Geriatrische Versorgung bedarfsorientiert und demografiefest gestalten

Dirk van den Heuvel, Geschäftsführer des Bundesverbandes Geriatrie e.V.

Krankenhausreform und demografischer Wandel rücken die geriatriespezifische Versorgung mehr und mehr in den Fokus. Um sie bedarfsorientiert zu gestalten, ist eine sachgerechte Versorgung geriatrischer Patientinnen und Patienten in allen Sektoren und auf allen Versorgungsleveln bzw. -stufen hinweg notwendig. 

Finanzielle Entwürfe müssen auf diese Anforderung abgestimmt sein und die demografische Entwicklung sachgerecht aufgreifen. Doch es gibt Konzepte für eine Altersmedizin, die der wachsenden Anzahl betagter und hochbetagter Menschen in der Gesundheitsversorgung ebenso gerecht werden wie den versorgungspolitischen Herausforderungen.

Was sind die speziellen Merkmale der geriatrischen Klientel? Im Gegensatz zu anderen Patientengruppen weisen betagte und hochbetagte Menschen regelhaft mehrere Erkrankungen beziehungsweise gesundheitliche Einschränkungen gleichzeitig auf (Muth und van den Akker 2021). Dazu gehören verminderte körperliche und/oder kognitive Leistungsfähigkeit, latente oder manifeste Funktionseinschränkungen plus im Lauf der Zeit erworbene chronische Erkrankungen. Hinzu kommen altersbedingte akute Krankheiten oder Unfälle (beispielsweise Stürze). Oftmals wird diese Multimorbidität ergänzt durch höhere Gebrechlichkeit und verringerte Belastbarkeit (Sieber und Kruse 2021). Aus diesen Gründen stellt die Altersmedizin nicht die einzelne gesundheitliche Einschränkung in den Mittelpunkt der Behandlung, sondern die Gesamtheit der gesundheitlichen Defizite eines älteren Menschen.

Auf der Basis der multidimensionalen Diagnosestellung übernimmt ein multiprofessionelles Team gemeinsam die Behandlung. Ein solches Behandlungsteam besteht aus geriatriespezifisch ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten, entsprechend weitergebildeten Pflegefachpersonen, Therapeutinnen und Therapeuten, (Neuro-)Psychologinnen und -Psychologen sowie dem Sozialdienst. Im Mittelpunkt steht die Zielsetzung, wieder eine möglichst selbstständige Lebensführung zu erreichen. Auch Vorsorgeaspekte spielen dabei eine immer größere Rolle. Darauf aufbauend erfolgt die individuelle medizinische Intervention in Verbindung mit (früh)rehabilitativen Maßnahmen.

 

Multimorbidität und Gebrechlichkeit im Fokus

Die größtmögliche Selbstständigkeit und Teilhabe älterer Menschen wiederherzustellen beziehungsweise zu erhalten, geht einher mit dem Ziel, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden beziehungsweise so weit wie möglich zu vermindern. Im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes spielen dabei frührehabilitative Maßnahmen eine zentrale Rolle.  Im Bereich der Rehabilitation gibt es zudem die geriatrische Rehabilitation als eigenständige Reha-Indikation. In diesem Setting kann auch der gesetzliche Auftrag „Reha vor und bei Pflege“ sachgerecht umgesetzt werden, der im Sozialgesetzbuch verankert ist.

Es handelt sich also um einen multiprofessionellen Ansatz, für den besondere Versorgungsstrukturen benötigt werden. Dafür wurden in den letzten Jahrzehnten sowohl im Krankenhausbereich als auch in der Rehabilitation geriatriespezifische Versorgungsstrukturen entwickelt und ausgebaut. So existieren aktuell .

  • Kliniken für Geriatrie mit einem stationären akutmedizinischen und frührehabilitativen Leistungsangebot sowie
  • stationäre geriatrische Rehabilitationskliniken.

Daneben gibt es bundesweit ein nicht-stationäres Versorgungsangebot. Dazu gehören:

  • Tageskliniken als Teil der akutmedizinischen Versorgung an Krankenhäusern sowie
  • Einrichtungen der ambulanten und
  • mobilen geriatrischen Rehabilitation.

 

Stationäre geriatrische Versorgungsstrukturen

Wie sieht die aktuelle Situation in der Altersmedizin aus? Das Statistische Bundesamt (Destatis) erhebt regelmäßig die Anzahl der geriatrischen Einrichtungen, die mit einer eigenen Strukturdatenerhebung des Bundesverbandes Geriatrie ergänzt wird. Dass zwischen beiden Erhebungen Abweichungen entstehen, ist möglicherweise der Tatsache geschuldet, dass die Altersmedizin in den Bundesländern unterschiedlich konzeptionell strukturiert ist. Dabei muss man bedenken, dass „Geriatrie“ kein geschützter Begriff ist und von einzelnen Einrichtungen hinsichtlich struktureller Anforderungen durchaus sehr „eigenständig“ interpretiert wird. Dies ist u.a. der Grund, warum der Bundesverband Geriatrie ein sehr umfassendes Aufnahmeverfahren hat, bei dem ein ca. 30-seitiger Fragebogen als Selbstbewertung ausgefüllt werden muss. Diese Angaben werden bei einer Visitation vor Ort überprüft und abschließend muss ein verbandsseitiger Personalschlüssel nachgewiesen werden. Zudem werden jährlich acht Bestandsmitglieder ausgelost, die sich ebenfalls dieser Überprüfung unterziehen müssen. In dieser Art dürfte das Aufnahmeverfahren für einen Verband mit freiwilliger Mitgliedschaft einzigartig sein.

Der Bundesverband Geriatrie verfügt durch seine rund 400 Mitglieder – Kliniken für Geriatrie, Tageskliniken sowie stationäre, ambulante und mobile geriatrische Rehabilitationseinrichtungen – sowie seine Landesverbände über konkrete Zahlen, die vor Ort erhoben werden und nach Ansicht des Verbandes die Situation realistisch darstellen.

In seiner jüngsten Statistik aus dem Jahr 2019 – also vor Beginn der Corona-Pandemie – führt Destatis insgesamt 358 Kliniken für Geriatrie an Krankenhäusern mit einer Gesamtkapazität von 19.137 Betten. Die Erhebung des Bundesverbandes Geriatrie weist zum identischen Stichtag mit 476 Einrichtungen und 23.297 Betten eine deutliche Differenz auf. Bei den geriatrischen Rehabilitationskliniken verzeichnet Destatis 145 Häuser mit 8.176 Betten. Ergänzt um die Erkenntnisse des Bundesverbandes Geriatrie waren es insgesamt 168 Einrichtungen mit 8.563 Betten. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die Erhebungen im Vergleich plus die Verteilung der Einrichtungen auf die Bundesländer.

 

 

Abbildung 1: Übersicht der Krankenhäuser mit geriatrischen Fachabteilungen in Deutschland. Quelle: Verzeichnis der Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen 2019, Destatis 2019, Datenerhebung durch Bundesverband Geriatrie, © Bundesverband Geriatrie

 

 

 

Abbildung 2: Übersicht der geriatrischen Rehabilitationskliniken in Deutschland. Quelle: Verzeichnis der Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen 2019, Destatis 2019, Datenerhebung durch Bundesverband Geriatrie, © Bundesverband Geriatrie

 

Aktuellere Zahlen liefert eine Erhebung des Bundesverbandes Geriatrie vom September 2023. Sie zeigt, dass im stationären Bereich der Umfang der zur Verfügung stehenden Bettenkapazitäten im Vergleich zur Zeit vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder das gleiche Niveau erreicht hat. Ein wichtiger Faktor ist dabei der Fachkräftemangel. Die altersmedizinische Versorgung ist deutlich personalaufwendiger als viele andere medizinische Disziplinen, vor allem beim pflegerischen und therapeutischen Dienst. Unter anderem diese Personalintensität bewirkt in Zeiten der Konkurrenz um das verfügbare Personal im Vergleich zu anderen Indikationsbereichen einen besonderen Druck. Zumeist kann dieser nicht durch zusätzliche wirtschaftliche Anreize ausgeglichen werden, da weder das DRG-System und noch weniger die entsprechenden Tagessätze im Rehabereich Spielräume lassen. Insbesondere im Bereich der Rehabilitation waren bereits vor Corona die meisten Tagessätze nicht kostendeckend, sodass sich nach Corona die wirtschaftliche Situation hier noch einmal dramatisch verschärft hat.

Dabei ist der Personalmangel als solcher ja kein geriatriespezifisches Problem. Im gesamten Gesundheitswesen werden derzeit vielfältige Konzepte diskutiert und erprobt, um sowohl ärztliches Personal als auch Therapeutinnen und Therapeuten sowie Pflegefachpersonen zu finden und dauerhaft zu binden. Einen Königsweg wird es hier wohl nicht geben, aber es zeichnet sich ab, dass bessere Arbeitsstrukturen, ein modernisiertes Schichtsystem sowie angemessene Vergütung wichtige Bausteine auf dem Weg zu einer ausreichenden Personaldecke sein werden.

 

Geriatrische Versorgung und Krankenhausreform

Wer dieser Tage über geriatriespezifische Versorgung nachdenken will, befasst sich vor allem mit dem Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG). Seit Dezember in Kraft, muss es nun im Bund und in den Ländern umgesetzt werden. In die Altersmedizin haben die neuen Regelungen für die Gestaltung der Leistungsgruppe Geriatrie Unruhe gebracht. Denn durch eine redaktionelle Unrichtigkeit der personellen Ausstattung in den Kategorien „Qualifikation“ und „Verfügbarkeit“ würde die bis dato etablierte, bewährte geriatriespezifische Versorgung unmöglich. Die gute Nachricht ist, dass es seitens der Politik erklärtermaßen keine Absichten gibt, die Geriatrie abzuschaffen. Insofern ist derzeit eine (Übergangs-)Lösung gefragt, die allerdings durch den Bruch der Ampel-Koalition erschwert ist. Der politische Wille zur Änderung des Gesetzes ist gegeben, der Weg dorthin ist jedoch durch die anstehende Bundestags-Neuwahl eine große Herausforderung.

Was die Ärzteschaft betrifft, so ist neben der sachgerechten Ausformulierung der Qualifikation innerhalb der Leistungsgruppendefinition auch die Frage zu diskutieren, wie viele Geriaterinnen und Geriater zukünftig für die Versorgung zur Verfügung stehen. Denn nicht nur bei den Patientinnen und Patienten, auch innerhalb der Ärzteschaft macht sich der demografische Wandel bemerkbar. Die Geriatrie steht hier vor einer doppelten Herausforderung, was sie von den meisten anderen Fachbereichen unterscheidet. Dass ausscheidende Ärztinnen und Ärzte bzw. das entsprechende Fachpersonal ersetzt werden müssen, betrifft alle Bereiche der Medizin. In der Geriatrie gibt es jedoch – demografiebedingt – schon in den kommenden fünf bis 15 Jahren einen erheblichen Anstieg der Fallzahlen. Es muss also nicht nur das ausscheidende Personal ersetzt werden. Vielmehr besteht die Herausforderung, die Kapazitäten vor dem aktuellen Fachkräftemangel auszubauen. Dieser Mehrbedarf an Fachpersonal stellt ein wichtiges und äußerst herausforderndes Unterscheidungsmerkmal da.

Deshalb muss es sehr kurzfristig eine Art „Ausbildungsoffensive“ geben, wenn der geriatriespezifische Versorgungsbedarf ansatzweise sachgerecht strukturell abgebildet werden soll. Ansonsten werden wir erleben, dass die betagten und hochbetagten Menschen ihren Anspruch auf eine fachspezifische Versorgung im hohen Alter nicht mehr werden einlösen können – mit allen persönlichen Folgen für die betroffenen Menschen und den gesamtgesellschaftlichen Folgen hinsichtlich der Sozialversicherungssysteme. So gibt es belastbare Berechnungen, dass die Leistungen der Geriatrie insbesondere die Pflegeversicherung deutlich entlasten können. Vor dem Hintergrund der schon heute prekären finanziellen Situation der gesetzlichen Pflegeversicherung ein wichtiger Faktor.

 

Hohe Wartezeiten, fehlende Kapazitäten

Auf der Seite der Patientinnen und Patienten spiegelt sich der steigende Bedarf in den Wartezeiten wider, bevor Behandlungsbedürftige in Geriatrien aufgenommen werden können. Bei der letzten Erhebung bestand bei rund zwei Drittel der Einrichtungen diese sehr kritische Situation, die mehrere negative Effekte hat: So können die Betroffenen nicht ihren Anspruch auf eine medizinisch sachgerechte Behandlung umsetzen, und ihnen wird die Chance genommen, Pflegebedürftigkeit zu vermeiden beziehungsweise zu verringern. Darüber hinaus wird der sozialrechtlich verbriefte Teilhabeanspruch verwehrt.

Zudem ist die Entlassung der Patientinnen und Patienten in eine Anschlussheilbehandlung problematisch: Aufgrund der fehlenden Kapazitäten geben drei Viertel der Kliniken für Geriatrie an, für die überwiegende Zahl der Fälle zeitnah keinen geriatriespezifischen Rehabilitationsplatz zu finden. Damit ist nach der Corona-Pandemie der seit dem Jahr 2000 gesetzlich fixierte Anspruch auf eine geriatriespezifische Versorgung erstmals ernsthaft in Gefahr.

Einer der großen Trends in der medizinischen Versorgung ist die Verlagerung stationärer Leistungen in den ambulanten oder den teilstationären Sektor. Er beruht nicht nur darauf, dass Patientinnen und Patienten einen längeren Aufenthalt im Krankenhaus vermeiden möchten. Vielmehr verfolgt auch die Sozialgesetzgebung den Grundsatz „ambulant vor stationär“. Zwar ist der Umfang nicht vollstationär erbrachter geriatrischer Leistungen derzeit noch gering und das entsprechende Potenzial angesichts des oben beschrieben Versorgungsbedarfs und des daraus abzuleitenden Versorgungsansatzes im Vergleich zu anderen Fachbereichen weniger ausgeprägt. Doch zeigt sich auch hier eine wachsende Nachfrage: Von 2013 bis 2019 ist die Zahl der geriatrischen Tageskliniken um 28 Einrichtungen (+ 19 Prozent) und die Platzzahl um insgesamt 547 Plätze gestiegen (siehe dazu Tabelle 3).

Rund 36 Prozent der Mitgliedseinrichtungen des Bundesverbandes Geriatrie mit einer geriatrischen Rehabilitationsklinik hatten im Jahr 2019 Angebote im Bereich der ambulanten oder der mobilen geriatrischen Rehabilitation. Rund 50 Prozent der Kliniken für Geriatrie im Verband hielten im Jahr 2019 auch tagesklinische Kapazitäten vor. Dabei gab es in den Einrichtungen, die eine Tagesklinik für Geriatrie beziehungsweise ambulante geriatrische Rehabilitation vorhielten, durchschnittlich rund 15 tagesklinische beziehungsweise rund 14 ambulante geriatrische Plätze.

 

 

Abbildung 3: Entwicklung der geriatrischen Tageskliniken im Krankenhaus 2013 bis 2019. Quelle: Destatis Grunddaten der Krankenhäuser 2013 bis 2019, © Bundesverband Geriatrie

 

Auch im ambulanten Bereich des Rehabilitationssektors ergibt sich vor dem Hintergrund der demografischen Bevölkerungsentwicklung eine wachsende Nachfrage. Allerdings ist der Anteil ambulanter Fälle an der Gesamtzahl aller geriatrischen Rehabilitationsfälle der GKV bereits in der Vergangenheit sehr gering gewesen und verbleibt auf diesem niedrigen Niveau relativ konstant. Doch durch den insgesamten Anstieg in den Jahren 2014 bis 2019 ergibt sich auch bei den ambulanten Fallzahlen eine Steigerung um rund 19 Prozent.

Daneben gibt es seit dem Jahr 2015 Geriatrische Institutsambulanzen (GIA). Sie werden durch die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung (KV) zugelassen, um geriatriespezifische Versorgungsengpässe im Bereich der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte auszugleichen. Geriatrische Fachkrankenhäuser, Allgemeinkrankenhäuser mit geriatrischen Fachabteilungen sowie Krankenhausärztinnen und Krankenhausärzte können – sofern ein entsprechendes Versorgungsdefizit besteht – von den Zulassungsausschüssen der KVen zu einer strukturierten und koordinierten ambulanten geriatrischen Versorgung der Versicherten ermächtigt werden.

Ähnlich wie die anderen Versorgungsformen zeigt auch die Entwicklung der GIA ein heterogenes Bild. Nach einem zunächst dynamischen Auf- und Ausbau der Versorgung stagniert diese Entwicklung mittlerweile. Zwischen 2016 und Ende 2018 stieg die Zahl der zugelassenen GIA von 15 auf 42, seitdem ist ein weiterer Anstieg nur noch in vereinzelten KV-Regionen zu beobachten. Im Jahr 2020 standen deutschlandweit insgesamt 46 GIA zur Behandlung geriatrischer Patientinnen und Patienten zur Verfügung. Dies zeigt, dass heute eine flächendeckende Versorgung mit geriatriespezifisch qualifizierten niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten nicht gegeben ist. Diese wären wichtig, um Hausärztinnen und -ärzte bei spezifischen geriatrischen Fragestellungen gezielt zu unterstützen. Denn sie sind die zentralen Ansprechpersonen hochaltriger Patientinnen und Patienten und daher die regelhaften Begleiter dieser Patientengruppe.

 

Steigender Bedarf erfordert mehr Kapazitäten

Unabhängig davon, dass die Anzahl der geriatriespezifischen Betten je nach Datenbasis unterschiedlich ausfällt, muss der zukünftige Bedarf an Behandlungskapazitäten sinnvoll geplant werden. Dafür gelten aus Sicht des Bundesverbandes Geriatrie als konkrete Orientierungsgrößen:

  • die Anzahl der Betten je 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner über 70 Jahre
  • der medizinisch-technische Fortschritt mit neuen Therapien und Operationen
  • der demografische Wandel mit geschätzt deutschlandweit 17,2 Millionen Menschen ab 70 Jahren bis zum Jahr 2030
  • die Patientinnen und Patienten anderer Fachdisziplinen und ihre zukünftig weiter steigenden Fallzahlen, die altersmedizinisch versorgt werden müssen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Versorgungsplanung muss die Erreichbarkeit in Wohnortnähe sein, die mit der Altersverteilung zu korrelieren ist. So ist beispielsweise in den östlichen Bundesländern und im Norden von Deutschland der Anteil der über 70-Jährigen deutlich höher als in den anderen Bundesgebieten.

Der Bundesverband Geriatrie arbeitet bereits seit einigen Jahren an nachhaltigen Versorgungskonzepten für die Altersmedizin. So beschlossen seine Mitglieder 2018 ein erstes bundeseinheitliches Geriatriekonzept, das im Jahr 2022 weiterentwickelt wurde. Grundgedanke ist, die Geriatrie weiterhin als Teil der Grundversorgung anzusehen und die flächendeckende Versorgung bundesweit auf der Basis einheitlicher Kriterien regelhaft zu planen und sicherzustellen. Dazu wurden mit Clustern und Fahrtzeitradien zunächst bundesweit einheitliche Planungsgrößen definiert. So sieht das Konzept eine Klinik für Geriatrie in jedem Landkreis und in kreisfreien Städten (beziehungsweise der vergleichbaren Planungsgröße in einem Stadtstaat) vor. Darüber hinaus muss bundesweit innerhalb eines Fahrtzeitradius von 25 Minuten mindestens eine Klinik für Geriatrie erreichbar sein. Aktuell wird im Verband geprüft, inwieweit der Ansatz auf die Fahrzeitradien der Krankenhausreform angepasst werden kann.

Im Bereich der geriatriespezifischen Rehabilitation sieht das Konzept einen Fahrtzeitradius von 45 Minuten als Planungskriterium vor. Auf einen Bezug zu Landkreis, Stadt etc. wird vor dem Hintergrund des etwas anders gelagerten Versorgungsauftrags der Rehabilitation verzichtet. Die räumliche Planung wird im Konzept um klare Kapazitätsplanungskriterien ergänzt. Sie resultieren aus den in den letzten drei Jahrzehnten gesammelten Verbandserfahrungen – im Sinne der „evidenzbasierten Praxis“. Dabei gibt es einen eindeutigen Bevölkerungsbezug, indem ein Verhältnis von Betten beziehungsweise Plätzen je 10.000 Einwohner über 70 Jahre angegeben wird. Im Krankenhausbereich werden zukünftig mindestens 38 Betten je 10.000 Einwohner über 70 Jahre benötigt, für den Rehabilitationsbereich gelten 12 Betten je 10.000 Einwohner über 70 Jahre als Planungsziel.

Im Rahmen der Krankenhausreform hat der Gesetzgeber kürzlich einige wichtige Planungsparameter bundesweit normiert und die Geriatrie u. a. im Rahmen der sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen nach § 135e SGB V als Teil der Grund- und Regelversorgung gesetzlich verankert. Auch wenn er damit einer wesentlichen Forderung des Bundesverbandes Geriatrie nachkommt, gilt es sicherzustellen, dass die Geriatrie als eigenständiger Leistungsbereich über alle Versorgungslevel hinweg – und nicht ausschließlich auf dem so genannten Level Ii – verankert ist. Aufgrund der geriatrietypischen Multimorbidität bzw. Gebrechlichkeit muss sichergestellt sein, dass bei einer akutmedizinischen Versorgung eines betagten bzw. hochbetagten Menschen jeder behandelnde Indikationsbereich unmittelbar mit dem Fachbereich Geriatrie medizinisch-fachlich und organisatorisch-strukturell zusammenarbeiten kann. Dies ist nur effizient möglich, wenn die Geriatrie als eigenständiger Leistungsbereich über alle Krankenhaus-Versorgungslevel (In bis IIIU) hinweg regelhaft für die Übernahme der Patientinnen und Patienten bzw. zur Kooperation zu Verfügung steht.

 

Neues Versorgungskonzept: Ambulantes Geriatrisches Zentrum (AGZ)

Weitreichende Veränderungen sieht das Konzept im Bereich der nicht-stationären Versorgung durch die Einführung von sogenannten Ambulanten Geriatrischen Zentren (AGZ) vor. Hier werden die bisherigen Tageskliniken (TK), ambulante Rehabilitationseinrichtungen (AGR), mobile geriatrische Rehabilitationseinrichtungen (MGR) und gegebenenfalls auch Geriatrische Institutsambulanzen (GIA) organisatorisch sowie medizinisch-inhaltlich zusammengelegt. Die heute getrennten Leistungen werden so zu einer neuen komplexen und integrativen Leistungsart zusammengeführt, damit zukünftig bedarfsbezogen die verschiedenen Inhalte der einzelnen Versorgungsleistungen frei kombiniert werden können. So kann der Bereich zwischen der stationären Versorgung und der Tätigkeit der niedergelassenen Ärzteschaft geriatriespezifisch und integrativ ausgestaltet werden.

Damit ist eine echte integrierte Versorgungsstruktur konzeptionell definiert. Personell wird die neue Einrichtung mit dem ärztlichen, therapeutischen und Pflegepersonal aus jenen Einrichtungen ausgestattet, aus denen das AGZ hervorgegangen ist. Für neue Einrichtungen beziehungsweise sofern gegebenenfalls zusätzliches Fachpersonal notwendig ist, werden diese wie für stationäre Strukturen auch auf dem Personalmarkt angeworben.

Im AGZ findet unmittelbar ärztliche beziehungsweise therapeutisch-pflegerische Versorgung der Patientinnen und Patienten statt, wie sie bisher in einer der genannten Versorgungsformen erbracht wurde. Es werden jedoch nicht nur die genannten Versorgungsformen „einfach“ institutionell unter einem Dach zusammengeführt. Vielmehr werden die einzelnen Leistungsinhalte zu einer Leistung vereint, in der die bisherigen Formen der Leistungserbringung frei kombinierbar sind.

Die freie inhaltliche Kombinierbarkeit der verschiedenen Leistungen bringt einen versorgungspolitischen Mehrwert, sodass viele geriatrische Patientinnen und Patienten hier optimal versorgt werden können. Denn es ist oftmals sehr sinnvoll, bestehende tagesklinische Therapieeinheiten mit beispielsweise einer geringen Anzahl an Einheiten mobiler Rehabilitation zu kombinieren und auf diese Weise den Therapieerfolg in der häuslichen Umgebung zu festigen.

Eine weitere Kernaufgabe des AGZ ist die geriatriespezifische Unterstützung der niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte im Sinne eines Geriatrieboards bzw. einer geriatrischen Fallbesprechung. Denn als meist langjährige Begleiterinnen und Begleiter der hochbetagten Patientinnen und Patienten sollen sie die „Basisversorgung“ weiter übernehmen und gleichzeitig altersmedizinisch qualifizierte Unterstützung durch das AGZ erhalten.

Darüber hinaus können bei Bedarf dem AGZ zukünftig weitere Aufgaben zugeordnet werden. Die strukturellen und inhaltlichen Grundvorgaben dafür könnten bundesweit einheitlich definiert werden. Die zuständigen Ministerien in den Bundesländern könnten regional entscheiden, ob die optionalen Aufgaben in den verschiedenen Regionen angeboten werden sollen oder nicht. Dazu gehören beispielsweise Case- und Care-Management oder niederschwellige Angebote für geriatriespezifische Präventionsmaßnahmen.

Ein AGZ bietet also geriatriespezifische, nicht-vollstationäre Versorgung, die bundesweit flächendeckend gesichert sein muss, um die verbrieften und sozialgesetzlich begründeten Rechte der Patientinnen und Patienten auf eine abgestufte Versorgung zu erfüllen. Der jeweilige geografische Einzugsbereich eines AGZ wird stark vom Gepräge des Sozialraums abhängen beziehungsweise die jeweilige Bevölkerungsdichte widerspiegeln. Grundsätzlich ist mindestens ein AGZ innerhalb eines Fahrtzeitradius von 45 Minuten vorzusehen.

Ein AGZ sollte an eine Klinik für Geriatrie oder geriatrische Rehabilitationsklinik angegliedert sein. Für Regionen, in denen diese räumliche Nähe nicht gegeben ist oder als nicht sinnvoll erscheint, muss eine Kooperation mit einer stationären Geriatrie bestehen („Satelliten-AGZ“). Vor dem Hintergrund des Fahrtzeitradius und bei 106 kreisfreien Städten sowie 294 Landkreisen ist von einem Bedarf von etwa 350 bis 450 AGZs auszugehen.

 

Schnittstellenproblematik überwinden

Die bestehenden Strukturen bilden eine gute Ausgangsbasis für den zukünftigen bedarfsgerechten Ausbau des Versorgungsangebotes. Wichtig ist, dass der Zugang zu den Leistungen des AGZ niederschwellig ausgestaltet ist, also ohne ein vorgeschaltetes Antragsverfahren. Nur so können die positiven Versorgungseffekte erreicht werden. In der Umsetzung der Krankenhausreform schlägt der Bundesverband Geriatrie eine An- bzw. Einbindung ambulanter Geriatrischer Zentren an bzw. in die Level-Ii-Krankenhäuser vor. Denn vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung ist zu erwarten, dass die überwiegende Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer der Level-Ii-Einrichtungen betagte und hochbetagte Patientinnen und Patienten sein werden. Somit ist es versorgungspolitisch notwendig, auch für die Level-Ii-Einrichtungen eine regelhafte und strukturierte Einbindung von geriatriespezifischer Kompetenz sicherzustellen. Diese Kompetenz kann durch das AGZ sichergestellt werden.

Für die Finanzierung der AGZ sollte der Gesetzgeber zunächst die Schnittstellenproblematik zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen überwinden. Ein definierter Leistungsanspruch auf Versorgung in einem AGZ bildet perspektivisch die Finanzierungsgrundlage der nicht-stationären geriatrischen Versorgung. Dafür müssen die heute bestehenden Ansprüche auf Versorgung in einer TK, AGR, MGR oder GIA zu einer neuen nicht-vollstationären Gesamtleistung zusammengeführt werden. Die Definition eines solchen übergreifenden Leistungsanspruchs ermöglicht es, die Versorgung individuell anzupassen. Die bisherigen nicht-stationären Finanzmittel für TK, AGR, MGR und GIA könnten dann im Budget der AGZ aufgehen.

 

Fazit

In Anbetracht der Tatsache, dass die Babyboomer im Rentenalter ankommen, müssen sich Krankenkassen, Politik und Gesellschaft insgesamt noch deutlicher um die medizinische Versorgung betagter und hochbetagter Menschen kümmern. Neben der akutmedizinischen Versorgung bestehen die zentralen Ziele der geriatriespezifischen Versorgung darin, eine möglichst selbstständige Lebensführung und Teilhabe zu erlangen sowie Pflegebedürftigkeit zu vermeiden bzw. zu vermindern. Davon profitieren neben den betroffenen Personen die Gesellschaft und Sozialversicherungssysteme wie die Pflegeversicherung gleichermaßen. Steigende Fallzahlen, wirtschaftlicher Druck und Personalmangel machen deutlich, dass der zukünftige Bedarf an Behandlungskapazitäten sinnvoll geplant werden muss. Eine echte, integrierte Versorgungsstruktur bietet hier das Konzept des Ambulanten Geriatrischen Zentrums.

Mit Blick auf die Krankenhausreform steht fest, dass in den nächsten Wochen und Monaten noch viele wichtige Festlegungen – u. a. durch Rechtsverordnungen zum KHVVG – erarbeitet werden müssen. Dabei ist eine Vielzahl von Benachteiligungen und Risiken für die Geriatrie zu beseitigen. Insbesondere die Gestaltung der Vorhaltefinanzierung ist hier zu nennen, die die steigenden Fallzahlen in der Geriatrie unzureichend abbilden. Auf diese Weise könnten nicht nur einige strukturelle Grundlagen gelegt werden, damit die Altersmedizin ihre Aufgaben auch zukünftig erfüllen kann. Auch die Weichen für die Umsetzung des bundesweiten Geriatriekonzeptes könnten so gestellt werden.

 

 

Literatur

  • Bundesverband Geriatrie e.V. (2023). Weißbuch Geriatrie. Zukunftssicherheit der Geriatrie – Konzepte und Bedarfszahlen. 4. überarbeitete Auflage. Stuttgart 2023.
  • Bundesverband Geriatrie e.V. (2022). Bundesweites Geriatriekonzept. Berlin 2022. https://www.bv-geriatrie.de/images/INHALTE/Aktuelles/BVG_Geriatriekonzept_WEB.pdf
  • Muth, C., und van den Akker, M. (2021): Multimorbidität. In: Pantel/Bollheimer/Kruse/Schröder/Sieber/Tesky (Hrsg.): Praxishandbuch Altersmedizin. Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie. Stuttgart 2021. S. 102-121.
  • Sieber, C., und Kruse, A. (2021): Frailty (Gebrechlichkeit). In: Pantel/Bollheimer/Kruse/Schröder/Sieber/Tesky (Hrsg.): Praxishandbuch Altersmedizin. Geriatrie – Gerontopsychiatrie – Gerontologie. Stuttgart 2021. S. 91-102.

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