GHG: Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt …

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler

Das im Sommer vorgelegte „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG) war vielleicht gut gemeint, aber so schlecht gemacht, dass es Ablehnung von fast allen Seiten erfahren hat. Zufrieden waren außer dem Minister nur noch die Kardiologen, die das Gesetz initiiert hatten, und die Medizinprodukte-Industrie. Im Regierungsentwurf wurden ein paar Goodies verteilt, die aber die grundsätzliche Ablehnung nicht beseitigen konnten. Nun soll das Gesetz, weil es angeblich so furchtbar pressiert, noch fix durch den Bundestag gepeitscht werden. Als Vorlage zur ersten Lesung hat die „Nationale Herz-Allianz“ die Fakten „gecheckt“

Fakten checken – das war besonders in der Pandemie groß in Mode. Eine eigenartige Interpretation von Wissenschaft – das war in der Pandemie auch gang und gäbe. Und bei den „Faktenchecks“ kam es dann nicht selten zu einer misslichen Kombination: mit der Anmaßung, die richtigen Fakten zu wissen, wurde eine Meinung, wurden Interessen vertreten, wurde Politik gemacht.

 

Einwände, Kritik, Argumente gehen spurlos vorüber

Erfreulicherweise ist die Pandemie vorbei, die pervertierten „Faktenchecks“ aber leider nicht, wie die Veröffentlichung der „Nationalen Herz-Allianz“ demonstriert, die „kurz vor der ersten Lesung im Bundestag den Faktencheck“ macht, eigentlich aber nur das wiederholt, was ihre Vertreter selbst anscheinend für Fakten halten. Einwände, Kritik, Argumente gehen an dieser Allianz spurlos vorüber.

Mit „Die Fakten“ überschrieben wird hier noch einmal versucht, das GHG, eines „der wichtigsten politischen Vorhaben der letzten Jahrzehnte, um die Herz-Kreislauf-Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland zu verbessern“ zu pushen. „Nationale Herz-Allianz befürwortet Gesetz zur Stärkung der Herzgesundheit“ – etwas anderes wäre unter der Schirmherrschaft des BMG auch einigermaßen überraschend.

13 „Fakten“ – sind es überhaupt welche? Hier eine kurze Sichtung; die Aussagen wurden jeweils auf den relevanten Inhalt reduziert.

1. Herz-Kreislauferkrankungen in Deutschland Todesursache Nummer 1.
Das kann man als Fakt bezeichnen. Es ist aber weder verwunderlich noch nur „in Deutschland“; das ist europaweit, ja sogar weltweit der Fall. Inwieweit dies auch etwas mit der Art der Feststellung von Todesursachen zu tun hat, soll hier nicht vertieft werden.

2. Hohe Gesundheits-Aufwendungen, letzter Platz bei der Lebenserwartung in Westeuropa.
So zeigen es die Statistiken – wobei es Fachgruppen gibt, die seit Jahrzehnten mit Überversorgung und damit „hohen Gesundheits-Aufwendungen“ besonders auffallen …

3. Hauptgrund ist die hohe kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität durch unzureichende kardiovaskuläre Prävention.
Kein Fakt. Die Autoren wissen ganz genau, dass es an der ersten Behauptung grundlegende Kritik gibt und daher der zweite Teil auch nicht mehr ist als eine These.

4. Deutschland belegt in der Prävalenz vermeidbarer kardiovaskulärer Risikofaktoren vordere Plätze.
Ein „Fakt“, der mit „vordere Plätze“ und ohne Nenner ziemlich nichtssagend ist und auf einer einzigen deutschen Publikation beruht.

5. Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen sind sinnvoll und durch randomisierte Studien als auch Register-Studien positiv belegt.
Behauptungen sind keine Fakten. Zitiert werden hier nicht „Studien“, sondern jeweils ein RCT und eine „Register-Studie“, beide mit diskussionsbedürftigen Ergebnissen; andere Studien und den Cochrane-Review hat man lieber weggelassen.

6. Da diese Maßnahmen nicht immer sozial Benachteiligte erreichen, sollte ein zusätzlicher Fokus auf die strukturelle Primärprävention und Verhältnisprävention gelegt werden.
„Sollte“ ist offensichtlich kein Fakt, sondern eine Forderung.

7. Vergleich zu anderen Screening-Verfahren mit Number-needed to screen.
Zur Abwechslung ein „Fakt“ ohne irgendeine Referenz, die man prüfen könnte.

8. Verordnungsfähigkeit von Statinen „soll erleichtert werden“ und Verweis auf Empfehlungen der aktuellen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC).
Mit Fakten hat das nichts zu tun, diese Zuruf-basierten Leitlinien am wenigsten.

9. Leistungen zur Verhaltensprävention nach Paragraf 20 Absatz 5 SGB V. Insbesondere die qualitätsgeprüften Bewegungsangebote müssen erhalten bleiben.
Keinerlei Fakten.

10. Eine genetisch bedingte Familiäre Hypercholesterinämie (FH) ist eine recht häufige Ursache (Prävalenz 1:250) für frühzeitige Herzinfarkte bei jungen Erwachsenen und reduziert die Lebenserwartung bis zu 15 Jahre. In Deutschland sind derzeit <5% der Menschen mit FH diagnostiziert.
Den ersten Teil kann man wohlwollend als Fakt, den zweiten vielleicht als Ergebnis von Erhebungen bezeichnen.

11. Aktueller IQWiG-Bericht urteilt positiv über ein FH-Screening (bei Erwachsenen) und positiv für eine systematische Diagnostik (Kaskadenscreening) bei Kindern.
Das ist nicht einmal dann ein Fakt, wenn man es nur darauf bezieht, dass so etwas im Bericht steht. Und zum Kaskadenscreening haben die „Faktenchecker“ vergessen zu erwähnen, dass das Gesetz dieses Ergebnis ignoriert – auf ihre Empfehlung hin. 

12. Im Vergleich zu anderen Screening-Verfahren bei genetischen Erkrankungen ist die FH häufiger.
Offensichtlich ein Fakt, bedeutet nur nichts für den Sinn und die Angemessenheit von Maßnahmen.

13. Gesetzlicher Anspruch auf die Früherkennung dieser Fettstoffwechselerkrankung im Kindesalter sinnvoll.
Keinerlei Fakten, sondern Meinungen und Forderungen.

 

Man könnte auch bei einigen Stellen von Faktenbeugung sprechen

Nein, 13 ist keine Glückszahl. Großzügig betrachtet kann man in vier bis fünf Punkten Fakten im Sinne von gut belegten Zahlen erkennen, die aber als Begründung für die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen vollkommen unzureichend sind. Alle hierfür entscheidenden Aspekte fehlen, an einigen Stellen könnte man auch von „Faktenbeugung“ sprechen.

Während eines wissenschaftlich orientierten Studiums wird den Studierenden neben Wissen vor allem vermittelt, zwischen Fakten, Evidenz, Befunden aus einzelnen Studien, Meinungen und Forderungen zu unterscheiden. Mit genügend Abstand zum Studium scheint das in Vergessenheit zu geraten. Von einer „Nationalen Allianz“ würde man aber erwarten, dass sie ein Mindestmaß an Seriosität und Unabhängigkeit erkennen ließe, um dem Eindruck zu begegnen, die Interessenvertretung einer Fachdisziplin zu sein, die mit üppiger Unterstützung der Industrie und vom Ministerium beschirmt mit angeblichen „Fakten“ für ihr Auskommen sorgen will. Dass sie „kurz vor der ersten Lesung im Bundestag“ dieses missratenen Gesetzes für dumm verkauft werden sollen, werden wohl auch Gesundheitspolitiker merken.

 

Lesen Sie vom Autor zum GHG auch folgende Beiträge: 

„GHG – Neues vom Schminktisch“, Observer Gesundheit, 30. August 2024,

„Erinnern Sie sich noch an den G-BA?“, Observer Gesundheit, 19. Juni 2024.


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