12.10.2024
GKV-Spitzenverband vor künftigen Herausforderungen
Neue Personen für den Vorstand
Dr. Robert Paquet
Der GKV-Spitzenverband (GKV-SV) existiert seit 2008 und sollte die gesetzliche Krankenversicherung mit einer einheitlichen Stimme vertreten. Dass die Stimme stark sein sollte, lag nicht unbedingt im Interesse der Politik, damals wie heute. Auch die Selbstverwaltung und die Kassen als Mitglieder des Verbandes haben nicht immer dazu beigetragen. Dabei spielen die Kassenarten eine unselige Rolle. Die Politik hat den Verband mit kleinteiligen Aufgaben zugeschüttet und ihn gleichzeitig politisch klein gehalten.
Er ist bisher auch nicht als Kreativ-Agentur der GKV bzw. für die Gesundheitsversorgung hervorgetreten. Die Träger der Selbstverwaltung, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände sind geschwächt und sehen in der Gesundheitspolitik keinen Schwerpunkt mehr. Sie fallen als Impulsgeber weitgehend aus. Dabei stehen das Gesundheitssystem und damit auch die Krankenversicherung vor epochalen Aufgaben und müssten sich grundlegend neu ausrichten. In dieser Situation gibt es einen personellen Umbruch im GKV-SV. Die „erste Generation“ an der Spitze geht in den Ruhestand. Neue Personen rücken nach. Das wirft nicht nur Fragen auf, sondern könnte auch neue Chancen bergen.
Rückblick auf die „Frühzeit“ – die Idee vom Wettbewerb in der GKV
Der GKV-SV wurde mit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) vom 26.03.2007 (BGBl. I S.378) gegründet. Er sollte zum 1. Juli 2008 die „nichtwettbewerblichen Aufgaben“ der GKV-Verbände übernehmen. Die Begründung des entscheidenden § 217a SGB V im Gesetzentwurf (BT-Drs. 16/3100) war kurz und lakonisch: „Damit zeitliche und organisatorische Abläufe in den Verbänden und der gemeinsamen Selbstverwaltung deutlich gestrafft und Handlungsblockaden vermieden werden, bilden die Krankenkassen auf Bundesebene einen Spitzenverband.“ Dahinter verbarg sich jedoch der zunehmende Unmut der Politik über die Vielstimmigkeit der Bundesverbände der Kassenarten und ihre politischen Differenzen. Gleichzeitig genossen die Aktivitäten der Verbände eine hohe Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Auch das hat der Politik nicht gefallen.
Neben den emotionalen Gründen gab es jedoch auch einen rationaleren Grund zur Bildung des GKV-SV. Er sollte – wie schon angedeutet – die „nichtwettbewerblichen“ Ordnungs- und Regulationsaufgaben, die für die GKV insgesamt zu erfüllen sind, übernehmen. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, dass in der GKV die wettbewerblichen und die nichtwettbewerblichen Sphären getrennt werden sollten. Die Kassen sollten sich im Wettbewerb um die Mitglieder bewähren. Die Kassen und ggf. ihre Verbände sollten den Vertragswettbewerb (den es erst in Anfängen gab) mit den Leistungserbringern gestalten. Sie sollten mit Selektivverträgen ihre Beitragssatzunterschiede selbst erwirtschaften und die qualitativen Versorgungs- und Servicepräferenzen ihrer jeweiligen Mitglieder bedienen.
Bekanntermaßen blieb die Ausrichtung auf ein wettbewerbliches Krankenversicherungs- und Versorgungssystem in den Ansätzen stecken und überlebte vor allem – mehr schlecht als recht – als Idee. In der Gesetzgebung wurden die entsprechenden Regelungen nur halbherzig und widersprüchlich vorgenommen. Die Hängematte der Kollektivverträge erwies sich dagegen als überaus komfortabel. Die Politik hat die wettbewerblichen Möglichkeiten der Kassen schließlich wieder eingeschränkt. Die entsprechenden Entwicklungen sind in der wissenschaftlichen Literatur ausführlich beschrieben worden.[1]
Konsequenzen für die Verbände
Mit dem GKV-WSG sollten die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Stellungnahmen der Kassen auf Bundesebene erzwungen werden. Dementsprechend wurde den Bundesverbänden der Kassenarten der Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts entzogen; sie wurden zu „Gesellschaften“ ihrer Mitglieder, d.h. der jeweiligen Landesverbände herabgestuft (§ 212 SGB V). Überlebt haben nur der AOK-Bundesverband und der Verband der Ersatzkassen (vdek); bei Betriebs- und Innungskrankenkassen haben sich im Laufe der Zeit neue Interessenvertretungen etabliert; die „Kassenarten“ mit nur einer Kasse (Knappschaft-Bahn-See und die landwirtschaftliche Krankenversicherung) haben keine Statusänderung erfahren.
Damit fällt das Stichwort „Kassenarten“. Eigentlich hatte die Arbeitsteilung zwischen den Kassenarten-Verbänden bei den „nicht-wettbewerblichen Aufgaben“ gut funktioniert. Die Politik hatte sich mehr an den gelegentlich auseinanderstrebenden gesundheitspolitischen Stellungnahmen der Kassenarten gestört. Die Deklassierung der sogenannten „Altverbände“ war insoweit ein wichtiges Ziel.
Nach über 16 Jahren muss man jedoch feststellen, dass die Kassenarten nach wie vor eine bedeutsame Rolle spielen. Das gilt jedoch nicht für die Versicherten: Schon mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 wurde die Öffnung von Betriebs- und Innungskrankenkassen ermöglicht. Die Orts- und Ersatzkassen wurden für die Versicherungspflichtigen und -Berechtigten frei wählbar (nur noch mit bestimmten regionalen Begrenzungen). Mit dem GKV-WSG wurde diese Öffnung nun verallgemeinert: Nach § 173 mussten sich nun die Betriebs- und Innungskrankenkassen in ihrer Satzung endgültig entscheiden, ob sie betriebs- bzw. innungsbezogen bleiben wollen oder sich für die Allgemeinheit öffnen. In der Begründung des GKV-WSG hieß es dazu: „Diese Gestaltungsmöglichkeit, über die die Krankenkassen der anderen Kassenarten nicht verfügen, kann im Wettbewerb strategisch zur Erlangung von Vorteilen genutzt werden. Im Rahmen eines funktionsfähigen Wettbewerbs ist für derartige Sonderregelungen für einzelne Wettbewerbsteilnehmer jedoch kein Raum.“ Im Ergebnis haben sich alle Innungskrankenkassen und die meisten BKK geöffnet.
Auch die Knappschaft-Bahn-See wurde mit dem GKV-WSG für alle Versicherten wählbar gemacht. Sie wurde „in Bezug auf die Wählbarkeit den anderen Krankenkassen gleichgestellt“ und nimmt seitdem „umfassend am Kassenwettbewerb teil“. Für Empörung in der Selbstverwaltung sorgte damals auch eine weitere neue Regelung: In § 171a wurde die „kassenartenübergreifende Vereinigung von Krankenkassen“ ermöglicht. Das ganze System der Kassenarten kam damit (jedenfalls im Bewusstsein der meisten Mitglieder der Selbstverwaltung) durcheinander. Im Ergebnis muss heute jedoch festgestellt werden, dass die Kassenarten für die Kassenwahl der Mitglieder (bis auf die erwähnten regionalen Restriktionen) keine Rolle mehr spielen. Beitragssatz, Geschäftsstellennetz oder die Online-Erreichbarkeit, die Satzungsleistungen, der Service und das Image einer Kasse spielen eine Rolle. In den einschlägigen Rankings und Empfehlungsportalen sieht man die Kassenarten bunt durcheinander. Die „Kassenart“ ist für die Mitglieder und die allgemeine Öffentlichkeit nur noch ein Erinnerungsposten.
Kassenarten leben fort
Nicht so für die „Altverbände“ und die durch sie geprägten Selbstverwaltungsmitglieder. Das hat eine lange Vorgeschichte. Die Kassen-Selbstverwalter waren durch das GKV-WSG und den damit verbundenen (tatsächlichen und mehr noch den selbst estimierten) Machtverlust traumatisiert. Das führte dazu, dass schon in der ersten Satzung des GKV-SV die Struktur der Kassenarten und ihr Einfluss auf den neuen Verband konserviert werden sollten. In der im Bundesanzeiger Nr. 124/2007 vom 7. Juli 2007 (S. 6858ff.) veröffentlichten ersten Satzung sollte in § 37 ein Fachbeirat als „beratendes Gremium“ eingeführt werden, in dem die hauptamtlichen Vorstände der Altverbände sitzen sollten. Er sollte Vorstand und Verwaltungsrat des GKV-SV beraten. Das BMG hat diese Regelung als Aufsichtsbehörde nicht genehmigt. Gestört hat die diesem Gremium zugemessene Rolle als eigenständiges „Organ“ des GKV-SV und vor allem die „Entsendung“ der Mitglieder durch die Altverbände. Die Lösung war dann, dass der Vorstand des GKV-SV „auf Vorschlag des Verwaltungsrates … bis zu zwei Mitglieder je Kassenart in den Fachbeirat“ beruft. Dabei gab es jeweils eine Kombination aus „einem Vertreter der Nachfolgeorganisationen der früheren Spitzenverbände, als auch Vertreter(n) der Mitgliedskassen“[2].
Die Kontroverse um die Rolle und Bedeutung des Fachbeirats prägte die Diskussion um die erste Satzung des GKV-SV im Jahr 2007. Der Fachbeirat in der beschriebenen Form wirkte bis 2020 mit durchaus erheblichem Einfluss. So behielten sich die Kassenartverbände bestimmte politische Stellungnahmen vor; der GKV-SV sollte sich „neutral“ verhalten, wenn es um wettbewerbliche Fragen ging bzw. die Interessen in den jeweiligen Kassenarten mehrheitlich auseinanderlagen. Aber auch bei übereinstimmenden Interessen behielten sich die Verbände immer wieder die politische Positionierung vor und nahmen in gewisser Weise dem GKV-SV die Butter vom Brot.
Eine nächste Stufe
Im „Gesetz für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetz – GKV-FKG)“ (vom 22.03.2020, BGBl. I S. 604) wurde die heute gültige Lösung geschaffen. Danach wird beim GKV-SV ein „Lenkungs- und Koordinierungsausschuss“ neu gebildet. „Dieses Gremium soll eine organisatorische Verbindung von operativem Geschäft auf der Ebene der Mitgliedskassen und der Umsetzung der gesetzlichen Aufträge des GKV-Spitzenverbandes bilden. Der Lenkungs- und Koordinierungsausschuss stellt einen kontinuierlichen Informationsfluss sicher und ermöglicht eine schnellere Meinungsbildung zu aktuellen Themen und Aufgaben des GKV-Spitzenverbandes.“ So heißt es in der Begründung zu den neuen, nunmehr expliziten Regelungen in den Absätzen vier bis sechs des § 217b SGB V (BT-Drs. 19/15662, S. 84). Dabei hat Minister Spahn die machtpolitische Frage geschickt mit dem genderpolitischen Zeitgeist verknüpft: „Der Lenkungs- und Koordinierungsausschuss besteht aus je einem weiblichen und einem männlichen hauptamtlichen Vorstandsmitglied der Ortskrankenkassen, der Ersatzkassen, der Betriebskrankenkassen und der Innungskrankenkassen sowie je einem Vertreter aus der Geschäftsführung der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft Bahn See und der landwirtschaftlichen Krankenkasse. Der Stimmenanteil der Vertreter der Kassenart richtet sich nach dem Versichertenanteil der Kassenart zu Beginn einer Amtsperiode und wird auf die zwei Sitze verteilt.“ (ebenda) Die Mitglieder des Gremiums werden von den Mitgliedern des Verwaltungsrates der jeweiligen Kassenart im GKV-Spitzenverband gewählt (siehe auch § 37 der aktuellen Satzung des GKV-SV).
Hintergrund war einerseits das Verlangen der bzw. einiger Einzelkassen, vor allem in Fragen der (kostenwirksamen) Vertragsentscheidungen den GKV-SV direkter beeinflussen zu können. Andererseits wirkte das Motiv der Politik fort, die Altverbände immer weiter aus dem politischen „Geschäft“ hinauszudrängen. Gleichwohl leben die „Kassenarten“ auch in dem Wahlverfahren für den Verwaltungsrat des GKV-SV fort. In § 217c SGB V ist dafür der Kassenartenproporz haarklein geregelt. Schließlich gibt es in den §§ 143 bis 170 SGB V noch die kassenartenspezifischen Regelungen, z. B. auch zur Gründung von Betriebs- und Innungskrankenkassen etc. Und das, obwohl diese Vorschriften inzwischen größtenteils obsolet geworden sind und auf die nächste Gesetzes-Bereinigung warten.
Somit kann als Zwischenfazit festgestellt werden: Obwohl für die wahlberechtigten Versicherten bzw. GKV-Mitglieder das Kassenarten-Wesen ein Gespenst von gestern ist, sind die maßgeblichen Akteure vor allem der GKV-Selbstverwaltung, aber auch die Vorstände der Kassen und ihrer Verbände tief in der Kassenarten-Tradition verstrickt.
Schwäche der Trägerorganisationen der Selbstverwaltung
Das hängt auch damit zusammen, dass die Trägerorganisationen der Selbstverwaltung den Wandel der GKV und ihrer Verbände seit 2008 nur ansatzweise nachvollzogen haben. Ursache ist auch die zunehmende Schwäche insbesondere im Bereich der Sozialpolitik. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) kämpft mit abnehmenden Mitgliederzahlen; die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) hat Mühe, die Mitgliedsverbände zu integrieren. Beide Organisationen konzentrieren sich inzwischen auf ihr „Kerngeschäft“. Aber auch die Tarifpolitik wird immer schwieriger; z. B. haben immer weitere gesetzliche Regelungen zur „Tariftreue“ (auch in der Gesundheits-und Pflegepolitik) die für die Gewerkschaften zwiespältige Wirkung, dass die Beschäftigten in den Genuss des Tarifvertrages kommen, auch ohne Mitglied zu sein. So weit sich die BDA noch sozialpolitisch engagiert, liegt der Schwerpunkt bei der Rentenversicherung. Gelegentlich wird noch der Anstieg der Sozialversicherungsbeiträge kritisiert. Gesundheitspolitisch hat sich der DGB seit der Verkleinerung des Vorstands und dem Abschied von Annelie Buntenbach nicht mehr hörbar zu Wort gemeldet.
Offensichtlich sind die Trägerorganisationen noch in der Lage, die Listen für die Sozialwahlen aufzustellen, aber ein inhaltlich und politisch koordinierender Einfluss auf die konkreten Personen und deren Handeln in der Selbstverwaltung ist nicht mehr festzustellen. Damit wird die Selbstverwaltung in einem (nicht unproblematischen) Sinne autonom und selbst bezüglich. Auch die Sozialwahl 2023 hat in der GKV nicht zu einem neuen Trend bei der Besetzung der Verwaltungsräte geführt.
Künftige Aufgaben des GKV Spitzenverbandes
Vor diesem Hintergrund findet seit etwa fünf Jahren ein starker personeller Umbruch im Verband statt. Das gilt vor allem für den Vorstand, aber auch für die zweite Reihe. Zum 1. Juli 2019 hat im Vorstand bereits Stefanie Stoff-Ahnis die Nachfolge von Johann-Magnus von Stackelberg angetreten, der in den Ruhestand ging. Damit hat das erste Mitglied des Gründungsvorstands den Verband verlassen.[3] Gernot Kiefer, der immerhin gegenüber der Politik in Sachen Pflegeversicherung immer wieder Klartext geredet hat, ging zur Jahresmitte 2024 in Pension. Die Vorstandsvorsitzende Dr. Doris Pfeiffer erreicht Mitte 2025 das Vertragsende. Somit sind jetzt zwei Vorstandsposten neu zu besetzen.
Bekanntlich wählt der ehrenamtliche Verwaltungsrat (die Selbstverwaltung) den hauptamtlichen Vorstand, der die Institution (die Kasse bzw. hier den Verband) nach außen vertritt (§ 35a SGB IV).
Dabei steht der Verband (und die GKV insgesamt) vor gewaltigen neuen Aufgaben. Das deutsche Gesundheitssystem wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten mehr Leistung mit weniger Personal erbringen müssen. Es geht um eine Effizienzsteigerung ungekannten Ausmaßes. Zusätzliches Personal aus Europa wird in größerem Umfang nicht zur Verfügung stehen; alle entwickelten europäischen Länder haben mehr oder weniger die gleichen demografischen Probleme. Wenn deutsche Akquisiteure z. B. in Südamerika um Pflegekräfte werben, merken sie, dass die Japaner schon da waren etc. Im Ergebnis heißt das: Wir müssen uns selber helfen. Ein wichtiger Punkt ist daher die Digitalisierung in der Gesundheits- und Pflegeversorgung. Vor allem die ambulante Versorgung muss digitaler werden. Die Arzneimitteldistribution könnte durch Digitalisierung und Versandhandel effizienter werden; Personaleinsparungen und Serviceverbesserungen wären gleichzeitig möglich[4]. Das jahrzehntelange Gerede von der Überwindung der Sektorengrenzen müsste endlich zu praktischen Konsequenzen führen etc. Das SGB V ist aber entlang dieser Sektorengrenzen aufgebaut und demnach auch die Organisationsstruktur des GKV-SV. Auch die Zuständigkeiten im Vorstand und in den Abteilungen des GKV-SV reproduzieren das Sektorendenken.
Tragfähige Vorschläge und Initiativen des Verbandes zur Strukturveränderung sind nicht bekannt oder dringen nicht nach außen. Eine gesundheits- und versorgungspolitische Vordenker-Rolle des GKV-SV konnte man bisher nicht wahrnehmen. Zur Finanzierung von GKV und Pflege wird zurzeit – zu Recht – die Krise ausgerufen. Es reicht hier aber nicht, die längst überholten Versprechungen des Koalitionsvertrages einzufordern. Der Politik des „weiter so“ und der ständigen Kostensteigerungen müsste eine Prioritätenbestimmung entgegengesetzt werden. Man bräuchte die konkrete Benennung von Effizienzpotentialen und durchgreifende Vorschläge zur Steuerung des Versorgungsgeschehens.
Der GKV-SV ist aber eher eine Hilfsbehörde des BMG als ein Braintrust oder gar als Machtzentrum der GKV. Das Verwaltungshandeln dominiert; das BMG und der Gesetzgeber haben den Verband mit administrativen Aufgaben überschüttet. Kleinteilige Regelungen mit unzähligen Berichtspflichten, die meist konsequenzlos bleiben, prägen das Bild.[5] Aus der Sicht des BMG – gleichgültig wie es parteipolitisch besetzt ist – ist das bequem. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Selbstverwaltung, die doch auf ihre politische Unabhängigkeit pochen sollte, das weitgehend klaglos mitmacht. Aber auch die Selbstverwalter (und die Selbstverwalterinnen, sei hier einmal ergänzt) sind im Hergebrachten verfangen. Auch ihre Trägerorganisationen geben keine Impulse für mehr Effizienz oder Strukturveränderungen (siehe oben).
Personen spielen eine Rolle
In dieser Situation setzt die Selbstverwaltung des GKV-SV erkennbar auf Kontinuität der „bewährten“ Strukturen und die Weiterführung des Kassenarten-Proporzes. Schon die Vorstände der Kassen bewegen sich überwiegend pfadabhängig. Das gilt erst recht für die Selbstverwalter. Sie sind konservativ und zutiefst verankert in den hergekommenen Strukturen.
Wann wäre aber – so ist zu fragen – denn der richtige Zeitpunkt über neue Impulse nachzudenken, wenn nicht jetzt? Man könnte Vorstandspositionen ausschreiben und z.B. auf qualifizierte Wissenschaftler (z. B. „echte“ Vertreter der Gesundheitsökonomie etc.) oder Manager der Digitalwirtschaft zugehen. Auch in der öffentlichen Finanzwirtschaft, etwa bei den Sparkassen, gibt es Führungspersonal, das mit Geld umgehen kann und erfahren ist im Umgang mit dem Gestrüpp einer branchenspezifischen (Über-)Regulierung. Auch in der (politischen) Verwaltung und bei den Verbänden gibt es Funktionäre, die „politische Köpfe“ sind und sich trotzdem mit öffentlich-rechtlichen Finanz- und Personalregelungen auskennen.
Ist es demgegenüber wichtiger, dass das „Dreigestirn“ der Personen mit einer Herkunft aus AOK, Ersatzkassen oder den Kassen der sog. „dritten Bank“ (BKK, IKK, Knappschaft und SVLG) im Vorstand erhalten und fortgeführt wird? Und um noch eins draufzusetzen: Ist es ein würdiger Vorgang, der dem Ansehen des Verbandes dient, wenn es einen Kassenartenstreit um den Vorsitz im Vorstand gibt? Nach dem Frau Stoff-Ahnis, die dem Vorstand jetzt seit über fünf Jahren angehört, mit der Stellvertretung abgespeist werden soll?
Allerdings gibt es hier Klippen anderer Art: Das BMG hat sich in der großen Koalition von CDU/CSU und SPD Regelungen ausgedacht, die die Attraktivität dieser Ämter deutlich beschränken. Mit dem GKV-FKG wurde 2020 in § 217b Absatz 2 geregelt, dass die Vergütungen der Vorstandsmitglieder festgeschrieben werden bzw. innerhalb einer Amtszeit nur entsprechend dem Verbraucherpreisindex angehoben werden dürfen. Die Aufsichtsbehörde – auch hier wieder das BMG – kann sogar „zu Beginn einer neuen Amtszeit eines Vorstandsmitglieds eine niedrigere Vergütung anordnen“ (Satz 10). Da die Vorstände vieler Einzelkassen der GKV (zum Teil deutlich) mehr verdienen, ist mit dieser Regelung bereits zuverlässig gesichert, dass aus diesem Personenkreis kaum Kandidaten kommen. Die schon von Ulla Schmidt – mit entschieden populistischer Absicht – eingeführte Verpflichtung zur Veröffentlichung der Vorstandsgehälter der Kassen und ihrer Verbände wurde hier vom BMG im gleichen Geist erweitert.
Nun hat die Selbstverwaltung (der Ersatzkassen und der „dritten Bank“) zwei Kandidaten ausgewählt, die aber erst zur Jahresmitte 2025 ihr Amt antreten sollen. Bis dahin soll der Verband von nur zwei Vorstandsmitgliedern geführt werden. Bei den Kandidaten handelt es sich einerseits um Oliver Blatt, bisher Leiter der Abteilung Gesundheit beim Verband der Ersatzkassen, der Nachfolger der amtierenden Vorstandsvorsitzenden Doris Pfeiffer werden soll. Andererseits soll Dr. Martin Krasney, bis vor Kurzem Leiter der Rechtsabteilung des GKV-SV, in den Vorstand nachrücken. Krasney war vor der Bildung des GKV-SV bereits Justitiar des damaligen BKK-Bundesverbandes.
Beide Personen sind zweifellos qualifiziert und haben in den Fachkreisen sowie bei den Kassen in der GKV ein hohes Ansehen. Indessen kommen diese Personalia für die breite Öffentlichkeit eher überraschend. Sicher ist es für die GKV-Szene selbst ein positives Zeichen, dass auch Spitzenpositionen aus dem eigenen Personalreservoir besetzt werden können. Trotzdem fragt man sich unwillkürlich, ob hier der „frische Wind“ in den Verband hineinkommt, den er für die künftigen Herausforderungen gut gebrauchen könnte.
Andererseits haben unerwartete Personalentscheidungen schon oft zu unerwarteten Entwicklungen der Institutionen geführt. Das setzt voraus, dass das neue Vorstandsteam im GKV-SV die schwierigen Aufgaben richtig erkennt und sich an die Arbeit macht. Dann könnten sich die Vorstände ab dem nächsten Jahr – so ist jedenfalls zu hoffen – auch von einer Selbstverwaltung freischwimmen, die vor allem an sich selber denkt und ihre Vorstände gern am kurzen Zügel führen würde.
[1] Zuletzt Klaus Jacobs „Versorgungsorientierter Kassenwettbewerb – Ein Muss auf der gesundheitspolitischen Reformagenda“, in Gesundheits- und Sozialpolitik 1-2/2024 (NOMOS Verlag), S. 5ff. sowie die Beiträge von Volker Ulrich, Herbert Rebscher, Klaus Jacobs, Andreas Schmid und Jürgen Zerth in Heft 2-2024 von Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement 2024; 29: 111–118 | © 2024. Thieme.
[2] https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/presse/beitraege_und_interviews/2009_1/Der_neue_GKV-Spitzenverband_-_Pfeiffer_9613.pdf
[3] Der erste Wechsel im Vorstand war der von Karl-Dieter Voß zu Gernot Kiefer im Jahr 2010. Die Teilung der Amtszeit zwischen Kiefer und Voß beruhte auf einer Vereinbarung, die in der Errichtungsphase des GKV-Spitzenverbandes im Jahr 2007 von der Selbstverwaltung getroffen wurde. https://www.aerzteblatt.de/archiv/74109/Gernot-Kiefer-Karrieresprung-fuer-den-Aerztejaeger
[4] Der aktuelle Referentenentwurf für ein Apotheken-Reformgesetz (ApoRG) geht hier in die richtige Richtung. Der Widerstand der Apotheker und der FDP dagegen ist rückwärtsgewandt. Noch viel weiter gehen z.B. Vorschläge von DocMorris zur Telepharmazie, die zeigen, was gehen könnte. https://ir-api.eqs.com/media/document/9dd75c91-16aa-4cb6-aee9-0eedf91416b8/assets/2024_10_01_Media_de_Positionspapier.pdf?disposition=inline
[5] Diese Problematik soll hier nicht vertieft werden. Näheres dazu findet man z.B. im Bericht des Bundeswahlbeauftragten, in dem über den Kompetenzverlust der Sozialversicherung geklagt wird (S. 182ff.). Eigenständige Gestaltungmöglichkeiten gingen immer mehr verloren. An ihre Stelle treten staatliche Vorschriften en détail etc. (S. 186ff.). https://bundessozialwahlbeauftragter.de/storage/Schlussbericht_mit_Titel_2023_end.pdf
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