Gesundheitspolitik braucht koordinierte Expertise

Für eine bessere Vernetzung wissenschaftsbasierter Beratung

Prof. Dr. Nils C. Bandelow

Dr. Johanna Hornung

Am 10. März hat der Expertenrat „Gesundheit und Resilienz“ der Bundesregierung seine 14. Stellungnahme veröffentlicht, die im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen Empfehlungen für die Strukturen wissenschaftsbasierter Politikberatung im Gesundheitswesen formuliert. Am 12. März gab es im Observer Gesundheit dazu wichtige Fragen von Joseph Kuhn. Dieser Beitrag reagiert auf diese Fragen und diskutiert die Vorschläge auch im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit und Formen wissenschaftsbasierter Politikberatung im Gesundheitswesen.

Bereits die Stellungnahme des Expertenrats (unter Beteiligung eines der Autoren dieses Kommentars) basiert unter anderem auf vertraulichen Gesprächen mit Personen aus Politik und Verwaltung sowie der Expertise der im Rat vertretenen Wissenschaft. Ergänzend dazu nutzt dieser Kommentar Interviews mit Politik und Wissenschaft in Deutschland, der Schweiz, Frankreich und UK zur wissenschaftlicher Politikberatung während der COVID-19-Pandemie, die im Rahmen eines Forschungsprojekts Schweizer Universitäten von der Co-Autorin geführt wurden.

 

Warum neue Strukturen der Politikberatung?

Blickt man auf das Sondierungspapier vor den anstehenden Koalitionsverhandlungen, droht Gesundheitspolitik kaum Aufmerksamkeit der nächsten Regierung zu bekommen. Das wäre ein großer Fehler: Das deutsche Gesundheitswesen steht vor extremen Herausforderungen. Diese Herausforderungen sind nicht nur ökonomisch, sie sind auch politisch. Es fehlt an den Voraussetzungen für zusammenhängende und durchsetzungsfähige Programme. Die politischen Entscheidungen folgen nur noch situativen Konstellationen in der stark fragmentierten Struktur von Akteuren und Interessen. Zur Bewältigung der langfristigen und kurzfristigen Herausforderungen wie demografischer Wandel, Verschiebungen internationaler Strukturen, Kriege und Pandemien gibt es viel Wissen. Dieses Wissen wird aber oft nur von einem Teil der politischen Akteure anerkannt und ist dann nicht geeignet, als Grundlage für eine gemeinsame Strategie zu dienen und der zunehmenden Polarisierung entgegenzuwirken (Bandelow & Iskandar, 2024). Hinzu kommt, dass die Krisen der Gesundheitspolitik nicht nur durch die politischen und gesellschaftlichen Krisen verstärkt werden, sie wirken auch ihrerseits darauf zurück: Gerade die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass der Umgang mit konkreten politischen Problemen, sowohl der Prozess als auch das Ergebnis, auch dazu beitragen können, politische und gesellschaftliche Strukturen zu stärken – oder weiter zu gefährden.

Die Bewältigung dieser Herausforderungen liegt hauptsächlich in der Verantwortung der Politik, nicht der Wissenschaft. Wissenschaft ist anders als politische Entscheidungsträger nicht demokratisch legitimiert und kann deshalb keine Entscheidungen treffen. Sie kann nur Wissensgrundlagen für politische Entscheidungen liefern (Schlaufer & Hornung, 2022). Aber auch für die Wissenschaft gilt, dass sie nicht nur einen Beitrag zu Krisenbewältigung leisten kann, sondern auch in ihrer eigenen Legitimität und in ihrem eigenen Bestand von politischen Entwicklungen abhängig ist. Dies wurde in der Corona-Pandemie in vielen Ländern sichtbar und spitzt sich aktuell in den Entwicklungen in den USA zu. Daher ist es wichtig, die Strukturen der wissenschaftsbasierten Politikberatung im deutschen Gesundheitswesen zu reflektieren und zu diskutieren, in der Hoffnung, dass dieses wichtige Thema auch Eingang in die anstehenden Koalitionsverhandlungen findet.

Was schlägt der Expertenrat vor?

Die 14. Stellungnahme des Expertenrats macht verschiedene Vorschläge, um die Effektivität und Legitimität der wissenschaftsbasierten Politikberatung im Gesundheitswesen zu stärken. Konkret schlägt sie insbesondere vor, ein dauerhaftes Gremium zur Koordination wissenschaftsbasierter Politikberatung einzurichten. Ein möglicher Ort für die Ansiedlung eines solchen Gremiums, das auch die nötige und bestmögliche Autorität aufweist, ist die Regierungszentrale – in Deutschland das Kanzleramt. Eine solche zentrale Verortung ist wichtig, da Gesundheitspolitik mittlerweile kein rein sektorales Thema mehr ist, sondern ein Querschnittsthema, das auch viele andere Bereiche betrifft, wie z. B. Verkehrspolitik, Bildungspolitik, und Umweltpolitik. Sachverstand auch über die Grenzen des Sektors Gesundheit einzubeziehen, ist daher eine zwingende Voraussetzung, um den Zielen von Health in All Policies gerecht zu werden.

Die Stellungnahme des Expertenrats diskutiert die vielfältigen Beratungsstrukturen, die unsere Nachbarländer in der Covid-Pandemie genutzt haben. Hier ist vor allem faszinierend, dass die deutsche Lösung ohne systematischen Austausch mit den Nachbarländern erfolgt ist. Wir haben zwar Daten zur Entwicklung der Pandemie aus anderen Ländern genutzt und die jeweiligen Maßnahmen diskutiert. Die dahinter liegenden Beratungsstrukturen, also die Frage, in welcher Form welche Disziplinen mit welchen Regeln konsultiert werden, ist jedoch ohne systematische Nutzung internationaler Erfahrungen ausgekommen.

Kann Deutschland überhaupt davon profitieren, Erfahrungen gesundheitspolitischer Politikberatung anderer Länder in konventionellen Politikprozessen und in Krisen systematisch aufzuarbeiten? Das deutsche Gesundheitswesen ist nicht nur in seinen Strukturen mit gegliederten Finanzierungssystemen und spezifischer Selbstverwaltung einzigartig. Auch die besonderen Strukturen des deutschen politischen Systems mit ihren besonderen Konsenszwängen bei gleichzeitig wachsender Fragmentierung und Polarisierung der Parteien und Interessengruppen stehen einer einfachen Übertragung der Erfahrungen anderer Länder nach Deutschland entgegen. Hinzu kommt, dass auch im Ausland noch vergeblich nach den perfekten Lösungen für wissenschaftliche Politikberatung im Gesundheitswesen gesucht wird.

Dennoch lohnt sich der Blick über die Grenzen: Andere Länder haben eine große Vielfalt an Beratungsstrukturen entwickelt, die nicht nur Anregungen, sondern auch konkrete Erfahrungen bereitstellen (Bouchat et al., 2024), die man zumindest diskutieren sollte. In der Schweiz hat die Bundeskanzlei ihr Krisenmanagement systematisch evaluiert und dabei auch mit den Nachbarländern verglichen (Sager et al., 2022). Dies betrifft viele Aspekte: Für welche Themen sind ständige Gremien sinnvoll, wann und in welcher Form sollten Gremien in Krisen neu oder durch Ergänzung bestehender Räte geschaffen werden? Wer benennt die Experten nach welchen Verfahren? Berichten die Räte an die Verwaltung, an die Politik oder an die Öffentlichkeit? Welche politischen Ebenen und Sektoren sind jeweils zu beteiligen? Welche Regeln gibt es für die Arbeit in den Räten selbst, wo ist Vertraulichkeit sinnvoll, wo Transparenz notwendig? Und besonders wichtig: Wie wird mit der legitimen Vielfalt wissenschaftlicher Perspektiven und Empfehlungen umgegangen?

In der Covid-19-Pandemie gab es für diese Fragen keine systematischen Antworten, sondern kurzfristige Ad-Hoc-Lösungen, über deren Qualität weiterhin gestritten wird. Kurzfristige Ad-hoc-Strukturen in Form von Task Forces sind laut aktueller Forschung aber kein Allheilmittel (Mavrot et al., 2024).

Herausforderungen und Diskussionspunkte

Brauchen wir überhaupt noch ein Gremium? Joseph Kuhn formuliert einige wichtige Aspekte, die beachtet werden müssen. Er betont vor allem die Frage, wie effektiv die vielen bisherigen Strukturen wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland sind. Es gibt in Deutschland sehr viel Sachverstand: In den Ministerien existieren einschlägige Sachverständigenräte, im Gesundheitswesen verfügt die Selbstverwaltung über Expertise, und die Universitäten produzieren wissenschaftliche Erkenntnisse durch Forschungsprojekte und -aktivitäten. Dieses Wissen findet manchmal prominent Eingang in politische Entscheidungen. Manchmal werden wissenschaftsbasierte Empfehlungen und Vorschläge bewusst von politischen Entscheidungsträgern abgelehnt oder verändert. Beides ist legitim. Problematisch ist aber, dass die bestehenden Strukturen nicht immer gut vernetzt sind, das Wissen für die politischen Entscheidungsträger nicht immer zugänglich ist, Verantwortlichkeiten, Zusammensetzungen und Aufgaben unklar bleiben.

Hier müssen nicht nur Sektoren- bzw. Ressortgrenzen überwunden werden, sondern auch die Zuständigkeitsverteilung der politischen Ebenen kann einem Wissenstransfer entgegenstehen. Trotz der vielfältigen Beratungsstrukturen gibt es auch weiterhin inhaltliche Blindstellen: Die disziplinäre Zusammensetzung der Gremien folgt oft Traditionen, Netzwerken oder Zufällen. Man kann historisch nachvollziehen, wie sich einige Disziplinen, etwa die Gesundheitsökonomie, die Pflegewissenschaft und Public Health, mit unterschiedlichem Erfolg um Einbindung bemüht haben. Andere Perspektiven bleiben weiterhin ausgeblendet. Mit der disziplinären Zusammensetzung sind auch inhaltliche Prioritäten verbunden: Konkret benennt die Stellungnahme des Expertenrats etwa die Defizite der strategischen Vorausschau und der Nutzung bestehender international vergleichender Forschung zu Systemen und Prozessen der Gesundheitspolitik.

Joseph Kuhn weist zurecht darauf hin, dass trotz des umfassenden Netzwerks von Politikberatungsgremien weder der deutschen Pandemiepolitik noch den jüngsten politischen Initiativen eine durchgängige Evidenzbasierung attestiert werden kann – um es vorsichtig zu formulieren. Die Politik konnte sich auf viel wissenschaftlichen Sachverstand stützen, heißt es wiederum in der Stellungnahme des Rats. Kuhn erkennt zu Recht, dass der vorhandene Sachverstand nicht immer dazu geführt hat, dass auch die politischen Maßnahmen evidenzbasiert waren. Diesem Befund stimmen wir zu: Mit der Evidenzbasierung verhält es sich in der deutschen Gesundheitspolitik ähnlich wie mit der Verwendung ökonomischer Ressourcen: Auf beiden Ebenen ist die deutsche Gesundheitspolitik im internationalen Vergleich (extrem) gut ausgestattet. Trotzdem sind die Ergebnisse oft nur mittelmäßig.

Richtig ist auch der Befund von Joseph Kuhn, dass ein roter Faden der Stellungnahmen des Expertenrats „Gesundheit und Resilienz“ die Forderung nach mehr Koordination ist. Dieser Forderung liegt eine Public-Health-Perspektive zugrunde, die erkennt, dass unsere fragmentierten Strukturen und Prozesse einer Orientierung auf Gesundheitsstärkung, auf Entwicklung langfristiger Strategien und auf Verbindung ökonomischer, sozialer, ökologischer und demokratischer Ziele entgegensteht. Bezogen auf die Strukturen der Politikberatung liegen konkrete Herausforderungen darin, dass Themen teilweise parallel oder nacheinander in verschiedenen Räten ohne Kenntnis voneinander bearbeitet werden, dass weder im konventionellen politischen Prozess und schon gar nicht in Krisensituationen erprobte, legitimierte und vor dem Hintergrund der international vergleichenden Forschung gut begründete Strukturen und Prozesse zum Zusammenspiel von Politik, Expertise und Öffentlichkeit existieren.

 

Welche Wissenschaft ist angesprochen?

Diese Analyse soll nicht einfach die schon bestehende Stellungnahme des Expertenrats wiederholen und rechtfertigen. Uns ist wichtig, einen Aspekt zu diskutieren, der dort nicht vorkommt, aber in allen Debatten über Politikberatung immer relevant ist: Was meint eigentlich „wissenschaftliche“ oder „wissenschaftsbasierte“ Beratung? Wie ist diese legitimiert? Anders als das Konzept der evidenzbasierten Medizin, das sich auf vergleichsweise klar formulierte methodische Ideen stützt – die in der Praxis auch länderspezifisch unterschiedlich ausgestaltet werden (Grunenberg, 2023) –, gibt es bei der Frage, was gute Wissenschaft ist, wenig Konsens. Während sich innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen gewisse Maßstäbe etabliert haben, nach denen Wissenschaft beurteilt wird, fehlt es in der Politik und im öffentlichen Diskurs an einer Bewertungsgrundlage und einem Kriterienkatalog für die Beurteilung von Wissenschaft. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass wir in manchen Räten eine Tendenz sehen, sachlich gut begründeten öffentlichen Dissens zu vermeiden. Dies widerspricht der Idee von Wissenschaft, die von Vielfalt, Zweifel und Vorläufigkeit lebt. Politik könnte davon profitieren, auf eingespielte Expertise zurückgreifen zu können, die es gelernt hat, alternative Szenarien und Lösungen vorzulegen und zu diskutieren.

Wissenschaft ist ein sehr umfassendes, pluralistisches Unterfangen. Sie zeichnet sich durch viele Disziplinen mit unterschiedlichen Methoden und unterschiedlichen Erfolgen aus. Gemeinsam ist diesen vielen wissenschaftlichen Perspektiven aber, dass sie sich in der Produktion neuen Wissens und in der Bewertung von bestehendem Wissen in einer Art bewährt haben, die Leistungen bereitstellt, die so nicht von anderen Bereichen der Gesellschaft bereitgestellt werden können. Das schließt nicht aus, dass es auch Wissen gibt, das nicht wissenschaftsbasiert ist. Auch praktisches Wissen ist notwendig. Wissenschaft muss nicht zwingend als Monopolist auftreten, aber ist etwas, was einer modernen Gesellschaft sehr gut tut und intensiv genutzt werden sollte.

Neben der Problematik, was Wissenschaft kann und was Wissenschaft nicht kann, gibt es immer auch das Problem des Misstrauens gegenüber Wissenschaft, das sich vor allem dadurch nährt, dass Wissenschaft vor dem Verdacht steht, andere Kriterien zu nutzen als die, die sie selbst angibt (Algan et al., 2021). Technisch gesprochen gibt es hier zwei große Herausforderungen, nämlich zum einen die Überintegration zwischen dem Wissenschaftssystem und dem Wirtschaftssystem und andererseits eine Überintegration des Wissenschaftssystems mit dem politischen System (Braun, 2004). Beide Überintegrationen stellen sich unterschiedlich in verschiedenen Ländern dar. Die Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft, etwa über Drittmittel, oder die Verflechtung zwischen Wissenschaft und Politik, etwa über Benennungsprozesse von Personen im Wissenschaftssystem, sind in verschiedenen Ländern unterschiedlich geregelt. Auch die Schnittstellen der Politikberatung sind verschieden und reichen etwa von etablierten Exzellenzuniversitäten über Think Tanks bis zur deutschen Tradition fächerspezifischer Netzwerke.

Die Struktur eines wissenschaftlichen Beratungsgremiums muss mit diesen Herausforderungen möglichst transparent umgehen, und die Ansprüche an ein solches Beratungsgremium müssen sich entsprechend dem anpassen, was geleistet werden kann. Das Wissenschaftssystem schafft eine Grundlage für bestimmte Leistungen – sowohl solche, die unterstützend sein können bei der Formulierung von Argumenten für eine einzelne Seite in einem politischen Prozess, aber auch solche, die die Möglichkeit bieten, dass Wissenschaft mit mehr Distanz zu einem politischen Konfliktbereich und Wissensbereich auftreten und Polarisierung potenziell überwinden kann. Diese kann den Akteuren eine Grundlage bieten, die gleichermaßen von allen Konfliktparteien akzeptiert werden kann.

Die unterschiedlichen Wissenstypen müssen nicht nur reflektiert werden. Es ist auch wichtig, dass wissenschaftsbasierte Politikberatung darin trainiert wird, Politik zu verstehen, politische Kommunikation zu verstehen und die Funktionsweise der öffentlichen Kommunikation zu verstehen. Auch deshalb braucht es ein dauerhaftes Gremium, um einen Kern von Menschen zu haben, die diese Art von Kommunikation verstehen. Ebenfalls trainiert werden muss die wissenschaftsinterne, interdisziplinäre Kommunikation (Schlaufer & Hornung, 2022). Auf der anderen Seite braucht es auch auf der Seite der Politik Erfahrung und einen regelmäßigen Austausch mit solchen Gremien, um wissenschaftliche Kommunikation angemessen interpretieren zu können und Vertrauensbeziehungen gleichermaßen zwischen Wissenschaft und Politik und gegenüber der Öffentlichkeit aufbauen zu können, um eine ausreichende Grundlage für Beratungsprozesse in Krisen zu haben.

 

Unterscheidung zwischen Policy Advice und Scientific Policy Advice

Die Forschung unterscheidet grundlegend zwischen Policy Advice (der Beratung politischer Akteure zu Inhalten, politischen Wirkungen und strategischer Ausrichtung von politischen Maßnahmen) und Scientific Policy Advice, der sich im engeren Sinn auf die Beratung durch die Wissenschaft bezieht (Christensen, 2018). Beispielsweise unterscheidet sich der im Ministerium vorherrschende Sachverstand und der praktische Sachverstand von Akteuren der Selbstverwaltung von Forschungserkenntnissen, die im Rahmen von universitären Studien hervorgebracht werden. Man kann anerkennen, dass diese Grenzen fließend sind. Beispielsweise können universitäre Studien sowohl von Krankenkassen als auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert werden, wobei die Forschungsfragen im ersteren Fall eher anwendungsorientiert und im letzteren Fall stärker auf Grundlagenforschung ausgerichtet sein sollten. Gleichzeitig gibt es auch im Gesundheitswesen Akteure wie etwa das IQWIG, die wissenschaftliche Studien nach entsprechend wissenschaftlichen Kriterien durchführen – allerdings zu sehr spezifischen Fragestellungen, dafür aber teilweise mit einem Fokus auf strategischer Vorausschau. Wiederum sind im Ministerium häufig Akteure mit Sachverstand und in der Selbstverwaltung verstärkt Akteure mit praktischer Umsetzungsexpertise vertreten.

In der politikwissenschaftlichen Forschung wird deshalb auch zwischen Expertise und Evidenz als unterschiedlichen Formen von Wissen unterschieden. Expertise bezieht sich auf die Überlieferung von Wissen durch Personen, die qua ihrer Ausbildung oder Position über umfassendes Wissen in einem bestimmten Bereich verfügen. Dagegen wird unter Evidenz die Verschriftlichung von wissenschaftlichen Studien und deren Publikation üblicherweise nach Peer-Review-Verfahren verstanden (Ledermann, 2014). Diese Unterscheidung reflektiert Idealtypen, die in der Praxis vermutlich stärker ein Kontinuum darstellen. Wichtig bleibt jedoch, zwischen unterschiedlichen Wissenstypen zu unterscheiden und dabei vor allem die folgenden Aspekte im Blick zu behalten: Welche Fragestellungen werden als Ausgangspunkt für die Produktion von Wissen formuliert? Wie praxisorientiert ist die Wissensgrundlage politischer Entscheidungen und wie sehr versucht sie zum Fortschritt der akademischen Debatte beizutragen? Hat sie zum Ziel die Formulierung konkreter politischer Empfehlungen oder nicht?

Aus der Unterscheidung zwischen Expertise und Evidenz lässt sich jedoch auch ableiten, dass Evidenz stärker die Herausforderungen von Langsamkeit hat (oder fehlender Salienz), während Expertise üblicherweise schneller abrufbar, aber dafür weniger repräsentativ und glaubwürdig – weil noch nicht nach den Regeln wissenschaftlicher Kommunikation geprüft – ist (Hadorn et al., 2022). Zweifel und Vorläufigkeit bleiben dagegen in allen Formen wissenschaftlicher Erkenntnisse erhalten und widersprechen der politischen Logik, die nach Eindeutigkeit und schneller Lösungsorientierung strebt, zudem in Übereinstimmung mit Machbarkeit und eigenen politischen Zielen. Das alles ist der Wissenschaft fern, was die Notwendigkeit nach entsprechenden Trainings und Kompetenzen nach sich zieht.

Überintegration von Wissenschaft mit Politik und Wirtschaft

Ein mit der Frage nach Ausgangspunkten und Zielen verbundene Herausforderung ist die bereits angesprochene Überintegration von Wissenschaft und den Sektoren von Wirtschaft bzw. Politik. Die Fragestellungen, die in einer von Krankenkassen finanzierten Studie untersucht werden, implizieren bereits gewisse wirtschaftliche Interessen der Krankenkassen. Gleichzeitig werden Anträge der DFG mittlerweile auch nach politischen Kriterien, wie gesellschaftlichem Impact und Diversität, beurteilt. Mischformen, wie der Innovationsfonds, versuchen universitäre Forschung mit Anwendungsforschung zu verbinden. Bei allen Finanzierungsoptionen bleiben zwei zentrale Herausforderung: Erstens bergen sie die Gefahr einer Verzerrung nicht nur der Studie selbst, sondern auch eine Vorselektion an Themen, die überhaupt wissenschaftlich bearbeitet werden. Wenn etwa Hygiene und Impfen als Möglichkeiten zur Krankheitsvermeidung erforscht werden, aber hinter Impfungen ökonomische Interessen stehen, die hinter Hygiene nicht stehen. Zweitens bleibt eine zentrale Frage, inwiefern Wissenschaft auch Empfehlungen oder Implikationen reflektieren oder lediglich Ergebnisse präsentieren sollte? Oder ist jede Präsentation von Ergebnissen unweigerlich eine Empfehlung?

Diese Gefahren der Überintegration von Systemen, die eine deutliche Überkonzentration wissenschaftlicher Forschung auf bestimmte Themen nach sich ziehen, die wirtschaftlich oder politisch interessant sind, müssen von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit reflektiert werden. Dies ist nicht nur deshalb wichtig, weil sonst Themen ohne entsprechendes Interesse keine Beachtung finden, sondern auch weil es ein zentraler Treiber für Vertrauensverlust der Bevölkerung in die wissenschaftliche Politikberatung ist. Eine sich ständig selbst verstärkende Überintegration hat dies spätestens dann zum Resultat, wenn sich die politisch und wirtschaftlich kontingenten Perspektiven im Wissenschaftssystem nicht mehr mit den Perspektiven in der Gesellschaft decken. Diese normative Entfernung des Wissenschaftssystems von der Gesellschaft birgt das Risiko, dass die gesellschaftlichen Teilgruppen, deren Perspektiven nicht mehr abgebildet werden, Wissenschaft komplett in Frage stellen. Und das obwohl auch sie wissenschaftliche Methoden nutzen könnten, wenn sie eine Wissenschaft hätten, die ihnen dafür zur Verfügung steht.

 

Verschiedene Rollen und Aufgaben der Wissenschaft

Eine zentrale Herausforderung, die mit Vertrauen in die wissenschaftliche Politikberatung einhergeht, ist die Kommunikation der Prozesse und Ergebnisse und die Frage, wer welche Rolle in der Kommunikation übernimmt. Wissenschaft kann gleichermaßen Teil von sogenannten Advocacy Koalitionen sein, deren Kernüberzeugungen mit einer bestimmten politischen Präferenz einhergehen (Sabatier & Zafonte, 1999), oder sie kann als Broker eine Vermittlungsrolle zwischen Politik und Gesellschaft einnehmen (Neal et al., 2022). Beide Funktionen stoßen oft auf gegenseitiges Unverständnis und werden antagonistisch diskutiert (Grunwald, 2015; Schneidewind, 2015; Strohschneider, 2024).

Wenn Wissenschaft Teil von Advocacy-Koalitionen ist, muss diese Positionierung transparent sein, und dennoch sollte sich Wissenschaft keinen im Diskurs vorhandenen Positionen verschließen, sondern zur Verfügung stehen. Wichtig ist dabei auch, dass die Broker-Funktion ausreichend gefördert und akzeptiert wird. Dieser Konflikt überträgt sich mittlerweile in der politischen Debatte. Es ist aber beides notwendig: Ja, wir brauchen Aktionismus, der für Maßnahmen einsteht, um dem Klimawandel zu begegnen, die Leute mehr zum Impfen zu bewegen oder ein Public-Health-System aufzubauen. Das sind alles aktivistische Forderungen, die gut sind, für die es aber auch Gründe dagegen gibt. Und auch der anders argumentierenden Perspektive sollten Ressourcen zur Verfügung stehen, die wissenschaftlich fundiert sind. Und es sollte auch daneben Forschung gefördert werden, die sich zum Beispiel stärker auf Prozesse und nicht auf Policies bezieht. Die zum Beispiel analysiert, wie Prozesse konsensualer und demokratischer gestaltet werden können.

Ein weiteres Problem in der heutigen Kommunikation ist die zunehmende Rolle der sozialen Medien. In Bezug auf wissenschaftliche Politikberatung haben sie vor allem zwei Effekte. Einerseits führen sie zu einer Verengung der Filterblasen und lösen diese andererseits von räumlichen Strukturen. Damit bestehen Konfliktlinien nicht mehr zwischen Ländern und nationalen Gesellschaften, sondern ziehen sich durch deren Mitte, was zu einer Spaltung und Polarisierung innerhalb der jeweiligen Staaten führt. Im Gesundheitswesen wurde dies während der Pandemie deutlich. Bis heute denken verschiedene Gruppen ganz unterschiedlich über die Pandemie-Politik – was falsch oder richtig war, wer dafür verantwortlich ist und welche Begriffe für was zu verwenden sind. Damit sind Gesellschaftssegmente auseinandergefallen. Es braucht daher auch Wissenschaft, die mehr Abstand zu diesen Spaltungstendenzen hat und die Unabhängigkeit von parteipolitischen Perspektiven fördert.

 

Wissenschaft zur Reduzierung von Polarisierung – ein Irrglaube?

Mit dem Auftreten von Wissenschaft im öffentlichen Diskurs ist zuweilen auch die Hoffnung verbunden, dass Menschen ihre vermeintlich falschen Überzeugungen ändern würden, wenn man ihnen die entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnisse präsentiert. Tatsächlich deutet aber die Forschung darauf hin, dass in polarisierten Konflikten, in denen es bereits verfestigte Meinungen gibt, das Einbringen von Wissenschaft eher dazu führt, dass sich diese Positionen verfestigen und in ihr jeweiliges Extrem weiter verstärken (Heikkila et al., 2020).

Bei der Verabschiedung von politischen Maßnahmen ist zudem fraglich, inwiefern das Befolgen dieser Maßnahmen und deren Akzeptanz seitens der Bevölkerung von der Evidenzbasierung abhängt. Forschung zeigt, dass effektive Politik vor allem auf Vertrauen basiert (Cairney & Wellstead, 2021) – und vor allem dieses gilt es zu fördern, um Polarisierung zu bekämpfen. Neben dem Vertrauen in und der zugeschriebenen Kompetenz von Wissenschaft bleibt jedoch ein zentraler Treiber von Polarisierung auch die generelle Frage, wie viel Einfluss Wissenschaft auf den politischen Prozess haben sollte (Del Ponte et al., 2024). Im Hinblick auf ein wissenschaftliches Politikberatungsgremium sei in diesem Zusammenhang insbesondere festzuhalten, dass Wissenschaft selbst sich seiner Grenzen bewusst sein kann, sowohl in den Fähigkeiten als auch in seiner Legitimierung für Handlungen. Dies gelang auch im Rahmen von SAGE in Großbritannien während der Pandemie:

„Und ich denke, dass die Frage der Legitimität im Allgemeinen recht gut geklärt werden konnte, denn am Ende konnten die Menschen sehen, dass die Regierung die Entscheidungen traf, denn es gab einige Dinge, die die Regierung beschloss, zu tun, bei denen wir keinerlei Einfluss hatten. Zum Beispiel Schulen – wenn wir die Beweise lesen, die wir vorgelegt haben, dann wurde die Entscheidung, Schulen zu schließen, ausschließlich von der Regierung getroffen.“ (I_UK_2).

Im Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit ist Wissenschaft immer damit konfrontiert, nicht nur aktuelles Wissen zu vermitteln, sondern auch zur Stärkung des Vertrauens in das eigene Fach und die Wissenschaft insgesamt beizutragen. Wie ein deutscher Experte im Interview sagte:

„…wenn da also Politiker, aber ich glaube eben auch die Öffentlichkeit, wenn die sich auf irgendwas stützen wollen, dann wollen die eigentlich kein anonymes Paper von irgendeiner Akademie, sondern die wollen die Leute sehen. Und das schien mir nachher dann im Endergebnis doch irgendwie wichtig zu sein, dass man an irgendeiner Stelle dann auch vor eine Fernsehkamera geht, […] und da als Person steht, als Person zugänglich ist, damit die Leute sich ein Bild machen können, ob sie dieser Person vertrauen oder nicht.“ (I_DE_11)

Beim Blick auf die zusammenhängenden Strukturen geht es nicht nur um die Personalisierung von Aussagen, sondern auch um echte Pluralität bei gleichzeitiger Wahrung fachlicher Standards, um wissenschaftliche Politikberatung auf Vertrauensbasis und mit ergebnisoffenen Prozessen zu gestalten.

 

Ausblick

Diese Analyse sollte einerseits die Notwendigkeit einer besseren Vernetzung wissenschaftsbasierter Politikberatung betonen. Diese Vernetzung sollte damit verbunden werden, die Health-in-All-Policies-Perspektive zu stärken und den deutlichen Handlungsbedarf im Gesundheitswesen anzuerkennen.

Darüber hinaus erfordert wissenschaftsbasierte Politikberatung ständige kritische Reflektion. Der kurze Einwurf von Joseph Kuhn ist für uns ein willkommener Einstieg in eine Debatte, die unbedingt auch an der Schnittstellen von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit geführt werden muss, um das Potential von Wissenschaft zu nutzen ohne dabei die Voraussetzungen dieses Potentials zu gefährden.

 

Literatur

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  • Neal, J. W., Neal, Z. P., & Brutzman, B. (2022). Defining brokers, intermediaries, and boundary spanners: A systematic review. Evidence & Policy, 18(1), 7–24. https://doi.org/10.1332/174426420X16083745764324
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  • Schlaufer, C., & Hornung, J. (2022). Was kann evidenzbasierte Politik und was nicht? «décodage» – Blog Der SAGW. https://www.sagw.ch/sagw/aktuell/blog/details/news/was-kann-evidenzbasierte-politik-und-was-nicht
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Prof. Dr. Nils C. Bandelow

Institute of Comparative Politics and Public Policy, TU Braunschweig

 

Dr. Johanna Hornung

Institute of Political Studies, Université de Lausanne


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