26.08.2024
Hautkrebs-Screening – ein Leerstück
Prof. Dr. med. Jürgen Windeler
Für das seit 2008 bestehende Hautkrebs-Screening gibt es nach wie vor keine begründende Evidenz. Deutschland ist das einzige Land, das ein Screening anbietet. Die laufende „Evaluation“ gibt keinen Anlass, eine gute Qualität anzunehmen, und irgendwelche Indizien, dass nach 16 Jahren die gesetzten Ziele erreicht wurden, sind nicht erkennbar. Zeit also, inne zu halten.
Nichts spricht dagegen, dass Menschen ab und zu ihre Haut in Augenschein nehmen und bei Auffälligkeiten einen Arzt aufsuchen. Nichts spricht dagegen, über ein Angebot an besonders gefährdete Risikogruppen nachzudenken. Aber das laufende, vollkommen ineffektive und ineffiziente Vorgehen sollte schnellstens beendet werden.
Sind 200 Millionen Euro viel oder wenig Geld? Klar, das hängt davon ab, womit man die Summe vergleicht. Man könnte z.B. 4000 Mittelklasse-Pkw – neu! – dafür bekommen, oder 400 Einfamilienhäuser – ganz schön viel! Verglichen mit den Gesamtausgaben im GKV-System macht die Summe dagegen weniger als ein Promille aus, Peanuts also?
Der Berufsverband der Deutschen Dermatologen (BVDD) ärgert sich. Firmen und eine große Ersatzkasse bieten Apps zur Beurteilung von Hautveränderungen an – wichtiges Ziel: die Krebsfrüherkennung. Wer nun aber erwartet hatte, dass die Fachleute nach dem Nutzen, dem Schaden, der Evidenz fragen, erwachte schnell. Das sei alles „sehr unfair“, war das wesentliche Argument. Und es ging auch nicht darum, dass die Dermatologen Apps nicht geeignet fanden. Nein, nur diese Apps sollten es nicht sein. Nach einem Artikel der Ärztezeitung vom 9. August 2024 unterhält der BVDD eine Kooperation mit einem anderen Anbieter für teledermatologische Diagnostik, zu dessen angebotenen Leistungen auch die Diagnose von Hautkrebs gehört. Und so beklagte der Berufsverband, dass mit dem Angebot der Kasse „Teledermatologie in der GKV-Flatrate verramscht [wird], bevor sie sich überhaupt in der breiten Versorgung etabliert hat.“
Im März 2021 hatte der gleiche BVDD zusammen mit der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft (DDG) eine „S2k-Leitlinie“ zur Teledermatologie beschlossen, wie er auf seiner Webseite stolz verkündet [1]. Ergänzend wurden 10 „zukunftsweisende Statements zur digitalen Dermatologie erarbeitet“. Statement 2 lautet: „Digitale Dermatologie soll auf Wirkungs- und Sicherheitsnachweisen im Sinne der evidenzbasierten Medizin beruhen.“ In der folgenden Erläuterung wird ausgeführt: „Wirkungsnachweise beziehen sich hierbei zum Beispiel auf klassische Endpunkte wie die Verbesserung der Morbidität, Mortalität und Lebensqualität…“, „Als Sicherheitsnachweise gelten die Vermeidung der Gefahr der Überdiagnostik, Übertherapie sowie der nicht adäquaten Behandlung durch falsch-positive und falsch-negative Ergebnisse“, und diese Nachweise müssen „anhand etablierter und in der wissenschaftlichen Community anerkannten Verfahren erbracht werden.“
Das klingt gut und ambitioniert. Nur – irgendwelche Hinweise, dass sich zwischen 2021 und heute die geforderte Evidenz materialisiert hätte, sind weder beim BVDD noch irgendwo anders zu finden. Und man möchte eigentlich davon ausgehen dürfen, dass der BVDD genauso wie die DDG die Evidenz zum Hautkrebsscreening kennt. Ein Nutzenbeleg „anhand in der wissenschaftlichen Community anerkannten Verfahren“ wäre eine gute Voraussetzung dafür, sich mit der – anderen?, ergänzenden? – „Wirkung“ digitaler Dermatologie zu befassen. „Wäre“ – Konjunktiv, Möglichkeitsform! Denn der BVDD und die DDG wissen wie alle anderen auch, dass dieser Beleg nicht existiert – das haben sie sogar in ihre Präventions-Leitlinie [2] und in ihr eigenes Info-Portal geschrieben [3]: „Es gibt Hinweise, dass so die Sterblichkeit durch schwarzen Hautkrebs gesenkt werden kann. Genaue Zahlen zum bundesweiten Screening stehen allerdings noch aus.“ Ein „Nachweis“ sieht anders aus! Umso mehr kann es da verwundern, dass Deutschland als einziges Land der Welt ein Hautkrebsscreening für alle (GKV-Versicherten) eingeführt hat und immer noch unterhält.
Wie es dazu kam
Grundlage für Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung innerhalb der GKV sind die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). In der Fassung der „Richtlinie über die Früherkennung von Krebserkrankungen – KFE-RL“ wurden bis 2007 zwar für Frauen und Männer „Maßnahmen zur Früherkennung von Krebserkrankungen […] der Haut“ als Leistungsangebot genannt, aber in den folgenden Spezifikationen nicht weiter beschrieben. Dieser Umstand sowie die Ergebnisse eines Modellprojektes veranlassten die KBV im Januar 2005, einen Antrag auf Bewertung des Hautkrebs-Screenings im G-BA zu stellen. Am 1.2.2005 beschloss daraufhin der Gemeinsame Bundesausschuss, folgende Themen zu beraten: „Hautkrebs-Screening“, „Früherkennungsuntersuchung von Sehstörungen bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres“ und „Früherkennungsuntersuchung von Hörstörungen bei Neugeborenen (Hör-Screening für Neugeborene)“.
Für das Seh-Screening sowie das Hör-Screening wurde jeweils eine Nutzenbewertung an das IQWiG in Auftrag gegeben, für das Hautkrebs-Screening dagegen nicht. Hierfür wurde es als ausreichend erachtet, die Ergebnisse des Modellprojektes in Schleswig-Holstein heranzuziehen, auf das sich auch der Antrag der KBV gründete.
Am 15. November 2007 wurde mit den aus den Beratungen resultierenden Erkenntnissen der Beschluss gefasst, in Deutschland ein Hautkrebs-Screening ab einem Alter von 35 Jahren einzuführen. Der Beschluss trat zum 1.7.2008 in Kraft.
Führt man sich die Tragenden Gründe (TG) des Beschlusses noch einmal zu Gemüte, so kann man das Vorliegen von überzeugender Evidenz nur als „nicht existent“ bezeichnen [4]. Dort heißt es:
- „Das Projekt ‚Hautkrebs-Screening in Schleswig- Holstein‘ ist eine Interventionsstudie, allerdings eine unkontrollierte Studie ohne adäquat Vergleichsgruppe.“
- „Damit fehlt zum jetzigen Zeitpunkt ein eindeutiger wissenschaftlicher Beleg für eine Reduktion von Mortalität und/oder Morbidität.“
- „Zu falsch-negativen Befunden gibt es keine Angaben.“
- „Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass die Spezifität der visuellen Ganzkörperinspektion niedrig ist.“
Bloß gut, dass man das IQWiG nicht gefragt hatte! Und auch andere kritische Stimmen hatten wenig Chancen. Denn die Hautärzte, die KBV und der damals für Prävention zuständige IKK-BV wollten das Screening unbedingt haben. So wurde der doch äußerst dürftigen Evidenzgrundlage dadurch Rechnung getragen, dass die Einführung des Screenings mit einer Evaluation verbunden wurde: „wird hinsichtlich Qualität und Zielerreichung durch regelmäßige Auswertung der Dokumentation evaluiert. Dabei verständigen sich die KBV und die Spitzenverbände der Krankenkassen über Art und Umfang der Evaluation und die Veröffentlichung“ (§ 35).
Es dauerte mehr als 3 Jahre, bis die BQS im April 2011 den Auftrag erhielt, diese Evaluation vorzunehmen. Der erste Bericht, der 2015 („schon“ 7 Jahre nach Einführung) veröffentlicht werden konnte, stellte für die Jahre 2009-10 fest, dass „einige inhaltliche Fragestellungen der Evaluation aufgrund von Besonderheiten in den Datensätzen nicht bzw. nicht ohne Einschränkungen beantwortet werden können“ – „Besonderheiten“ als ein anderes Wort für ungenügende Dokumentation. Im Ergebnis waren „derzeit noch keine Aussagen zum Nutzen des Screenings hinsichtlich einer Reduktion der Hautkrebsmortalität“ möglich, „die Frage nach dem Anteil falsch-negativer Verdachtsdiagnosen bei Hausärzten und Dermatologen“ muss „unbeantwortet bleiben“, und „die Analyse [erlaubt] keine Aussage zur Gründlichkeit der einzelnen Untersuchungen“. Im folgenden Bericht für die Jahre 2011-13, im Oktober 2016 veröffentlicht, finden sich wortgleiche Aussagen. Sie wiederholen sich auch in den Berichten zu den Jahren 2014-18, 2020 veröffentlicht, und 2019-22, veröffentlicht 2023, allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die Passage „keine Aussagen zum Nutzen möglich“ nicht mehr auftaucht. Aussagen zum Nutzen finden sich aber auch nicht – natürlich nicht, dafür war die Dokumentation gar nicht geeignet.
Bis heute wird bei einer Intervention, deren Evidenz ausweislich der TG grundlegende Lücken aufwies (die bis heute nicht geschlossen sind), eine „Evaluation“ mit unzulänglichen Daten durchgeführt. Selbst mit guter Datenqualität könnte man so nichts zu „Qualität“ (z.B. falsch-negative Befunde) und „Zielerreichung“ (Nutzen) sagen. 16 Jahre nach Einführung weiß man wenig über die Qualität und nichts über die Zielerreichung, jedenfalls nicht aus dieser „Evaluation“.
Mangels Daten aus der Dokumentation selbst werden in den Evaluationsberichten Auswertungen der Deutschen Krebsregister präsentiert. Ihnen ist zu entnehmen, dass es zu Beginn des Screenings (genaugenommen schon vorher) zu einem deutlichen Anstieg der in situ Melanome und invasiven Melanome des TNM-Stadiums I kam und die Inzidenz in der Folge etwa auf diesem Niveau verblieb. Gleichzeitig fand sich über die Zeit des Screenings aber keine Abnahme fortgeschrittener Stadien. In Abwesenheit eines Belegs für einen Mortalitätsvorteil hätte ein Rückgang der späten Stadien jedenfalls als Anhaltspunkt dienen können, dass da etwas Sinnvolles passiert. Ausweislich der Evaluationsberichte ist das nicht zu erkennen.
„Art und Umfang“ der Evaluation waren und sind ungeeignet, die wesentlichen, in den TG thematisierten Wissenslücken zu füllen. Epidemiologische Arbeitsgruppen haben sich über andere Zugänge daran versucht, u.a. in zwei Projekten, die vom Innovationsfonds gefördert wurden („EvaSCa“ [5] und „Pertimo“ [6]). Vor allem die Arbeitsgruppe um den Lübecker Epidemiologen Katalinic hat sich um eine Evaluation der „Zielerreichung“ bemüht. Er war auch an dem genannten Modellversuch beteiligt, aber dessen Ergebnisse, Grundlage des Beschlusses zur Einführung, konnten nie reproduziert werden. Die nachfolgenden Ergebnisse kann man als durchweg enttäuschend bezeichnen [7,8]. Eines der jüngsten (2023) liest sich so: „The estimated population-based effects of skin cancer screening on melanoma mortality were minimal and not significant. A potential effectiveness cannot be demonstrated.“ [9] Und aus der Auswertung von AOK-Daten wurde man auch nicht schlauer – es war schlicht „unmöglich“, aus diesen Daten etwas zu Effekten auf die Mortalität abzuleiten [10]. Die Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Screenings aus beiden Inno-Fonds-Projekten wurden mit Beschluss vom 19. August 2022 dem Unterausschuss Methodenbewertung im G-BA zugeleitet. Passiert ist – nichts.
Die durchgehend anzutreffende Fokussierung auf die Mortalität weist auf eine weitere Eigentümlichkeit des Screenings hin: Das eigentliche Ziel ist das Melanom. Dieses macht allerdings weniger als 10 % der Hautkrebse aus, ist demnach viel seltener als das Plattenepithel-Ca (ca 25%) und das Basaliom (ca 70 %), zu selten, als dass man ein Screening erwägen würde. Es musste „angereichert“ werden. Die beiden anderen Tumorarten haben aber eine viel bessere Prognose, das Basaliom führt nur selten zum Tod. Deshalb wird in dem Beschluss aus 2007 auch hervorgehoben, dass beim Basaliom „Erosionen und Ulzerationen und daraus resultierende aufwendige operative Eingriffe vermieden werden können“.
Vordergründig ein nachvollziehbares Argument, aber wer einmal in einer dermatologischen Klinik gesehen hat, welche Patienten mit weit fortgeschrittenen Basaliomen kamen, der vermutet, dass dies genau nicht diejenigen sind, die zu einem Screening gehen würden, es sei denn, man würde sie zwangsvorführen. Bei der „Zielerreichung“ geht es nicht darum, ob bei frühen Stadien schonendere Eingriffe durchgeführt werden können. Das ist so trivial, dass man es Schulkindern in 10 Minuten erklären kann. Die Frage ist, ob das Screening dazu führt, dass es weniger fortgeschrittene Basaliome gibt. Die Auswertungen der Krebsregister lassen keinen Effekt erkennen.
Die Evaluationsberichte enthalten auch Angaben zu den Kosten des Screenings. Sie nähern sich einer Summe von 200 Millionen Euro – pro Jahr! –, wovon die Hälfte auf das eigentliche Screening zurückzuführen ist. Der Rest betrifft Nachfolgediagnostik und weitere Leistungen.
Es mag vertretbar sein, eine Maßnahme mit unzureichender Evidenz einzuführen, vor allem, falls ein objektiver „high unmet medical need“ in der Versorgung besteht. Aber dann ist eine stringente Evaluation, die zuverlässig in der Lage ist, die offenen Fragen zu beantworten, zu fordern, und – selbstverständlich! – sind Kriterien vorzusehen, nach denen das Angebot auch wieder beendet werden kann. Nichts davon ist in Sicht: Erkenntnisse oder ein Umdenken – man weiß seit 16 Jahren nicht, ob man das Ziel erreicht, alle Erkenntnisse sprechen dagegen, die offenen Fragen sind offengeblieben, aber es kümmert niemanden und alle machen einfach weiter.
Evidenz und Leitlinie
Im April 2023 veröffentlichte die USPSTF, die weltweit führende Institution zur Bewertung von Früherkennungsmaßnahmen, ihre aktuelle Empfehlung zu „Skin Cancer“ [11]. Ihr gingen Versionen in den Jahren 1996, 2001, 2009 und 2016 voraus. Wie schon 2009 und 2016, als man in Deutschland die Zielerreichung „evaluierte“ und die eigentlich grundlegenden Aussagen nicht machen konnte, stellte die USPSTF fest: „The USPSTF found the current evidence is insufficient to assess the balance of benefits and harms of visual skin examination“ – „no recommendation“. Die Bewertung entspricht der anderer Institutionen und auch dem Ergebnis eines 2019 veröffentlichten Cochrane-Reviews, der sich auf das Melanom beschränkte [12]. Kein Land der Welt hält ein Hautkrebs-Screening vor, nicht einmal Australien und Neuseeland mit den höchsten Inzidenzen der Welt und einer hohen Wertschätzung und Werbung für echte Prävention. Und Deutschland? Anfang September 2023, der Toner auf dem Ausdruck der USPSTF-Bewertung war noch frisch, forderte der BVDD ein „staatlich organisiertes Hautkrebs-Früherkennungsprogramm“ [13]. Vertraute er auf die Legasthenie des deutschen Gesundheitssystems?
Die Begründung ist denn auch ein Beispiel besonderer argumentativer Verirrung: „Um wirksam gegen die stetig steigende Hautkrebs-Inzidenz anzugehen“, muss „… in die Vermeidung … und in die Hautkrebs-Früherkennung … investiert werden. Daran führt aus wissenschaftlicher Sicht kein Weg vorbei.“ Nun, wie die wissenschaftliche Sicht in Theorie und Praxis zeigt, verringert Screening nicht die Inzidenz – im Gegenteil führt Screening zu einer Steigerung, das ist geradezu der Sinn. Genauso ist es auch in Deutschland zu beobachten, nur leider folgt daraus kein Benefit – nur die absurde Forderung nach noch mehr Screening.
Auch die Autoren der AWMF-Leitlinie „Prävention von Hautkrebs“ (S3 – höchste Qualität!) haben sich offenbar entschieden, den internationalen Kenntnisstand nicht ernst oder gar nicht zur Kenntnis zu nehmen [2]. Zwar ist der Leitlinientext eine Fundgrube für sinnvolle, deklaratorische Statements (wie man sie auch in Lehrbüchern findet), aber die dort formulierten Anforderungen und Erkenntnisse haben keinen Eingang in die Empfehlungen gefunden, von der Praxis gar nicht zu reden.
Der Cochrane-Review ist den Leitlinien-Autoren offenbar unbekannt. Die USPSTF kommt in der Leitlinie (Stand 2021; das Kapitel zum Screening war angeblich „grundlegend überarbeitet“ worden) mit einem Hinweis auf eine Publikation aus 2001 vor. In der Leitlinie wird ausgeführt, dass Deutschland das einzige Land mit einem bevölkerungsweiten Screening ist und dass andere Länder „zögern“, weil „die Effektivität bisher nicht abschließend nachgewiesen wurde“. Eine Darlegung, warum Deutschland zu einem anderen Ergebnis kommt, findet sich nicht. Es wird zudem behauptet, dass von zehn Kriterien für Screeningmaßnahmen, die von Anderman et al. 2008 [14] vorgeschlagen worden sind, für das Hautkrebs Screening „die meisten, wenn nicht sogar alle“ erfüllt seien. Ein Blick auf die Kriterien legt nahe, dass so gut wie keines für das Hautkrebs-Screening erfüllt ist. Insbesondere das Kriterium „Es sollte wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit des Screening Programms geben“ trifft sicher nicht zu, wie die Leitlinie an anderer Stelle selbst sagt: „Hinsichtlich der Wirksamkeit dieser Maßnahmen, d. h. eine Verschiebung von späten Tumorstadien hin zu frühen Tumorstadien und einer Mortalitätsreduktion, ist die Evidenz eher gering.“ (8.1.6). Und dass das Kriterium „Der Gesamtnutzen des Screenings sollte den Schaden überwiegen“ gar nicht zutreffen kann, ist schon deshalb klar, als alle bisherigen Evaluationsberichte ausdrücklich feststellen, dass sie die Frage nicht beantworten können und die Leitlinie selbst ausführt: „Weil Studien über die Belastung durch ein Screening-Programm für Individuen und das Gesundheitssystem fehlen und weil die Effektivität bisher nicht abschließend nachgewiesen wurde, …“ (8.1.5).
Unmittelbar vor der „Evidenzbasierten“ Empfehlung (8.1.20), ein Hautkrebs-Screening anzubieten, findet sich die Aussage, „dass mortalitätssenkende Effekte eines Krebsscreenings nicht vor Ablauf von 5 Jahren sichtbar werden“, was zu der Prognose führt, dass in Deutschland „Änderungen des Mortalitätstrends erst ab etwa 2013 sichtbar werden“. Diejenigen, die für das Siegel „Geprüft 2020“ verantwortlich waren, haben offenbar übersehen, dass seit 2013 schon einige Jahre vergangen waren – ohne Änderung des Trends. Zwei Fachgesellschaften, die zu dieser Empfehlung ein ablehnendes Sondervotum abgegeben hatten, war es offenbar nicht gelungen, der Phalanx an dermatologischen Interessen die Evidenzlage entgegenzusetzen.
Interessant ist auch der Forschungsbedarf, der in der Leitlinie thematisiert wird und der das ganze Desaster beschreibt, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Der Bedarf betrifft alle wesentlichen Aspekte des Screenings, vor allem nachteilige Auswirkungen, über die man nicht viel weiß. Zentral aber heißt es (S. 216): „Am dringlichsten ist der Nachweis zu erbringen, dass ein Screening zur Abnahme der Hautkrebs-Mortalität, zum verbesserten Gesamtüberleben und zu einer besseren Quality of Life führt.“ Dieser Nachweis liegt also nicht vor. Im Gegenteil sprechen die vorhandenen Erkenntnisse, auch aus dem deutschen Programm dagegen bzw. lassen alle relevanten Fragen unbeantwortet. Und die Beschreibung des Forschungsbedarfs durch wissenschaftliche Fachgesellschaften hätte vielleicht auch zu der einen oder anderen forscherischen Anstrengung Anlass gegeben, hier etwas zu verbessern – „hätte“, Konjunktiv.
Das Geschäft
Eine Motivation, ein Hautkrebs-Screening in der GKV einzuführen, war das verbreitete IGeLn, das durch die unscharfe Formulierung der alten Richtlinie gerechtfertigt wurde. Kaum aber hatte der G-BA die Einführung des Hautkrebs-Screenings beschlossen, ergab sich eine neue Geschäftsidee. Die Auflichtmikroskopie war im G-BA Beschluss nicht genannt. Dies konnte einerseits kritisiert werden, andererseits bot sich so eine Gelegenheit, die Methode als IGeL zu verkaufen [15]. 2020 einigten sich Kassen und Ärzte im Bewertungsausschuss darauf, die Auflichtmikroskopie im Screening abrechenbar zu machen. Sie hat nun eine EBM-Ziffer, aber weder wurde sie in die Richtlinie des G-BA aufgenommen noch erfolgte überhaupt eine inhaltliche Befassung und Bewertung durch dieses Gremium. Ein Cochrane-Review aus 2018 [16] zeigte, dass die Dermatoskopie die diagnostische Güte beim Melanom gegenüber der alleinigen Inspektion verbessert. Sie scheint also in der Lage, einen Teil des Schadens (falsch-positive Ergebnisse) zu reduzieren. Dies aber nur, so der Review, unter bestimmten Rahmenbedingungen, die in den Qualitätsanforderungen der Richtlinie nicht beschrieben und daher nicht sichergestellt sind. Interessant: In der S3-Leitlinie (Version 2021) gibt es keine Empfehlung zur Auflichtmikroskopie, nur den knappen Hinweis, dass sie seit dem 1.4.2020 im EBM abgebildet ist und nicht mehr geigelt werden kann. Die beruhigende Ergänzung folgt sogleich: „Allerdings können andere IGeL-Leistungen in Rechnung gestellt werden.“ (S. 225)
Aber da war ja noch eine Studie: Auf der Internetseite eines Hautarztes findet sich die neugierig machende Überschrift „Studie weist Bedeutung der Auflichtmikroskopie bei der Hautkrebserkennung nach“. Die Studie [17] entpuppt sich als eine Umfrage, bei der von 38.000 kontaktierten Ärzten 7.500 Antworten (20%) verwertbar waren. „Die Ergebnisse zeigen, dass mehr als 88 Prozent der Hautärzte ein Dermatoskop (Auflichtmikroskop) nutzen …“ ist denn doch eine eher unangemessene Interpretation, und zur Bedeutung sagt die Studie gar nichts, denn „Objektive Daten, beispielsweise, wie sich die Zahl der Operationen, die benötigt werden, um ein Melanom zu entdecken, durch Dermatoskopie (Auflichtmikroskopie) verändert, können in solch einer Befragung natürlich nicht erhoben werden.“
Sie denken noch darüber nach, welches wohl die nächste Geschäftsidee sein könnte? Na, was wohl? Künstliche Intelligenz! Googeln Sie selbst! Dumm nur für den BVDD, dass das, was man dem staunenden Publikum da verkaufen kann, auch ganz ohne Dermatologen geht, und da sich um Nutzen und Risiken niemand schert …
Die anfangs erwähnte, vom BVDD kritisierte Ersatzkasse bietet ein erweitertes Hautkrebs-Screening an. Die Altersgrenze wird auf 15 Jahre herabgesetzt, und durch den „Teledoktor“ das Angebot gemacht, aufgrund eines Fotos innerhalb von 48 Stunden eine „hautärztliche Einschätzung“ zu erhalten. Liest man die Argumente beider Seiten in dieser Auseinandersetzung, so geht es nicht um Sinn oder Unsinn, um Nutzen oder Schaden – es geht einzig und allein ums Geschäft. Der BVDD beklagt, die niedergelassenen Dermatologen hätten dabei das „finanzielle Nachsehen“, die Kasse kontert, es gebe „einen Bedarf der Versicherten“, den man bedienen wolle.
Auch viele andere Krankenkassen „erweitern“ das GKV-Angebot in unterschiedlichsten Ausprägungen und Umfang. Und spätestens, wenn man liest, dass es bei einer anderen großen Ersatzkasse in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein gar keine Altersbeschränkung gibt, diese in Sachsen 15 Jahre, in Niedersachsen und Hessen 18, in Nordrhein 20 Jahre beträgt, und in Sachsen-Anhalt die regulären 35 Jahre gelten (Stand August 2024), dann weiß man, dass die Priorität solcher Regelungen ganz gewiss nicht das Wohl der Versicherten und die Evidenz ist. Ein Screening für Kinder und Jugendliche zu bewerben, wo die Evidenz schon für Erwachsene löchrig ist, müsste eigentlich eine Aufsichtsbehörde, also das Bundesamt für Soziale Sicherung, sensibilisieren. Dass es nirgends bei diesen Angeboten Informationen über (ungeklärten) Nutzen und Schaden gibt, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Das Hautkrebs-Screening ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Es funktioniert deshalb so gut, weil Diagnostik als solche als erstrebenswert und ungefährlich angesehen wird, und auf der äußeren Haut das Gucken so einfach erscheint. Und es funktioniert deshalb gut, weil, wie schon vielfach beschrieben, Screening ein System ohne negatives Feedback ist. Alle sind zufrieden. Mit eingängigen Argumenten, so unzutreffend sie sein mögen, können hier Kunden angelockt werden; beschweren wird sich niemand.
Das vollkommene Fehlen von angemessenen Informationen – man ist versucht, hier von aktivem Verschweigen zu sprechen – ist besonders auffällig. Selbst bei Institutionen, die dafür zuständig sind, wird man nicht fündig: Auf der Internetseite des Verbraucherzentrale Bundesverbands findet sich eine Information mit dem Titel „Hautkrebs-Früherkennung: Darum ist sie so wichtig“ [18]. Leider erfährt man im Folgenden das „darum“ nicht. Es gibt Informationen dazu, wie das Screening abläuft, aber kein Wort zu (ungeklärtem) Nutzen und Schaden – immerhin ein Link auf gesundheitsinformation.de, wo man das alles nachlesen kann. Eine Information und Entscheidungshilfe des G-BA wie für das Darmkrebs- und Brustkrebs-Screening gibt es für Hautkrebs nicht.
Und wenn man sich die verschiedensten Internetauftritte dermatologischer Praxen ansieht, dann kann man sich ohne besonders wild zu spekulieren ausmalen, wie die Information in den Praxen über die Sinnhaftigkeit des Screenings aussehen wird. Hier ist immerhin die S3-Leitlinie positiv zu erwähnen, die an einer – etwas versteckten – Stelle ausführt: „Das bedeutet, dass die Person nach einer umfangreichen Aufklärung über potenziellen Nutzen und Schaden des Screenings selbst entscheidet, ob sie eine Ganzkörperuntersuchung durchführen lässt oder nicht“ (S. 223). „Umfangreiche Aufklärung“ – eine Hidden Client-Studie, wie sie die Stiftung Warentest vor vielen Jahren zum Prostata-Ca durchgeführt hat, würde bestimmt aufschlussreiche Einsichten liefern.
Fazit
Der Beitrag von Früherkennung im „War on Cancer“ wird maßlos überschätzt. Die Gründe sind bekannt [19] und sollen hier nicht wiederholt werden. Ein ganz wesentlicher ist eine unzureichende Information der „Kunden“ – man vergleiche etwa die Informationspflichten bei einer Geldanlage mit den (nicht existierenden) beim Verkauf von „Vorsorge“. Und dass das Patientenrechtegesetz (BGB §§ 630) etwas anderes im Sinn hat, scheint niemanden zu stören, auch nicht die Patienten. Es wird vielmehr achselzuckend hingenommen, dass man u.a. Risiken, die für die Nutzen/Schaden Abwägung und damit für Entscheidungen sowohl auf der Individual- als auch auf der Systemebene elementar wären, nicht kennt.
Nimmt man alle Aspekte zusammen, die internationale Erkenntnislage und Empfehlungen renommierter Institutionen, die einzigartige deutsche Entscheidung, die Ergebnisse deutscher „Evaluationen“ mit den gravierenden Erkenntnislücken bezogen auf das deutsche Vorgehen, die dürftige Information über nicht belegten Nutzen, das unbekannte Ausmaß von Schäden des Screenings, die ungehemmte Geschäftemacherei und, schließlich, die Abwesenheit irgendeiner Kontrolle, so kann man das Hautkrebs-Screening als Paradebeispiel für eine Art „Systemversagen“ ansehen – ein Lehr- oder besser Leerstück. Im System – und damit ist nicht nur das GKV-System gemeint – sind Evidenzbasierung und evaluative Selbstkritik zu Fremdworten geworden. Und eine Politik, die sich „festgelegt“ hat, „nichts zu streichen“ [20], hat sich aus der Gestaltung eines sinnvollen Gesundheitssystems sowieso längst verabschiedet.
In der S3-Leitlinie kann man nachlesen, was in jedem Lehrbuch über Screening steht: „Weil ein Screening aber auf Untersuchungen und Tests an gesunden Menschen abzielt, müssen mögliche Schäden und Risiken, welche diese Prozeduren mit sich bringen, noch sorgfältiger untersucht werden“ (S. 206) bzw. „Um ein Screening-Programm einzuführen, muss der mögliche Nutzen die möglichen Risiken und Schäden überwiegen. Nur dann ist die Untersuchung von offensichtlich gesunden Bevölkerungen zu rechtfertigen“ (S. 207).
Man könnte diese Statements ernst nehmen und die Evidenz sowie die eigene Evaluation berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine klare Konsequenz bzgl. der Rechtfertigung dieser Maßnahmen, die alle anderen Länder der Welt auch ziehen. Schluss damit! Mit 200 Millionen Euro im Jahr kann man ganz sicher etwas Sinnvolleres anstellen.
Literatur
[1] https://www.bvdd.de/positionen/telemedizin/
[2] https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/hautkrebs-praevention
[3] https://infoportal-hautkrebs.de/praevention-und-frueherkennung/frueherkennung#hautkrebs-screening
[4] https://www.g-ba.de/downloads/40-268-482/2007-11-15-KFU-Hautkrebsscreening_TrG.pdf
[7] Hübner J et al. Hautkrebsscreening in Deutschland: Bilanz nach zehn Jahren. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 61 2018 1536-1543. doi: 10.1007/s00103-018-2836-6.
[8] Stang A, Jöckel KH (2016). Does skin cancer screening save lives? A detailed analysis of mortality time trends in Schleswig-Holstein and Germany. Cancer 122 2016 432-437. doi:10.1002/cncr.29755
[9] Schumann L et al. Association of early-stage incidence and mortality in malignant melanoma – a population-based ecological study, J Dtsch Dermatol Ges 2023, 33-40. doi: 10.1111/ddg.15218.
[10] Stang A et al.; The impossibility of mortality evaluation of skin cancer screening in Germany based on health insurance data: a case-control study; Eur J Cancer 173, 2022, 52-58. doi: 10.1016/j.ejca.2022.06.009.
[11] https://www.uspreventiveservicestaskforce.org/uspstf/recommendation/skin-cancer-screening
[12] https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD012352.pub2/full/de
[14] Andermann A et al. Revisiting Wilson and Jungner in the genomic age: a review of screening criteria over the past 40 years. Bull World Health Organ, 86 2008 317-319. doi:10.2471/blt.07.050112
[16] https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD011902.pub2/full/de
[17] Forsea AM et al. The impact of dermoscopy on melanoma detection in the practice of dermatologists in Europe: results of a pan-European survey; JEADV 31 2017 1148-1156 doi: 10.1111/jdv.14129
[19] https://observer-gesundheit.de/der-check-heiligt-die-mittel/
[20] https://background.tagesspiegel.de/gesundheit-und-e-health/briefing/ich-werde-nichts-streichen
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„Erinnern Sie sich noch an den G-BA?“, Observer Gesundheit, 19. Juni 2024,
„Der Check heiligt die Mittel – ein Update“, Observer Gesundheit, 16. Dezember 2023,
„Der Check heiligt die Mittel“, Observer Gesundheit, 31. Oktober 2023.
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