02.05.2024
GVSG muss wieder inhaltliche Substanz bekommen
Dr. Carola Reimann
Dr. Sabine Richard
Lange Wartezeiten, überfüllte Notaufnahmen, Sicherstellungsprobleme, mangelnde Koordination, Arztzentrierung, fehlende Attraktivität für ärztlichen Nachwuchs – die Liste der Herausforderungen in der ambulanten Versorgung ist lang. Die Koalition hatte sich für diese Legislaturperiode vorgenommen, die Versorgungsangebote wohnortnah, sektorenübergreifend und multiprofessionell weiterzuentwickeln.
Nachdem nun aber die neuen Gestaltungselemente Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen und Primärversorgungszentren wieder aus dem Referentenentwurf zum Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) herausgestrichen wurden, muss das parlamentarische Verfahren zeigen, ob das ursprüngliche versorgungspolitische Ziel noch eine Chance bekommt.
Nach „Entkernung“ des GVSG scheint eine echte Transformation der Versorgung erst einmal vom Tisch zu sein. Vorerst übrig geblieben ist nämlich eine Liste von unverbundenen und in sich widersprüchlichen Honoraranreizen. Davon sollen zunächst die Hausärzte profitieren, die Fachärzte scharren allerdings auch schon ungeduldig mit den Hufen.
Für die Versicherten enthalten die neuen Regelungen keine Aussicht auf strukturelle Verbesserungen der Versorgung. Sie werden aber zu erheblichen finanziellen Mehrbelastungen für die GKV führen, insbesondere dann, wenn es im parlamentarischen Beratungsprozess noch zu einem Deal in der Koalition käme: Denn die FDP macht sich für die Entbudgetierung auch der Fachärzte stark, und die Grünen halten am Konzept der Gesundheitsregionen fest. Ein solcher Kompromiss wäre aber katastrophal: Denn auf Ärzteseite wäre dann die Neigung zu sinnvollen Veränderungen von Versorgungsangeboten sehr gering, wenn das Geld auch im bestehenden Arrangement verdient werden könnte. Dagegen belaufen sich die Mehrausgaben für eine Aufhebung der fachärztlichen Budgets nach letzten Schätzungen auf zirka drei Milliarden Euro. Zusammen mit den rund 400 Millionen Euro, die für die Entdeckelung des Hausärzte-Budgets veranschlagt werden müssen, macht das rein rechnerisch insgesamt rund 0,2 Beitragssatzpunkte aus.
Die „fetten Jahre“ der gesetzlichen Krankenversicherung sind längst vorbei. Dennoch setzt die Politik weiter allein auf teure finanzielle Anreize. Dabei sollten die Erfahrungen aus dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) im Hinblick auf die mangelnde Steuerungswirkung einer kleinteiligen Vergütungsmechanik eine Lehre gewesen sein. Am Ende hat das TSVG die Entbudgetierung bereits weit vorangetrieben, ohne dass Versorgungsverbesserungen und kürzere Wartezeiten die Folge waren. Daraus resultierten dauerhaft nur erhebliche Mehrkosten. Ob frisches Geld also für die GKV-Versicherten auch wirklich bessere Erreichbarkeit von Arztpraxen und mehr Zeit für komplexe Versorgungsbedarfe bringen würde, ist völlig offen.
Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune ohne regionale Instrumente?
Noch aber besteht auch Hoffnung, dass im anstehenden parlamentarischen Verfahren über Vorschläge geredet wird, die in der Ressortabstimmung schon auf dem Tisch lagen. Geht es nach den Grünen, werden diese wieder zum Gegenstand des Gesetzes gemacht.
Vielleicht werden dann nicht nur die genannten Leerstellen im parlamentarischen Verfahren wieder gefüllt, sondern es besteht insgesamt auch die Chance für substantielle sektorenunabhängige Versorgungsansätze. Die Stärkung der Gesundheitsversorgung in der Kommune bleibt jedenfalls ein wichtiges Thema. Dazu werden regionale Gestaltungsspielräume gebraucht. Fachkräftemangel und Veränderungen in der Krankenhausstruktur erfordern neue Formen der Zusammenarbeit. Jede Region hat spezifische Herausforderungen, für die Lösungen gesucht werden müssen. Regionale Akteure, die Verantwortung für die Sicherung der Gesundheitsversorgung übernehmen wollen, dürfen nicht daran scheitern, dass kleinteilig definierte Anforderungskataloge und Blaupausen von der Bundesebene regional nicht passen.
Hier setzt der Vorschlag der AOK-Gemeinschaft für eine neue Rechtsgrundlage zur Ermöglichung einer versorgungsvertraglich basierten, regional ausgerichteten und sektorenunabhängigen Versorgungsgestaltung an: Dieser neue Vertragsrahmen ist bewusst möglichst dezentral, flexibel und praxistauglich formuliert, so dass die gestaltungswilligen Akteure vor Ort ausreichenden Handlungsspielraum bekommen und schnell auf Veränderungen reagieren können.
Regionale Initiativen sollen nicht an Widerspruchsrechten einzelner regionaler Akteure und an sektoralen Grenzen scheitern. Innovative Versorgungsmodelle brauchen eine Rechtsgrundlage, die einerseits Veränderungsbereitschaft belohnt und andererseits neuen Angeboten auch eine klare Perspektive für die Regelversorgung gibt.
Regionale sektorenunabhängige Versorgung (RegioSV) als Innovationsmotor
Nach Auffassung der AOK sollen Kranken- und Pflegekassen mit Leistungserbringenden eine neue Form von Verträgen zur Ausgestaltung von Gesundheitsregionen schließen können. Zum Abschluss dieser Verträge sollen vergleichbare Freiräume eröffnet werden wie in der Besonderen Versorgung (nach § 140a SGB V). Alle wesentlichen Akteure können auf der regionalen Ebene gemeinsam aktiv werden – darunter auch Einrichtungen der Langzeitpflege (nach SGB XI) und Kommunen.
Anders als in der „Besonderen Versorgung“ soll aber der Zugang zu den Versorgungsinitiativen für Versicherte aller Krankenkassen über Beitrittsrechte ermöglicht werden. Sobald die beteiligten Krankenkassen 70 Prozent der gesetzlichen Versicherten in der Region vertreten, soll laut AOK-Konzept eine Überführung in die Regelversorgung möglich sein – durch eine neuartige Option auf regionale „Allgemeinverbindlichkeit“ des Versorgungsvertrags. Konsequenterweise würde man in einem solchen Rahmen auf die Verpflichtung zu bürokratischen Einschreibeverfahren für die Versicherten verzichten.
An der Sektorengrenze stellen Probleme bei der Bereinigung von vertragsärztlichen Budgets sowie das Zulassungsrecht oft Hürden für die Umsetzung von regional sinnvollen Versorgungsangeboten dar. Auch hierzu sind gesetzliche Anpassungen erforderlich. Innovative Versorgungsangebote sollten im Rahmen der Bedarfsplanung nicht behindert, sondern im Gegenteil gefördert werden.
Ein Vorteil des AOK-Regelungsvorschlages ist vor allem, dass bei Bedarf alle wesentlichen regionalen Akteure zu unmittelbaren Vertragspartnern werden können – ohne einseitig gestaltete Initiativrechte, ohne gesetzlichen Verhandlungszwang und Kontrahierungsdruck. Ein „Club der Willigen“ soll mit der Umsetzung von innovativen Ansätzen starten können, ohne auf den Langsamsten warten zu müssen.
Zusammen mit dem vom Bundesgesundheitsministerium angekündigten Pflegekompetenzgesetz, in dem die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten mit Pflegefachkräften endlich auf eine neue Basis gestellt werden soll, würde eine solche Rechtsgrundlage vielfältige strukturelle Versorgungsinnovationen ermöglichen.
Eine solche „Generalklausel“ könnte auch verhindern, dass die Liste der spezifischen Versorgungsangebote im Sozialgesetzbuch V weiter aufgebläht wird. Insbesondere in den Paragraphen 63 ff. sowie 115 ff. finden sich viele Vorschriften, die sich im Nachhinein als schwer umsetzbar gezeigt haben und in der Praxis wenig Bedeutung haben. Insofern stellt der Vorschlag auch einen Kurswechsel in Bezug auf das Vertragsrecht im Sozialgesetzbuch dar.
Dr. Carola Reimann
Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes
Dr. Sabine Richard
Geschäftsführerin Versorgung des AOK-Bundesverbandes
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