11.02.2025
Gesundheits- und Pflegepolitik in den Wahlprogrammen
Ein Update nach den Parteitagen
Dr. Robert Paquet
In den vergangenen Wochen hat es mehrere Parteitage z.T. mit Beschlüssen bzw. Ergänzungen zu den Wahlprogrammen gegeben. Zuletzt bei der CSU (8.2.) und der FDP (9.2.) mit ihren Wahlaufrufen. Dabei ist die Arbeit an Programmen ein Ausdruck innerparteilicher Demokratie.
Hier waren die Grünen mit rund 1800 Änderungsanträgen besonders fleißig. Die CDU dagegen hat bei ihrem Parteitag am 3.2. erkannt, dass Gesundheitspolitik in diesem Wahlkampf nicht im Mittelpunkt des Interesses steht. Auch im Wahlaufruf der CSU kommt sie nicht vor. Die FDP erklärt nur allgemein, die Beitragssätze dürften nicht „ungebremst steigen“; der Vorschlag, in der GKV eine Beitragsrückerstattung einzuführen[1], bleibt ein isolierter Schnellschuss. Auch im Kanzler(kandidaten)-Duell am 9.2. (bei ARD und ZDF) wurde die Sozialpolitik nur ganz am Rande gestreift (Scholz pro „Pflegedeckel“ zur Begrenzung der Eigenanteile versus Merz pro kapitalgedeckte Zusatzversicherung).
Trotzdem lohnt es sich, die Programmentwicklung sorgfältig nachzuverfolgen.[2] Denn in der kommenden Wahlperiode werden die Finanzierung der Sozialpolitik und ihre konkrete Ausgestaltung – neben der Wirtschaftspolitik – zum zentralen innenpolitischen Arbeitsfeld. Das wird sich schon bei den Verhandlungen zu einem Koalitionsvertrag zeigen. Was hat sich also in den letzten Wochen getan?
SPD
In dem am 11.1. beschlossenen „Regierungsprogramm“ hat sich bei der SPD der Ton etwas verändert: Jetzt setzen „wir“ (neu) „gemeinsam mit unseren Partnern der Selbstverwaltung“ auf (wie im Entwurf) „Prävention, regionale Versorgungsnetze, Digitalisierung sowie auf mehr Gemeinwohl statt Profit“. Welche „Partner“ der SPD da wohl gemeint sind?
Einerseits die Prävention, andererseits die Bürgerversicherung werden als Ziele stärker in den Vordergrund gestellt. Zur Bürgerversicherung wird (neu) konkretisiert: „Für Beamtinnen und Beamte des Bundes schaffen wir ein echtes Wahlrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung durch eine pauschale Beihilfe.“ Die versicherungsfremden Aufgaben im Gesundheitswesen sollen zukünftig nicht mehr „verstärkt“ (Entwurf), sondern „ausreichend“ aus Steuermitteln finanziert werden. Was immer dieser Begriffswechsel auch bedeutet.
Im Absatz zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung wird hinzugefügt: „Außerdem wollen wir das Thema Einsamkeit im Kontext der gesundheitlichen Prävention verankern. Ein Querschnittsthema, das aber gerade das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen stellt. Daher werden wir diese Aspekte gezielt in einer Präventionsstrategie aufgreifen.“
Bei der Pflegeversicherung wird in der Einleitung ergänzt: „Um die Zukunftsfähigkeit des solidarisch finanzierten Pflegesystems nachhaltig zu sichern, werden wir auch Steuermittel maßvoll einsetzen.“ Seit dem Entwurf hat die SPD offenbar neue, aber mäßig sprudelnde Steuerquellen entdeckt („maßvoll“). Für die Beschäftigten im Gesundheitswesen wird das an anderer Stelle bereits Erklärte noch einmal hervorgehoben: „Deshalb setzen wir uns weiterhin für ordentliche Tarifverträge in Gesundheit und Pflege ein.“
Das provoziert eine Anmerkung zur Schuldenbremse: Es liegt auf der Hand, dass linke Parteien die staatliche Kreditaufnahme auch zur Finanzierung konsumtiver Leistungen nutzen wollen. Das ist schlimm genug. Dass bei der Begeisterung für Staatsschulden aber völlig ausgeblendet wird, dass sie damit gerade den Kapitalisten in die Hände spielen, ist grotesk. Nach Marx’scher Terminologie wäre das die Förderung der „Couponschneider“. Ist das wirklich so gewollt?
Bündnis 90/Die Grünen
Unterdessen haben die Grünen bei ihrer Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) am 26.1. das Gesundheits- und Pflegekapitel ihres Wahlprogramms rund verdreifacht[3]. Für die BDK wurden zu diesem Themenkomplex über 100 Anträge eingereicht, zum Teil von prominenten Parteimitgliedern, z.B. von Manfred Lucha, Gesundheitsminister in Baden-Württemberg, und Janosch Dahmen MdB, gesundheitspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion. Die Richtung der Vorschläge und Forderungen hat sich dadurch nicht (wesentlich) geändert. Aber eigentlich wurde das Kapitel erst jetzt so ausgebaut. Zum Teil wurde dabei der Tonfall im Hinblick auf die politischen Gegner geschärft, so z.B. bei der solidarischen GKV-Finanzierung durch den neuen und expliziten Akzent: „während andere sich einer gerechten Verantwortungsverteilung entziehen“.
Ambulante Versorgung
Ohne inhaltliche Änderungen wurde vor allem die Einleitung neu und flüssiger getextet und ergänzt. Die „Primärversorgung“ wird jetzt als „hausärztlich-zentriert“ beschrieben; die damit verbundene „bessere Steuerung und Organisation“ (der Patienten?) soll jetzt mit einer „stärkeren Nutzung von Telemedizin, Digitalisierung und einer guten Allgemeinmedizin“ verbunden sein. Dabei soll die „interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe wie z.B. Community Health Nurses, Hebammen und Pflegekräften“ weiter vorangetrieben werden. Die Förderung der „Primärversorgungszentren …, in denen soziale Beratung integriert wird“, kommt hinzu.
Für die ambulante Versorgung wird ergänzt, dass das Gesundheitswesen „inklusiv und barrierefrei“ werden und die „Fehl- und Überversorgung“ z.B. „durch den Ausbau von Zweitmeinungsverfahren“ abgebaut werden muss. Neu ist auch: „Abrechnungsbetrug und Fehlverhalten im Gesundheitswesen werden wir zusammen mit den Ländern wirkungsvoller begrenzen.“
Den Vertragsärzten wird versprochen: „überflüssige Regressverfahren“ sollen entfallen. Die Patienten sollen einen „Anspruch auf Patientenlotsen“ erhalten. Neu ist auch: „Das Patientenrechtegesetz entwickeln wir weiter, um Patient*innen nach Behandlungsfehlern zu stärken und das Personal vor Organisationsfehlern besser zu schützen.“ Die „Selbsthilfe“ soll weiter gestärkt „und die Patient*innenbeteiligung in der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens“ ausgebaut werden.
Krankenhaus, Arzneimittel, Apotheken und Berufe im Gesundheitswesen
Die „Umsetzung der Krankenhausreform“ soll jetzt „weiter vorangetrieben“ werden; im Entwurf hieß es noch, die Reform solle „nachgebessert“ werden. (Da hätte ja jemand auf den Gedanken kommen können, dass noch nicht alles optimal geregelt ist.) Die Weiterentwicklung soll „im Hinblick auf bestmögliche Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität sowie eine sachgerechte Vorhaltevergütung“ erfolgen. Außerdem neu: „Wir werden weiter darauf achten, dass sich auch die privaten Versicherungen an den Transformationskosten beteiligen.“
Man will (neu) „die Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen dabei unterstützen, ihre Gebäude an die Klimakrise anzupassen.“ Außerdem wird jetzt auch der Arzneimittelbereich mit Versprechungen bedacht: „Wichtige Arzneimittelwirkstoffe [sollen] wieder stärker in Deutschland oder Europa produziert werden. Bei unverzichtbaren Medikamenten der Grund- und Notfallversorgung ist es unser Ziel, bessere Vergütungsregelungen zu etablieren. Die Finanzierung der Apotheken wollen wir im Hinblick auf die Sicherstellung einer guten, flächendeckenden und effizienten Versorgung reformieren und gleichzeitig den Heilberuf der Apotheker*innen auch durch erweiterte Möglichkeiten von Telepharmazie oder niedrigschwelliger Impfangebote stärken.“ Alle Berufe im Gesundheitswesen sollen mit einem „eigenen Heilberufegesetz“ erfreut werden, das auch „deren weitere Akademisierung“ regeln soll. Die Hebammen dürfen auf den „Ausbau der Hebammengeleiteten Kreißsäle“ hoffen, obwohl sie sicher wissen, dass es dabei nicht um runde Räume geht.
Über eine neue Passage wird der übliche Eiertanz aufgeführt, die elektronische Patientenakte als Chance zur Qualitätsverbesserung der Versorgung zu beschreiben, aber gleichzeitig das „Patient*innengeheimnis und die ärztliche Schweigepflicht“ hervorzuheben und sichern zu wollen. Immerhin wird (neu) auch ein „medizinisches Registergesetz“ versprochen. Mit der „verbesserte Datenlage wollen wir auch den Gender-Health-Gap weiter schließen“. Außerdem setzen sich die Grünen bei der Organspende für die „Einführung einer Widerspruchsregelung“ ein und erklären schon im Wahlprogramm, dass bei dieser Entscheidung im Bundestag der Fraktionszwang aufgehoben werden soll.
Pflege
Auch bei der Pflege soll es viele Verbesserungen geben: Schon bisher soll, „wer die eigene Arbeitszeit für die Pflege reduziert, … finanzielle Unterstützung in Form eines zeitlich begrenzten Ausgleichs der entgangenen Einkünfte“ erhalten. Jetzt kommt hinzu: „Auch Beiträge für die Rente der pflegenden Angehörigen müssen übernommen werden. Die Leistung soll so ausgestaltet sein, dass mehrere Personen sich die Pflege teilen können.“ Wie an späterer Stelle erklärt wird, sollen diese Leistungen der Pflegeversicherung aus Steuermitteln finanziert werden.
Auch den Pflegekräften werden viele neue Versprechungen gemacht: „Wir wollen die Repräsentanz der professionellen Pflege im Gemeinsamen Bundesausschuss weiter stärken.“ Die Entwicklung neuer Bildungswege wird liebevoll ausgepinsel: von der „Pflegeassistenz bis hin zu akademischen Graden. Dazu gehört es, neue Rollen wie Advanced Practice Nurses (APN) und Community Health Nurses (CHN) auf Masterniveau zu etablieren.“ „Ziel ist eine starke berufsständische Vertretung der Pflege und eine hohe Tarifbindung in der Branche. Auch die Etablierung von Pflegekammern in allen Bundesländern sehen wir als wichtiges Selbstbestimmungsorgan der Berufsgruppe an.“ Schließlich wird ein wichtiges Problem neu aufgegriffen: „Bundesweit werden viele tausend Pflegebedürftige zu Hause von Frauen aus dem östlichen Europa (‚Live-Ins‘) betreut. Hierfür sorgen wir für eine rechtssichere Grundlage für die sog. 24-Stunden-Betreuung im familiären Bereich.“
Finanzierung
Im Abschnitt „Für eine solidarische Kranken- und Pflegeversicherung“ wird (zwar nicht ganz passend einsortiert, aber neu) erklärt: „Spekulation und hohe Renditeerwartungen, die zu Lasten der Versorgungsqualität gehen, sind im Gesundheits- und Pflegebereich fehl am Platz. Wir wollen daher das Prinzip der Gemeinwohnorientierung stärker etablieren und öffentliche und gemeinnützige Träger fördern, denn eine Profitorientierung birgt Risiken für die Versorgungsqualität und -sicherheit.“ Im Hinblick auf die investoren-betriebenen MVZs etc. soll „Transparenz über die Eigentumsverhältnisse“ hergestellt werden.
Wo es wirklich um die Finanzierung der Versicherungen geht, ist darauf hinzuweisen, dass der von Robert Habeck öffentlich angesprochene Punkt schon im Entwurf des Wahlprogramms und unverändert in der beschlossenen Fassung steht: „Die Beitragsbemessung werden wir reformieren und beispielsweise auch Kapitaleinnahmen zur Finanzierung unseres Gesundheits- und Pflegesystems heranziehen.“ Woher kommt daher die ganze Aufregung?
Neu ist dagegen: „Für Menschen ohne Wohnung, ohne Papiere und ohne oder mit ungeklärtem Versicherungsstatus werden wir den Zugang zur Versorgung vereinfachen, beispielsweise über anonyme Behandlungsscheine. Ein flächendeckender Ausbau der Clearingstellen sowie multiprofessionelle Teams für aufsuchende, niedrigschwellige Versorgung wohnungs- und obdachloser Menschen sind unerlässlich.“ Die Grünen lassen sich von der Linken, die das schon vorher im Programm hatte, in Sachen Menschenfreundlichkeit nicht toppen. Bei der schon im Entwurf geforderten „Wahlfreiheit für die Beamt*innen“ (zwischen GKV und PKV) „werden wir“ (neu) „insbesondere eine pauschale Beihilfe auch für Bundesbeamt*innen einführen.“ Das erscheint jedenfalls (wie bei der SPD) als eine sachgerechte Ergänzung.
Prävention
Im Abschnitt zur „vorausschauende[n] Gesundheitspolitik“ gibt es jetzt (neu) das Bekenntnis, alle „unsere Gesetzesvorhaben nach dem Prinzip des “Health in all Policies”-Ansatz [zu] prüfen“. Konkret dann: „Nach dem Grundsatz der Verhältnisprävention wollen wir Produzenten von gesundheitsschädlichen Produkten wie Tabak und Alkohol stärker an den enormen Folgekosten am Gesundheitssystem beteiligen und die Werbung für diese Produkte stärker regulieren.“ Außerdem will man die „Stärkung des Nichtraucher*innenschutzes“ und des öffentlichen Gesundheitsdienstes „durch ein eigenes Bundesinstitut“. „Sprachmittlung, auch mit Hilfe digitaler Anwendungen, [soll] Bestandteil des Fünften Sozialgesetzbuches (SGB V)“ werden. Auch die „Verbesserung der Gesundheitskompetenz“ ist ein „zentrales Anliegen“.
Auch zur Ergänzung der „seelischen Gesundheit“ ist den GRÜNEN noch viel eingefallen: „Wir brauchen ein Suizidpräventionsgesetz. … Psychosoziale Zentren für Geflüchtete werden wir stärken und das Recht auf Sprachmittlung verankern. Verhaltensgebundene Süchte nehmen unter anderem durch zusätzliche digitale Angebote wie z.B. Lootboxen zu. Vor allem um Kinder und Jugendliche besser zu schützen, müssen Produkte besser reguliert werden.“ Auch später kommt noch mal die Formulierung: „Den gesundheitsschädlichen Einfluss von Glücksspiel und süchtig machenden digitalen Angeboten insbesondere auf Kinder und Jugendliche möchten wir stärker in den Blick nehmen und wirksame Maßnahmen dagegen ergreifen.“
Schließlich will man ein „Gesundheitssicherstellungsgesetz“, um „auf Epidemien, Pandemien, große Katastrophen und militärische Bedrohungen besser“ vorbereitet zu sein. Speziell erwähnt werden z.B. Hitzeschutzmaßnahmen.
FDP
Auch bei der FDP ist man erst im Laufe der letzten Wochen zu einem ausführlicheren Text zur Gesundheits- und Pflegepolitik gekommen. So muss man das Wahlprogramm für den Parteitag am 9.2. in der erweiterten Fassung lesen, in die alle Elemente des Mitte Januar vom Parteivorstand verabschiedeten „Ergänzungspapiers“ aufgenommen worden sind. Dadurch hat sich das Volumen des Kapitels gegenüber der Fassung vom 17.12.2024 auf rund acht Seiten verdreifacht. Nachzutragen ist dabei, dass das Bekenntnis zum „dualen System“ aus GKV und PKV mit dem Satz ergänzt wird: „In beiden Versicherungssystemen wollen wir Wechsel- und Wahlfreiheit der Versicherten stärken.“
Ein Grundproblem ist beim FDP-Konzept, dass einerseits alle Budgetierungen fallen sollen („leistungsgerechte Vergütung der Gesundheitsberufe“), andererseits aber in „Zukunft die Ausgaben nicht stärker wachsen [sollen] als die Einnahmen“ (was faktisch einer Globalbudgetierung entspricht). Aus diesem Dilemma will man sich herauswinden, indem „zu jedem Jahresende … die Entwicklungen der Einnahmen sowie die der Ausgaben nach den jeweiligen Leistungsbereichen zu analysieren und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen [sind]. Eine entsprechende Regelung verankern wir im SGB V.“ Hier sind Zweifel angebracht, ob das gelingt. Und wenn man es dreimal ins SGB V schreibt.
Unausgegoren ist auch der im FAZ-Gespräch geäußerte Vorschlag zur Beitragsrückerstattung. Sie soll greifen, so Christian Dürr, „wenn jemand in einem Quartal nicht zum Arzt geht oder seine Rechnung dort selbst zahlt“. Dann „soll er einen Teil seines Beitrags erstattet bekommen“. Dabei wird weder die Größenordnung dieses „Teilbeitrags“ erwähnt, noch wird erklärt, wie sich die Rückerstattung finanzieren soll. Wenn jedoch nur ein kleinerer Betrag gemeint wäre, ginge es um die Umkehrung der Praxisgebühr. Ein Anreiz-Instrument, dessen Abschaffung die FDP im Wahljahr 2013 – schon da in größter Existenzangst – selbst betrieben hat. Ob der Vorschlag ihrer inversen Wiederbelebung überhaupt beim Wähler ankommt, ist zweifelhaft. Er operationalisiert zwar die von der FDP postulierte „Eigenverantwortung“ der Patienten, die ja (ordnungspolitisch) auch von der Union gefordert wird. Der Vorschlag ist aber zu offensichtlich als Notanker in letzter Minute erkennbar und daher nicht wirklich ernst zu nehmen.
BSW
Das BSW hatte (wie die AfD) seinen Wahlprogramm-Parteitag am 12.1. Es gibt im (nach wie vor kurzen) Gesundheitskapitel redaktionelle Retuschen, aber auch einen neuen Einstieg und (neue) strukturelle Forderungen. So wird bei den einzelnen Anliegen mit der Feststellung begonnen: „Gesundheitsversorgung beruht auf menschlichem Kontakt“. Zur Sicherung der „ärztlichen Schweigepflicht“ sollen sich dann „jegliche Bemühungen um eine Digitalisierung des Gesundheitswesens“ daran orientieren, „Vertrauen in die Versorgung zu schaffen“. Damit sollen wohl gewisse Ängste angesprochen werden.
Zur Finanzierung wird die Forderung nach der „Steuerfinanzierung von versicherungsfremden Leistungen“ jetzt explizit benannt. Bei der Einführung einer Bürgerversicherung wird als „Sofortmaßnahme“ die „Übertragung der Altersrückstellungen der PKV beim Anbieterwechsel“ gefordert. Das ist nicht ungeschickt. Es wird aber offen gelassen, ob nur der Wechsel zwischen PKV-Unternehmen oder auch der Wechsel zur GKV gemeint ist.
Neu ist ein Block zu strukturellen Konzepten. Darin wird nun allgemein erklärt, die in den „letzten Jahren verstärkte Privatisierung“ von Versorgungseinrichtungen müsse „zurückgedrängt werden“. Damit wird die Forderung des Entwurfs, Krankenhausprivatisierungen und das „Vordringen von Finanzinvestoren in Arztpraxen und MVZs“ zu stoppen, ersetzt. Auch die plakative Forderung, dass „Lauterbachs Krankenhausreform rückgängig gemacht werden“ muss, ist entfallen. Es gibt nur noch die Ablehnung von „Krankenhausschließungen“ und der „aktuelle[n] Krankenhausreform“, weil (nunmehr mit einer Begründung) der „ambulante Sektor die Versorgung nicht übernehmen kann und die Reform nicht in eine wirksame Entwicklungsperspektive eingebunden ist“. Da ist jedenfalls was dran.
Als konzeptionelles Framing wird „die Abschaffung der kostspieligen Trennung der verschiedenen Versorgungssektoren wie z.B. der ambulanten, Pflege- und stationären Versorgung“ gefordert, sowie die „Verstetigung der innovativen integrativen Versorgungskonzepte, die vor Ort bislang entwickelt wurden“. Der G-BA soll dafür Mindestanforderungen formulieren. In der beschlossenen Fassung fehlt außerdem die Forderung der Entwurfsfassung nach einer „strengeren Regulierung der Arzneimittelpreise“. Dass dieser linke „Klassiker“ entfallen ist, erscheint zumindest erstaunlich.
Am 5.2. hat das BSW kurz vor der Wahl ein „Entlastungsprogramm für Arbeitnehmer, Familien und Rentner“ mit einem 5-Punkte-Plan „für 100€ im Monat mehr“ nachgeschoben[4]. Die Senkung der Sozialbeiträge und eine „Finanzreform“ bei der GKV und der Pflegeversicherung stehen dort an erster Stelle. Die Forderungen des Wahlprogramms nach Einführung der Bürgerversicherung und Abschaffung des GKV-Zusatzbeitrags werden dabei konkretisiert. Die Bürgerversicherung soll als Einheitsversicherung funktionieren: „Alle Bürger zahlen in jeweils eine Kasse für Gesundheit, Pflege und Rente ein. Hier fordern wir auch eine Einzahlungspflicht für alle Mitglieder des nächsten Deutschen Bundestages und der nächsten Bundesregierung.“ Die Abschaffung des Zusatzbeitrags sollte „im Gegenzug“ mit der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenzen verbunden werden. „Das würde Durchschnittsverdiener um rund 45 Euro netto im Monat entlasten.“
Die Linke
Das Wahlprogramm der Linken hat eine klare Ausrichtung: „Unsere Leitlinie heißt: Wir gemeinsam gegen die da oben.“ In diesem Sinne gibt es ja so viel zu fordern, sodass das Wahlprogramm überhaupt nicht lang genug sein kann. Das gilt auch für das Gesundheitskapitel. Neu ist daher gleich am Anfang die Forderung: „Unsere solidarische Gesundheitsversicherung soll evidenzbasiert alle medizinisch sinnvollen Leistungen wie Zahnersatz, Brillen und Ibuprofen abdecken – erwiesenermaßen nutzlose Leistungen können wir uns hingegen sparen. Der Konkurrenzkampf zwischen den Kassen entfällt.“ Sowas hat man auch schon im BSW-Programm gelesen.
Die Forderungen nach mehr Pflegepersonal und besserer Bezahlung werden präzisiert: Gefordert wird die „Refinanzierung von Tarifverträgen“ (durch die Krankenkassen) und die „konsequente Umsetzung und Weiterentwicklung der Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0) und Sanktionen bei Nichterfüllung. Die Personalbemessung soll für alle medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Berufsgruppen verbindlich refinanziert und kontrolliert werden.“ Die Kritik an der Krankenhausreform (im Entwurf wurde sie nur als „halbherzig“ bezeichnet) wird schneidender: „Das Krankenhaus-Reformgesetz aus dem Hause Lauterbach verschärft den kalten Strukturwandel in der Kliniklandschaft. Das Sterben insbesondere von kleinen Krankenhäusern ist eingeplant und soll zur Hälfte auch noch mit Beiträgen der gesetzlichen Kassen finanziert werden.“
Für die ambulante Versorgung werden jetzt explizit „kommunale Versorgungszentren“ präferiert. Um zu verhindern, dass sich die Ärzte vor allem in „wohlhabenden Wohnlagen“ (mit hohem PKV-Anteil) niederlassen, müssen die „Versorgungsbezirke [der Bedarfsplanung] kleiner bemessen und von Ländern und Kommunen bestimmt werden.“ Bei der elektronischen Patientenakte wird nun Klartext geredet: „Die gefährlichen Lücken bei Datenschutz und Datensicherheit müssen unverzüglich geschlossen werden.“
Auch der Abschnitt zu „bezahlbaren Medikamenten“ wird erweitert: „Wir wollen die Forschung zu bislang vernachlässigten Krankheiten stärken. Darunter fallen nicht nur seltene Krankheiten, sondern beispielsweise auch ME/CFS und Long Covid bzw Post-Covid.“ Hierzu soll es mehr „Anlaufstellen“ geben, weniger Stigmatisierung der Betroffenen und mehr Forschungsgelder. „Wir wollen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz Lehren aus der Corona-Pandemie für die Gesundheitsförderung und den Infektionsschutz ziehen, zum Beispiel zu sauberer Luft in Innenräumen.“ Der Versuch von AfD, FDP und BSW, die Corona-Unzufriedenheit in Wählerstimmen umzumünzen, macht offensichtlich Schule.
Bei der Pflege wird die Absicht der Verstaatlichung privater „Pflegekonzerne“ ergänzt: „Wir wollen die ineffektive Struktur kleiner Pflegeanbieter, die häufig auch zu schlechten Arbeitsbedingungen führen, in effektivere öffentlich-gemeinnützige Strukturen überführen.“ Nunmehr wird auch explizit gemacht: „Die nicht von der Pflegeversicherung erfassten Heimkosten (Unterbringung und Verpflegung) wollen wir deckeln und die Bundesländer verpflichten, die realen Investitionskosten und Ausbildungskosten zu übernehmen. Kurzfristig muss das Schonvermögen erhöht werden.“
AfD
Die AfD hat sich im Gefühl ihres Höhenflugs lange Zeit gelassen: Erst Ende Januar, mehr als zwei Wochen nach ihrem Parteitag (12.1.2025) hat sie eine aktualisierte Version ihres Wahlprogramms auf ihre Website gestellt[5]. Die Passagen sind ein wenig umgruppiert, die „Finanzierung“ ist auf Seite 21f. vorgezogen worden. Das „Konzept für eine funktionierende Gesundheitspolitik“ kommt dann ab Seite 26ff. In diesem Gesundheitskapitel hat sich nur ganz wenig getan. Bei der Kritik der Krankenhausreform ist der Satz „Daneben lehnen wir eine weitere Privatisierung von Akutkrankenhäusern ab.“ weggefallen. Wie in einem Antrag ausgeführt, komme es auf die Qualität der Leistung, nicht auf den Träger an. Beim Abschnitt „Impfpflicht“ ist die Ablehnung verstärkt worden: „Daher setzen wir uns gegen jede Form von Impfpflicht oder Impfnötigung ein. Eine Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen, die eine Impfung ablehnen, darf es nicht mehr geben. Die faktische Masern-Impfpflicht für Kinder und Lehrpersonal wollen wir daher streichen.“ Bei der „Corona-Aufarbeitung“ kam die explizite Forderung nach einem „Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag“ hinzu.
Fazit
Offensichtlich schreiben die Parteien voneinander ab. Vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums (aber auch bei der FDP) gibt es einen Überbietungswettbewerb der gutgemeinten Versprechungen. Manche Themen darf man einfach nicht auslassen. Nach dem Prinzip „Viel hilft viel“.
Bei den zentralen Finanzierungsfragen gibt es Übereinstimmung nur bei den frommen Wünschen (Steuerfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen etc.). Bei den Kernthemen (Bürgerversicherung, Kostenbegrenzung, „Eigenverantwortung“ mit finanziellen Auswirkungen etc.) ist dagegen nach wie vor die klassische Lagerbildung festzustellen.
Bei anderen Themen gibt es tendenzielle Konvergenzen. Das gilt insbesondere für die Forderung nach einer besseren Steuerung in der ambulanten Versorgung, verbunden mit dem immer noch recht diffusen Begriff der „Primärversorgung“. Eine Annäherung ist aber auch im Bereich der Pflege zu verzeichnen. Das überkomplex gewordene Leistungssystem soll durch individuelle Pflegebudgets vereinfacht und nutzerfreundlich werden. Warten wir also ab, was daraus wird.
Aus dem Bereich der Krankenversicherung sei dazu nur eine prominente Stimme zitiert. Franz Knieps, der Vorstandsvorsitzende des BKK Dachverbandes, hat beim BMC-Kongress am 29. Januar prophezeit: Von dem, was in den Wahlprogrammen stehe, davon werde (in der ersten Hälfte der nächsten Wahlperiode) „nichts, aber auch gar nichts umgesetzt“. Es werde erst einmal „ein großes Erstaunen geben: Die Kassen seien ja leer. Wer hätte das gedacht!“ Der große „Kassensturz“ sei angesagt und unvermeidlich. „Meine Botschaft an den Gesetzgeber für die nächste Wahlperiode ist: Lasst uns in Ruhe!“ Man müsse endlich aufhören „diese kleinteiligen Regelungen zu machen“. Die Systemakteure müssten selbst die Lösungen finden. Und nichts mehr von der Politik erwarten, und schon gar nicht noch weitere Regulierungen fordern.
[1] So der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr im Gespräch mit der F.A.Z. (08.02.2025). So solle die Eigenverantwortung in der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt werden und die Arztpraxen von unnötigen Terminen entlastet werden. Vorbild seien entsprechende Regelungen in der PKV. https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/fdp-fraktionschef-duerr-verspricht-geld-zurueck-fuer-krankenversicherte-110282588.html
[2] Dieser Artikel knüpft an die „Überlegungen“ des Autors „zu den Wahlprogrammen 2025“ – Observer Gesundheit vom 14.1.2025 an.
[3] Zitiert nach „BESCHLUSS (VORLÄUFIG) Kapitel 2: Einfach dabei sein – fair und bezahlbar“, https://cms.gruene.de/uploads/assets/WP-01-K2_Kapitel_2_Einfach_dabei_sein__fair_und_bezahlbar.pdf (zuletzt abgerufen am 02.02.2025, 18 Uhr).
[4] https://bsw-vg.de/das-bsw-entlastungsprogramm-fuer-arbeitnehmer-familien-und-rentner/
[5] https://www.afd.de/wp-content/uploads/2025/02/AfD_Bundestagswahlprogramm2025_druck.pdf
Lesen Sie vom Autor zu diesem Thema auch:
„Populäre Vorschläge – Hypothek künftiger Gesundheitspolitik“, Observer Gesundheit, 7. Februar 2025,
„Überlegungen zu den Wahlprogrammen“, Observer Gesundheit, 14. Januar 2025.
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