Klinikstandorte“, 2) „Corona-Amnestiegesetz“ (BSW 2024). Konsequenterweise werden Brandenburg und Sachsen hier gelobt (wobei sich ein Amnestiegesetz im sächsischen Papier allerdings gar nicht findet), Thüringen hingegen kritisiert: kein Amnestiegesetz, kein verbindlicher „Erhalt der Klinikstandorte“. In der Krankenhauspolitik wäre dies aber dann grundsätzlich wohl eher doch das eigentlich verpönte „Weiter-so“. Etwas anders beim Thema Corona – hier wird ein eindeutiger Schwerpunkt gesetzt. Für den Parteienwettbewerb bedeutet dies: Das Unvermögen der Ampel-Koalition, den Koalitionsvertrag an dieser Stelle umzusetzen, öffnet Spielräume für das BSW (und die AfD).

Viel wird von den nun laufenden Koalitionsverhandlungen abhängen. Vielleicht wird in diesen auch eine Bundesratsinitiative zur Causa Eli Lilly, MFG und Vertraulichkeit vereinbart. Eine solche mit dem Ziel einer „Gesetzeskorrektur“ hatte Parteichefin Wagenknecht im Falle einer Landesregierungsbeteiligung angekündigt (zitiert nach Focus Online 2024). Allerdings sind die Entwicklungen dynamisch, siehe Sachsen. Am Ende wird sich ohnehin zeigen, wieviel eigenen Handlungsspielräume sich die Landesverbände des BSW erarbeiten und wieviel zentrale Steuerung aus Berlin erfolgen wird.

 

Literatur

  • Becker, Wibke/Georgi, Oliver/Wehner, Markus (2024): In ihrem Schatten. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. November.
  • Bergman, Knut/Diermeier, Matthias/Kempermann, Hanno (2023): AfD in von Transformation betroffenen Industrieregionen am stärksten. IW-Kurzbericht 71/2023.
  • Best, Volker (2024): Institutionelle Konsequenzen des Parteiensystemwandel in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 55 (2), S. 226-448.
  • BSW (2024): Beschluss des Parteivorstands zu den Sondierungsergebnissen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen vom 30. Oktober 2024. Online verfügbar unter https://bsw-vg.de/beschluss-des-parteivorstands-zu-den-sondierungsergebnissen-in-sachsen-brandenburg-und-thueringen-vom-30-oktober-2024/, abgerufen am 04.11.2024.
  • Focus Online (2024): Übler Lobbyverdacht gegen Lauterbach: Wagenknecht sieht „himmelschreienden Skandal“. Online verfügbar unter https://m.focus.de/politik/interne-dokumente-zeigen-bundesregierung-soll-gesetz-auf-wunsch-von-us-pharmakonzern-angepasst-haben_id_260387396.html, abgerufen am 04.11.2024.
  • Lassiwe, Benjamin/Henke, Katharina (2024): Anders als in Thüringen. BSW-Chef hält Sondierungspapier für unnötig. In: Der Tagesspiegel vom 24. Oktober.
  • Manow, Philip/Schwander, Hanna (2022): Eine differenzierte Erklärung für den Erfolg der AfD in West- und Ostdeutschland. In: Brinkmann, Heinz Ulrich/Reuband, Karl-Heinz (Hg.): Rechtspopulismus in Deutschland. Wahlverhalten in Zeiten politischer Polarisierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 163-191.
  • Mau, Steffen (2024): Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt, Berlin: Suhrkamp.
  • Neu, Viola/Pokorny, Sabine (2024a): Tabellenanhang zur Landtagswahl in Thüringen am 1. September 2024. Online verfügbar unter https://www.kas.de/documents/d/guest/tabellenanhang-zur-wahlanalyse-thuringen-2024, abgerufen am 04.11.2024.
  • Neu, Viola/Pokorny, Sabine (2024b): Tabellenanhang zur Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2024. Online verfügbar unter https://www.kas.de/documents/d/guest/tabellenanhang-zur-wahlanalyse-sachsen-2024, abgerufen am 04.11.2024.
  • Rüsenberg, Robin/Rüsenberg, Wencke (2024): Zurück in die Zukunft? Die Parteien und ihre Gesundheitspolitik vor dem Bundestagswahljahr 2025;  https://observer-gesundheit.de/zurueck-in-die-zukunft/, abgerufen am 04.11.2024.
  • Rüsenberg, Robin/Schleyer, Lorenz/Siefken, Sven (2023): In den Tiefen der Koalitionsverhandlungen 2005 bis 2021: Von der Arbeitsgruppe Gesundheit zum Koalitionsvertrag. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen 54 (3), S. 483-508.
  • Thomeczek, Philipp (2024): Welchen Parteien steht das BSW nahe? Eine Analyse mithilfe von Wahl-O-Mat Positionsdaten, abgerufen am 04.11.2024.
  • Zeit Online (2024): Landkreistags-Präsident: Krankenhausreform hilft AfD. Online verfügbar unter: https://www.zeit.de/news/2024-10/21/landkreistags-praesident-krankenhausreform-hilft-afd, abgerufen am 04.11.2024.

 

 

Robin Rüsenberg

Lehrbeauftragter am Institute of Comparative Politics and Public Policy an der TU Braunschweig

 

Der Autor vertritt seine private Meinung. 

 


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