01.09.2023
Gierige Ärzte – oder systematisch verweigerte Honorarsteigerungen?
Zur Honorarproblematik in ärztlichen Praxen
Dr. Jochen Heymanns
Prof. Dr. Stephan Schmitz
„Die ambulante Versorgung in Deutschland steht auf dem Spiel“ und „Die Praxen stehen vor dem Kollaps“: Diese Warnhinweise von Ärzteseite begleiten die diesjährigen Verhandlungen zur Honoraranpassung für das Jahr 2024 zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem GKV-Spitzenverband. Kaum jemand weiß außerhalb von Expertenrunden, wie ambulant tätige, selbstständige Ärztinnen und Ärzte honoriert werden. Und selbst wer die Regeln kennt, kann die Ergebnisse der jährlichen Honorarverhandlungen für Ärztinnen und Ärzte nicht nachvollziehen, weil diese Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden.
Die Mär von der Gier der Ärzte verfängt deshalb immer noch. Jenseits der aktuellen Ereignisse lohnt aber ein Blick auf die sichtbaren Folgen von langjährigem Regierungshandeln in unterschiedlichen Koalitionen, das zu einer allmählichen Verschlechterung der wirtschaftlichen Basis der Arztpraxen geführt hat – mit weitreichenden Konsequenzen.
Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung in Gefahr
Die Inflationsrate in Deutschland ist weiterhin hoch: Sie lag im Juli 2023 bei 6,2 Prozent im Vergleich zum Vormonat, im Juni bei +6,4 Prozent. Im März waren es sogar 7,4 Prozent. Und was schlagen die Vertreter des GKV-Spitzenverbands in den aktuellen Honorarverhandlungen für 2024 für die Praxisinhaberinnen und -inhaber vor? Eine Steigerung um 2,1 Prozent für den sogenannten Orientierungswert (OW), den „Preis“ der Leistungen. Die Vertreter der KBV wollen dagegen 10,2 Prozent. Beide Seiten beraten im Bewertungsausschuss, im Konfliktfall dann mit drei Unparteiischen im Erweiterten Bewertungsausschuss.
Dass der GKV-Spitzenverband so wie jedes Jahr während einer Honorarrunde darauf hinweist, dass Praxisinhaber Spitzenverdiener seien und sechsstellige Reinerträge erwirtschafteten, kennt man. Aber diesen Sommer hat sich auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mit einem „Fakten-Papier zur ambulanten Versorgung“ eingeschaltet und behauptet: „Grundsätzlich ist die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung auch angesichts steigender Praxiskosten gewährleistet.“ Schließlich seien die GKV-Ausgaben für die ambulante ärztliche Versorgung von 32 Mrd. Euro im Jahr 2013 auf 46 Mrd. Euro 2022 gestiegen. Das waren übrigens 17 Prozent der GKV-Gesamtausgaben.
Wir halten dagegen: Die Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung ist schon lange in Gefahr und mittlerweile stärker unter Druck als jemals zuvor. Doch wem man nur absolute Zahlen präsentiert und die Mechanismen der Finanzierung der ambulanten ärztlichen Versorgung verschweigt, den kann man beeindrucken und glauben machen, gierige Ärztinnen und Ärzte seien das Problem. Natürlich sind 46 Mrd. Euro viel Geld. Aber damit wurde 2022 auch die ambulante ärztliche Versorgung von mehr als 70 Millionen GKV-Versicherten abgesichert. Und die 46 Mrd. Euro sind nicht das Einkommen der Ärztinnen und Ärzte, sondern damit muss eine Menge finanziert werden: in erster Linie die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Praxen, aber auch Praxisräume, Energieausgaben, medizinische Geräte, IT-Technik, Qualitätsmanagement, Versicherungen, Kreditrückzahlung und vieles mehr – und am Ende dann auch das Einkommen der Ärztinnen und Ärzte, aus dem die Kosten für die eigene soziale Sicherung vollständig zu tragen sind.
Doch schon seit Jahren wird den Arztpraxen systematisch eine angemessene Honorarsteigerungen mit einem Ausgleich steigender Kosten verweigert. Der folgende Beitrag zeigt auf, wie die wirtschaftliche Basis der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte seit Jahren erodiert und wie Lösungen aussehen könnten.
Existenzgrundlage von Arztpraxen oftmals unbekannt
Das Honorar für die Leistungen, die Ärztinnen und Ärzte als Selbstständige mit ihren Behandlungsteams in eigener Praxis erbringen, stammt im Wesentlichen aus zwei Quellen: Erstens von privat versicherten Patientinnen und Patienten, die dann im Gegenzug die Behandlungskosten je nach Versicherungsumfang von ihren privaten Krankenversicherungen erstattet bekommen. Das trifft für etwa zehn Prozent der Bevölkerung zu. Hier gilt für die Rechnungsstellung die Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ).
Zweitens von den gesetzlichen Krankenkassen, die die Behandlung von gesetzlich Krankenversicherten über einen Umweg finanzieren, nämlich mit Hilfe der Kassenärztlichen Vereinigungen. Dies gilt für etwa 90 Prozent der Bevölkerung. Die Abrechnung dieser Behandlungen erfolgt nach einem hoch komplexen Regelwerk auf der Grundlage des sogenannten Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM). In beiden Abrechnungssystemen, GOÄ wie EBM, sind ärztliche Honorare über viele Jahre gar nicht bzw. nur unterdurchschnittlich angepasst worden. Das hat über die Zeit zu einer nachhaltigen Verschlechterung der Einnahmesituation der Praxen geführt.
40 Jahre Stillstand bei der Gebührenordnung für Ärzte
Die GOÄ gilt für Ärztinnen und Ärzte in Praxen und Krankenhäusern gleichermaßen. In diesem Leistungskatalog sind grundsätzlich alle Arten von ärztlicher Behandlung mit entsprechenden Gebührenziffern abgebildet, von Leistungen rund um die Geburt bis zur hausärztlichen Versorgung chronisch kranker alter Menschen. Die GOÄ ist dabei kein Wünsch-Dir-was-Katalog, den sich die Ärzteschaft ausdenkt, um von Patienten Mondpreise zu verlangen. Sie ist eine amtliche Gebührenordnung. Der Bundesgesundheitsminister muss sie als Rechtsverordnung erlassen – und damit gutheißen.
Man sollte also davon ausgehen, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) die GOÄ regelmäßig überprüft und anpasst. Schließlich entwickelt sich die Medizin ständig weiter. Und die persönliche Zuwendung in Form von Beratungsgesprächen hat heute einen viel höheren Stellenwert. Vieles wird teurer. Hin und wieder führt der technische Fortschritt aber glücklicherweise auch dazu, dass etwas kostengünstiger zu erbringen ist.
Doch die Gebührenordnung für Ärzte stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1982 und ist damit mehr als 40 Jahre alt. 1996 wurde sie einmal teilerneuert, also vor mehr als 25 Jahren. Seitdem herrscht im BMG Stillstand. Die Bundesärztekammer kritisiert seit Jahren, dass die GOÄ das ärztliche Leistungsspektrum nicht mehr abbildet – und seit Jahren auch nicht mehr die Kosten- und Preisentwicklungen. Denn auch die Preise der GOÄ sind seit 1996 unverändert. Zum Vergleich: Die prozentuale Veränderung des Verbraucherpreisindex für Deutschland von 1997 bis Ende 2022 liegt bei 50,1 Prozent. Die Bruttolohnerhöhungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, abgebildet durch den sogenannten Nominallohnindex, haben sich vom Wert 70,5 im Jahr 1997 auf den Wert 110,5 im Jahr 2019 entwickelt – eine Steigerung um mehr als 56 Prozent. Und ein GOÄ-Honorar von € 100 im Jahr 1995 entspricht heute einem Wert von € 63,36. Aber keine einzige Bundesregierung hat in den letzten Jahrzehnten die GOÄ aktualisiert und modernisiert. Die Gründe dafür sind vielfältig und wären einen eigenen Text wert. Aber festzuhalten bleibt: Der Stillstand bei der GOÄ ist einer der Gründe dafür, dass ärztliche Tätigkeiten und die Kosten für ärztliche Leistungen nicht mehr angemessen honoriert werden.
Nur bei den Humanmedizinern besteht dabei das Problem, dass ihre amtliche Gebührenordnung seit Jahrzehnten nicht angepasst wird. Vergleichbare Gebührenordnungen gibt es für Zahn- und Tierärzte, für Rechtsanwälte und Notare, für Architekten und für weitere sogenannte Freie Berufe. Sie sollen für einen fairen Interessenausgleich unter staatlicher Aufsicht sorgen: Die Freiberufler, die nach solchen Gebührenordnungen abrechnen, sollen ein Honorar erhalten, das angesichts ihrer Ausbildung, ihrer Kenntnisse und Erfahrungen angemessen ist. Honorardumping durch Kunden wird verboten. Umgekehrt müssen sich Freiberufler an die Honorargrenzen ihrer Gebührenordnungen halten und dürfen ihre Kunden, Klienten oder Patienten beim Honorar nicht über den Tisch ziehen.
2021 wurden die Anwaltsgebühren um durchschnittlich zehn Prozent angehoben. Da sich Honorare bei Rechtsanwälten nach dem Streitwert richten und bei anderen Freien Berufen nach dem Gegenstandswert, erhöhen sie sich in der Regel im Lauf der Zeit quasi automatisch. 2020 hatte der Staat bereits die Gebühren für Steuerberater an die gestiegenen Lebenshaltungskosten angepasst, 2013 zum bislang letzten Mal die der Architekten und Ingenieure. Und eine neue Gebührenordnung für Tierärztinnen und Tierärzte trat im November 2022 in Kraft.
Mangelverwaltung für gesetzlich Krankenversicherte als Prinzip
Wie sieht es mit der zweiten Einnahmequelle von Ärztinnen und Ärzte in der Praxis aus? Den Honoraren, die die Krankenkassen ihnen für die Behandlung von gesetzlich Krankenversicherten in deren System (GKV) bezahlen, immerhin ca. 70 Millionen Bürgerinnen und Bürger? Auch hier wird auf der Basis einer Art Gebührenordnung abgerechnet. Dieser Einheitliche Bewertungsmaßstab regelt als Leistungsverzeichnis alle sogenannten vertragsärztlich abrechenbaren Leistungen, die zulasten der GKV erbracht werden dürfen. Der Wert dieser Leistungen im EBM wird in ganz unterschiedlichen Punktsummen ausgedrückt. Zusätzlich ist eine Art Grundpreis pro Punkt festgesetzt („Orientierungswert“). Multipliziert man die Punktsumme mit diesem Orientierungswert, kommt theoretisch der Preis heraus, den Praxen für eine bestimmte Leistung für einen Versicherten erhalten. Das ist eine ungewöhnliche Konstruktion, mit der Praxen aber grundsätzlich auskommen könnten. Nur: Dieser Schlusspreis wird selten ausgezahlt. Denn das Geld, das die Krankenkassen für die ambulante Versorgung zahlen („Gesamtvergütung“), reicht seit vielen Jahren nicht aus, um alle erbrachten Leistungen mit dem eigentlich vorgesehenen Preis zu bezahlen. Werden mehr Leistungen erbracht, weil das dem Versorgungsbedarf der Versicherten entspricht, führt das automatisch zu einer Absenkung der Endhonorierung der einzelnen Leistung. Man nennt diese Form der zwangsweise verfügten Mittelbegrenzung „Budgetierung“. Sie existiert seit 1993. Ursprünglich als begrenzte Kostenbremse für zwei Jahre eingeführt, wurde sie danach beibehalten, um so die Ausgaben der GKV im Griff zu behalten.
KVen verwalten den Honorarmangel
Zuständig für die konkrete Umsetzung dieser leidigen Budgetierung, also der Umwandlung von vollständig abgerechneten Leistungen in reduzierte Honorare, sind die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen). Die KVen sind selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts. Konkret wird von den KVen das Geld auf die verschiedenen Arztgruppen verteilt und dann jedes Quartal an den einzelnen Arzt und die einzelne Ärztin überwiesen. Und zwar schon auf Basis dessen, welche EBM-Leistungen erbracht wurden. Im Einzelnen gelten dafür sehr komplizierte Regeln und Mechanismen, auf die sich die KVen sowohl intern als auch mit den Krankenkassen verständigen müssen. Es bleibt den KVen aber nichts anderes übrig, als am Ende das zu tun, was bei begrenztem Geld zu tun ist: Es einzuteilen und möglichst gerecht den Mangel zu verteilen. Eine undankbare Aufgabe.
Das Resultat ist aber seit 30 Jahren gleich: Ärztliche Leistungen werden in bedeutendem Umfang gar nicht oder zu reduzierten Preisen vergütet. Nur ein Beispiel: Die Vergütung der EBM-Leistungen für die Behandlung von Krebspatienten in einer großen onkologischen Praxis im Bereich der KV Rheinland-Pfalz im 4. Quartal 2022 erfolgte nicht mit dem eigentlichen Orientierungswert von knapp 11,3 Cent. Sondern mit einem Wert von 9,4 Cent. Ganz korrekt müssten die entsprechenden Praxisleistungen eigentlich mit einem Orientierungswert von 11,2662 Cent honoriert werden. Doch auch vier Nachkommastellen auf dem Papier ändern nichts an der Wirklichkeit: Die besagte Praxis bekam im 4. Quartal 2022 nur 83,5 Prozent des Honorars ausbezahlt. Die Praxiskosten laufen aber nicht einfach nur weiter, sie steigen auch kontinuierlich. Man muss das einfach noch einmal festhalten: Bei keinem anderen freien Beruf findet eine solche staatlich verordnete Zwangsabgabe auf das Honorar statt.
Extrabudgetär Vergütung: kein Wort über leistungsgerecht
Die KV Rheinland-Pfalz und die onkologischen Praxen sind aber keine Ausnahme. Alle KVen zahlen bis auf wenige Arztgruppenausnahmen weniger aus, als abgerechnet wurde. Während der Krisensitzung der KBV erläuterte die KV-Vorstandsvorsitzende von Thüringen, Dr. Annette Rommel, in ihrem Bundesland habe die Auszahlungsquote zuletzt im Schnitt nur bei 75 Prozent gelegen.
Das BMG erwähnt in seinem sogenannten Faktenpapier auch, dass sich der Anteil der extrabudgetär vergüteten Leistungen an der gesamten Vergütung der Ärzte stetig erhöht hat. Waren es 2009 noch 22 Prozent, so waren es 2022 schon 43 Prozent. Extrabudgetäre Honorare werden in voller Höhe zum vereinbarten Preis ausbezahlt. Sie gelten beispielsweise für Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen. Darauf weisen auch die Krankenkassen sehr gern hin. Nur: Ob die Einzelpreise leistungsgerecht sind oder ob sie im Lauf der Jahre angemessen angepasst wurden, darüber wird bei dem Verweis auf die extrabudgetäre Vergütung nicht so gern gesprochen.
Ist schon die Budgetierung in ihren Auswirkungen auf das ärztliche Honorar höchst problematisch, kommt nun aber noch ein weiterer Faktor hinzu, der die ärztlichen Honorare schmälert. Grundsätzlich sind gesetzliche Mechanismen vorgesehen, um den EBM-Grundpreis („Orientierungswert / OW“) jedes Jahr an die Kostenentwicklung anzupassen. Im Jahr 2013 wurde dies neu geregelt. Aber der OW steigt nicht im gleichen Maß wie etwa Lebenshaltungskosten oder Gehälter und Löhne. Er hat sich in den letzten zehn Jahren nur unterdurchschnittlich entwickelt. 2014 bis 2022 betrug der Anstieg des Verbraucherpreisindex 17,2 Prozent. Der Anstieg des EBM-Orientierungswerts lag bei 11,3 Prozent. Auch so werden Ausgaben der GKV unter Kontrolle gehalten. Aber als Folge dieser Entwicklung werden ärztliche Arbeit und Praxiskosten nicht mehr angemessen finanziert. Das führt zu Einkommensverlusten.
Die aufgezeigten Prozesse, deren Auswirkungen erst über einen längeren Zeitraum relevant geworden sind, sind sämtlich Folgen konkreter gesetzlicher Regelungen und somit Folge von Regierungshandeln. Es handelt sich nicht um unbeabsichtigte Fehlentwicklungen.
Sie haben seit vielen Jahren zu einem mittlerweile deutlichen Rückgang des realen ärztlichen Honorars aus der Praxistätigkeit geführt. Demotivation greift um sich. Und auch für den Nachwuchs hat die ärztliche Tätigkeit im ambulanten Sektor deutlich an Attraktivität eingebüßt, mit weitreichenden Konsequenzen. Doch anstatt diese wirtschaftlichen Tatsachen anzuerkennen, ihren politischen Hintergrund klar zu benennen und die Folgen sachlich zu diskutieren, lenken Akteure der Krankenkassenvertreter meist davon ab. Sie gehen ungern auf Kosten- und Preisentwicklungen ein, sondern tragen lieber vor, ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte verdienten mehr als genug und seien gierig.
Kosten durch Fachkräftemangel unterschätzt
Ein neuer Kostentreiber kommt hinzu: Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Er hat vielfältige Auswirkungen. Eine davon ist die verbesserte Position der Gesundheitsfachberufe in Tarifverhandlungen. Das hat zu überdurchschnittlichen Verdienststeigerungen in den letzten zehn Jahren geführt. So stiegen die Pflegegehälter von 2011 bis 2021 um rund ein Drittel und damit deutlich stärker als in der Gesamtwirtschaft mit knapp 22 Prozent. Im Durchschnitt erzielten Beschäftigte in der Gesundheits- und Krankenpflege 2021 einen Monatsverdienst von 3.697 Euro brutto. Das durchschnittliche Bruttomonatsgehalt in der Gesamtwirtschaft lag bei 3.399 Euro. Man kann sicher dennoch diskutieren, ob die Bezahlung in der Pflege ausreicht. Aber bevor man pauschal von Unterfinanzierung der Pflegefachkräfte spricht, sollte man sich zum Vergleich auch noch die Einkommenssituation bei Medizinischen Fachangestellten (MFA) ansehen. Diese Gruppe ist im Gesundheitswesen nicht weniger systemrelevant als die Pflegekräfte.
Zwar sind gerade für erfahrenere MFA mit Zusatzqualifikation, die das Rückgrat der Versorgung in Arztpraxen darstellen, die Tarifgehälter in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Und das ist auch gut so. Ein Beispiel: Eine MFA im 9. Berufsjahr, qualifiziert für Tätigkeitsgruppe IV, verdient nach Tarif Ende 2022 monatlich 2.981,17 Euro. Damit ist ihr Tarifgehalt seit 2014 um 27,8 Prozent angestiegen, von damals 2.332,67 Euro. Dadurch übertreffen die MFA-Tarifgehälter für den Zeitraum von 2014 bis 2022 die allgemeine Gehaltsentwicklung, die bei 19 Prozent lag. Dennoch ist das Gehaltsniveau der MFA in den Arztpraxen noch zu niedrig. Damit sie in allen Praxen noch besser bezahlt werden könnten, müssten höhere Gehälter in die EBM-Honorarkalkulationen eingepreist werden. Und dann, wie alle anderen Kosten auch, zu 100 Prozent gegenfinanziert werden, statt das Honorar noch regelmäßig jedes Quartal gekürzt wird. Zur Erinnerung: Der gesetzte Preis, der Orientierungswert, erhöhte sich im betrachteten Zeitraum um 11,3 Prozent – weniger als halb so viel wie die MFA-Tarifgehälter. Jedem wird sofort klar, dass das kein ausreichender Ausgleich für steigende Personalkosten gewesen sein kann.
Personalabwerbung von Kliniken wegen besserer Bezahlung
Dennoch finanzieren fast drei Viertel der Praxen Sonderzahlungen und Zuschläge, die sich auf ca. 4.400 Euro pro Praxis und Jahr belaufen. Das haben Analysen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) ergeben. Damit reagieren sie auf Schwierigkeiten bei der Suche bzw. Bindung von Medizinischen Fachangestellten oder Pflegefachkräften. Denn der Wettbewerb zwischen Arztpraxen und Krankenhäusern um Fachkräfte der Gesundheitsberufe ist in vollem Gange. Problematisch ist dabei die wachsende Kluft im Gehaltsniveau zwischen Arztpraxen und Krankenhaus, trotz der Tarifsteigerungen für die MFA. 2022 lag ihr Einstiegsgehalt in Tätigkeitsgruppe 1 nach dem MFA-Gehaltstarifvertrag mit 2.151 Euro rund 400 Euro niedriger als im öffentlichen Dienst nach dem dort geltenden Tarifvertrag. Kirchliche Krankenhausträger zahlen teilweise noch höhere Gehälter als staatliche.
Diese Entwicklung dürfte sich verschärfen. Doch eine zeitnahe, realistische Berücksichtigung in einem ausreichend gegenfinanzierten EBM ist nicht in Sicht. Alljährlich ringen die KVen mit den Krankenkassen, wie diese und andere Kostensteigerungen angemessen zu berücksichtigt sind. Einen eindeutigen Mechanismus gibt es nicht. Im Sozialgesetzbuch V wird im entscheidenden Paragrafen 87 sehr allgemein auf „die Entwicklung der für Arztpraxen relevanten Investitions- und Betriebskosten“ hingewiesen. Auch das Problem des Ausgleichs der steigenden Personalkosten in Arztpraxen ist also im Wesentlichen verursacht durch Regierungshandeln und so gewollt.
Im Gegensatz dazu ist die Weiterentwicklung der Vergütung der Pflegepersonalkosten im Krankenhaus detailreich gesetzlich geregelt. Und noch eine Facette der systematischen Benachteiligung der Arztpraxen sei genannt. Pflegekräften wurde als Dank für ihren Einsatz in der Corona-Pandemie eine Milliarde Euro aus dem Staatshaushalt für Bonuszahlungen zur Verfügung gestellt. Was erhielten MFA in Arztpraxen bisher als Dank vom Staat? 0 Euro.
Streik der Ärzte verboten
Die Probleme der Arztpraxen mit den Personalkosten im Besonderen und mit der Gegenfinanzierung von Kosten im Allgemeinen sind also nicht neu. Sie haben sich aber seit 2020 verschärft. Und nun kommen aktuell die zusätzlichen Belastungen durch extrem angestiegene Energiekosten dazu. Es ist gut, dass sich KBV und GKV-Spitzenverband auf zusätzliche Finanzhilfen für ärztliche Praxen mit besonders hohem Energieverbrauch wie Radiologen und Strahlentherapeuten einigen konnten. Aber alle Praxen müssen weitere inflationsbedingte Kostensteigerungen in allen Bereichen gegenfinanzieren, also bei Miet- und Mietnebenkosten, für Praxismaterial, Versicherungen und andere Dienstleistungen. Die Forderungen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte nach einem Inflationsausgleich gehen aber ins Leere. Sich zu wehren ist für sie schwierig. Denn im Gegensatz zu ihren Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern dürfen selbstständige Ärztinnen und Ärzte als Pflichtmitglieder einer KV aus historischen Gründen nicht streiken. Angestellte Krankenhausärztinnen und -ärzte können zudem regelmäßig für ihre Gehaltsforderungen auf die Straße gehen, ohne dass ihnen Gier oder Patientenerpressung vorgeworfen wird. Selbstständige Ärztinnen und Ärzte müssen sich diese Vorwürfe schon bei der Formulierung von Forderungen ohne Streiks gefallen lassen – verkehrte Welt.
Was sind die sich abzeichnenden Konsequenzen der skizzierten Erosion der wirtschaftlichen Basis von Arztpraxen? Einige werden zukunftsgerichtete Investitionen weiter reduzieren oder ganz wegfallen lassen, wenn sich die Ertragslage noch weiter verschlechtert. Das gilt in erster Linie für geräteintensive Fachgebiete. Andere werden eine schlechtere Einkommenslage einfach hinnehmen müssen. Denn bei personalintensiver Versorgung wie zum Beispiel in der Krebsmedizin gibt es kaum Kompensationsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Unternehmensnachfolge für selbständige Arztpraxen zunehmend schwierig bis unmöglich wird. Zwar können sich nach einer aktuellen apoBank-Umfrage grundsätzlich rund 70 Prozent der Medizinstudierenden eine Niederlassung vorstellen. Doch sie verlangen eine ausgeglichene Work-Life-Balance und gute Ausgangsbedingungen. Wenn sie eine Praxis übernehmen, wollen sie qualifiziertes Personal an ihrer Seite haben und gut funktionierende Abläufe vorfinden. Beides kostet Geld.
Und selbst die prinzipiell sinnvolle Anstellung von Ärztinnen und Ärzten in Praxen, egal ob diese als Medizinisches Versorgungszentrum oder als traditionelle Gemeinschaftspraxis geführt werden, wird nicht mehr sicher finanzierbar. Denn auch deren Gehaltsforderungen steigen. Unweigerlich entstehen, Schritt für Schritt, weitere Verluste an ärztlicher Arbeitskraft im ambulanten Sektor. Und dies bei einer stark alternden Bevölkerung, die mehr ärztliche Versorgung benötigt.
Mehr Geld für die Praxen – am besten aus Steuermitteln
Die Schlussfolgerung lautet: Nur durch einen konsequenten Ausgleich der Betriebskostensteigerungen und eine zukunftsorientierte, angemessenen Honorierung der ärztlichen Tätigkeit in den Praxen kann die ambulante Versorgung im derzeitigen Umfang gesichert, besser noch: wieder attraktiv gemacht und damit für die Zukunft erhalten werden.
Es muss also für die niedergelassene ärztliche Versorgung in qualifizierten Teamstrukturen mehr Geld geben. Das bedeutet: zügige Novellierung der GOÄ, Beendigung der Budgetierung der ärztlichen Honorare im haus- und fachärztlichen Bereich, geregelter jährlicher Inflationsausgleich der Honorare. Dazu ist mehr Geld nötig. Und wenn die Versichertenbeiträge nicht steigen sollen, dann aus Steuermitteln. Der Bundeszuschuss aus Steuergeldern für die Gesetzliche Krankenversicherung beträgt ab nächstem Jahr nur noch 14,5 Milliarden Euro. Das ist steigerungsfähig. Für die gesetzliche Rentenversicherung werden sogar jedes Jahr knapp 100 Milliarden Euro zugeschossen.
Wenn die Bundesregierung nach Finanzierungsmöglichkeiten für das Gesundheitswesen sucht: Einige Subventionen und Förderprogramme böten Potenzial für Umschichtungen. Allein wegen der Mehrwertsteuerermäßigung auf Tiernahrung entgehen dem Staat jährlich rund 5 Milliarden Euro. Wer Katzenfutter kauft, zahlt nur sieben Prozent Mehrwertsteuer. Bei Babynahrung oder Arzneimitteln fällt der volle Steuersatz von 19 Prozent an. Die Ampel-Koalition könnte auch einfach konsequent ihren Koalitionsvertrag umsetzen. Ihr Versprechen, für die Bezieher von Arbeitslosengeld II endlich höhere Krankenkassenbeiträge aus Steuermitteln zu bezahlen, ist noch nicht eingelöst. Allein damit stünden der GKV ca. zehn Milliarden Euro für einen fairen Kostenausgleich in der ambulanten ärztlichen Versorgung zur Verfügung.
Dr. Jochen Heymanns
Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, Palliativmedizin und Psychosoziale Onkologie. Freiberuflich tätiger Referent, Autor und Gutachter.
Prof. Dr. Stephan Schmitz
Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie, Palliativmedizin. Geschäftsführender Gesellschafter eines Medizinischen Versorgungszentrums. Sprecher des Deutschen Onkologie Netzwerks.
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