Gesundes-Herz-Gesetz – mehr Fehlversorgung geht kaum

Prof. Dr. Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Trotz massiver Kritik hat das Bundeskabinett die umstrittenen Pläne zum „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG) verabschiedet. Eine gesundheitspolitische Fehlentscheidung. Das geplante Gesetz verspielt eine große Chance: Statt echter Prävention zielen die Pläne vor allem auf nicht-evidenzbasierte Screening-Instrumente und verstärkte Medikalisierung ab.

Die komplexe Aufgabe einer nachhaltig wirksamen Prävention bleibt unbearbeitet. Dieses Gesetz wird die Symptome unseres kränkelnden Gesundheitswesens noch weiter verstärken. Die Datengrundlage für die geplanten Regelungen ist bestenfalls zweifelhaft.

 

Geburtsfehler des Gesetzes

Schon die Ausgangsbasis für den Gesetzesentwurf ist problematisch: Aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) war in den letzten Monaten immer wieder zu hören, dass Deutschland bei der Lebenserwartung knapp unter dem europäischen Durchschnitt liege und hinsichtlich der kardiovaskulären Mortalität besonders schlecht abschneide. Fakt ist aber: Hierfür gibt es keine belastbaren Daten. Denn die Arbeiten, die immer wieder als Beleg für eine angeblich hohe kardiovaskuläre Sterblichkeit in Deutschland angeführt werden, weisen erhebliche Limitationen auf. Für Deutschland können wir höchstens sagen, dass sich die kardiovaskulären Todesfälle in den vergangenen Jahren fast um die Hälfte reduziert haben – für einen internationalen Vergleich haben wir keine belastbaren Daten. Mit anderen Worten: Das grundlegende Problem, das mit diesem Gesetzentwurf behoben werden soll, basiert auf einer wissenschaftlich nicht abgesicherten Behauptung.

 

Mehr Früherkennung, mehr Medikamente

Lebensstilfaktoren und damit die Primärprävention spielen gerade bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen (KHK) eine entscheidende Rolle, was im Gesetzesentwurf auch einleitend festgestellt wird. Allerdings werden die falschen Schlüsse gezogen. Statt Primärprävention setzt das GHG vor allem auf mehr Früherkennung und auf eine Senkung der Lipidwerte.

Im Einzelnen heißt das: Einführung eines systematischen Screenings auf familiäre Hypercholesterinämie im Kindes- und Jugendalter. Für ein solches Screening gibt es allerdings keine belastbare Evidenz. In den Ländern mit deutlich besseren Mortalitätsdaten wird es nicht durchgeführt. Zu dieser Einschätzung ist im Übrigen auch das IQWiG gekommen, das zwei Tage (!) vor dem Kabinettsbeschluss empfohlen hatte, stattdessen einem Kaskadenscreening den Vorzug zu geben, das von betroffenen Angehörigen ausgeht. Gute Idee: Es sollen also nicht alle gescreent werden, sondern die Richtigen. Eine Empfehlung, die die DEGAM schon vor einem Jahr ausgesprochen hat.

Auch für Erwachsene soll es flächendeckend neue Untersuchungen geben: Im Alter von 25, 35 und 50 sollen Versicherte einen Anspruch auf Check-ups zur Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben. Aber auch hier: Für eine Ausweitung von Check-Ups gibt es keinerlei Nutzenbelege. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass mit Check-ups in erster Linie Menschen erreicht werden, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben. In der Konsequenz heißt das: Diese gesunden Menschen werden nun verstärkt in die Praxen strömen, um sich ihre Gesundheit ärztlich bestätigen zu lassen. Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, die oft hohe Gesundheitsrisiken haben, werden mit solchen Angeboten kaum erreicht, wie auch ein Cochrane-Review von 2019 gezeigt hat.

Neben der Ausweitung der Früherkennung soll die medikamentöse Prävention ausgebaut werden. Die Festlegung der Schwellenwerte zur Verordnungsfähigkeit von Lipidsenkern wird als Prüfauftrag an den G-BA gehen. Eine pauschale Senkung von Grenz- und Schwellenwerten wäre das Gegenteil einer individuellen, gemeinsamen Entscheidungsfindung, bei der vor allem das persönliche Risiko (z.B. über einen Risiko-Rechner) ermittelt und besprochen wird. Bei Rauchern beispielsweise senkt kein Statin das Gesamtrisiko so effektiv wie ein Rauchstopp.

Die geplanten Regelungen (von der geplanten massiven Ausweitung der Disease Management Programme mal ganz zu schweigen) werden die ohnehin knappen finanziellen und personellen Ressourcen binden, die dann für dringendere und effizientere Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Die Unterversorgung in bestimmten Bereichen wird steigen. Ein klassischer Fall von Über-, Unter- und Fehlversorgung – und das, wo die primärärztlichen Praxen sowieso schon seit Jahren am Limit arbeiten.

 

Ressourcen anders nutzen

Obwohl schon lange bekannt ist, dass sozial Benachteiligte ein überdurchschnittlich hohes Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis (z. B. Herzinfarkt) haben, bleibt gerade diese Gruppe in den Vorschlägen des BMG mal wieder außen vor.

Deutschland muss in der Verhältnisprävention endlich aufholen. Länder, die stärker auf Public-Health-Konzepte setzen, machen uns schon lange vor, wie das aussehen kann: Besteuerung zuckerhaltiger Getränke, Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel und Tabak, mehr Hilfe beim Suchtentzug, mehr Schul- und Breitensport, mehr Schwimmbäder, gesundes Kita- und Schulessen, Stärkung der Gesundheitskompetenz vom Kindergarten bis ins Seniorenalter. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Das muss unser Ziel sein: Gesundes Verhalten muss einfacher und billiger, ungesundes teurer werden. Natürlich kann das BMG diese komplexen Aufgaben nicht allein umsetzen, aber dieser Weg wäre definitiv der richtige.

 

 

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Prof. Dr. Jürgen Windeler: „GHG – Neues vom Schminktisch“, Observer Gesundheit, 30. August 2024.


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