30.04.2024
Geheimpreise für Arzneimittel?
Dr. Anke Schlieker, Projektleiterin Gesundheitsversorgung beim Verband der privaten Krankenversicherung
Die Einführung vertraulicher Erstattungsbeträge im Medizinforschungsgesetz wird den Pharmastandort Deutschland nicht stärken – Selbstzahler und Krankenversicherungen aber dauerhaft belasten.
Am 27.3.2024 hat die Bundesregierung den Regierungsentwurf für ein Medizinforschungsgesetz beschlossen. Ziel ist die Stärkung des Pharmastandorts Deutschland in Umsetzung der sogenannten Pharma-Strategie. Im Rahmen des europarechtlich Möglichen werden beispielsweise die Verfahren bei der Beantragung klinischer Prüfungen vereinfacht und Fristen verkürzt. Unter anderem soll dabei auch eine Forderung der pharmazeutischen Industrie umgesetzt werden, die so alt ist wie das AMNOG von 2011 und seine Regelungen zu den nutzenbasierten Preisen für innovative Arzneimittel: Diese sollen zukünftig geheim bleiben, um für die Industrie Nachteile bei den Preisverhandlungen in anderen Ländern zu vermeiden.
Das hört sich unkompliziert an, nach einem freundlichen Entgegenkommen für die gebeutelte Industrie, die an Kombinationsabschlägen beim gleichzeitigen Einsatz mehrerer Arzneimittel und novellierten Leitplanken des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes (AMNOG) leidet. Doch irgendjemand wird am Ende die Rechnung begleichen müssen. Nach allem, was man heute prognostizieren kann, werden dies die Versicherten und Patienten sein. Preis für die gewünschte Industrieförderung könnten höhere Kassenbeiträge und eine qualitativ schlechtere Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung sein, weil die vom AMNOG angestrebte Wirkung nutzenbasierter Preise auf das gesamte Preisgefüge geschwächt wird. Ob das Ganze am Ende tatsächlich zumindest den Interessen der pharmazeutischen Industrie dient, ob die deutschen Preise wirklich vertraulich bleiben, wird von den meisten Akteuren bezweifelt, nicht zuletzt von Vertretern der Arzneimittelhersteller selbst.
Wie der AMNOG-Prozess bislang funktioniert
In Deutschland gibt es, anders als in anderen Ländern, keine „Vierte Hürde“ bei der Arzneimittelzulassung, also keine Kopplung von Nutzennachweis und Marktzugang. Nach dem Nachweis von Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit/Verträglichkeit ist ein Arzneimittel zugelassen und kann durch den Arzt sofort zu Lasten der Krankenversicherung, egal ob gesetzlich oder privat, verordnet werden. Das sichert den Patientinnen und Patienten einen raschen Zugang zu pharmazeutischen Innovationen und ist im internationalen Vergleich ein klares Plus: Hierzulande steht nicht die Erstattungsfähigkeit im Zentrum aller Diskussionen, sondern der Preis. Dieser wird nach der Zulassung frei vom Hersteller festgelegt und gilt dann für sechs Monate. In diesem Zeitraum wird vom Hersteller mit dem GKV-Spitzenverband im Benehmen mit dem PKV-Verband verhandelt und anschließend der nachfolgende Preis bestimmt.
Grundlage für die Preisfindung ist das Ergebnis der Nutzenbewertung. In dieser wird geprüft, ob das Medikament im Vergleich zu den bereits im Markt befindlichen über einen Zusatznutzen verfügt und ob es für die Patientinnen und Patienten eine Verbesserung darstellt. Grundlage dafür sind die Dossiers, welche der Hersteller im Bewertungsprozess beim Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) einreichen muss. Die Formel lautet: Je höher der Zusatznutzen, desto höher auch der Preis, der in der anschließenden Verhandlung mit den Kostenträgern durchgesetzt werden kann. Umgekehrt heißt es auch, bei geringem oder keinem Zusatznutzen hat der Hersteller kaum eine Möglichkeit, seine Preisvorstellungen zu realisieren. Das Verfahren ermöglicht allen Arzneimittelherstellern einen raschen Zugang zum Gesundheitsmarkt, allerdings nicht zu jedem Preis. Im Interesse der Beitragszahler ist das gerecht, denn es schützt sie vor überhöhten Preisen, wenn dem kein entsprechender Gegenwert auf der Innovationsskala gegenübersteht.
Seit Jahren immer wieder verworfen: Forderung nach vertraulichen Erstattungsbeträgen
Seit Einführung des AMNOG haben Vertreter der pharmazeutischen Industrie auf nachteilige Wirkungen nutzenbasierter Preise hierzulande für die Preisbildung im Ausland hingewiesen, denn Deutschland sei der Referenzmarkt. Mit Blick auf die unterschiedliche Wirtschafts- und Kaufkraft in Deutschland und anderen Ländern war dieser umsatzorientierte Begründungszusammenhang immer zweischneidig. Denn er enthält die Botschaft, dass künstlich hoch gehaltene Referenzpreise in Deutschland zu einem Preisanstieg im europäischen Ausland führen, was dortige Gesundheitssysteme überfordern kann. Darauf hat zuletzt die Grünen-Abgeordnete Paula Piechotta hingewiesen: Im Jahr der Europawahl wäre dies ein ungewolltes Signal und könnte den europäischen Zusammenhalt beschädigen.[1]
Auch aus vielen anderen Gründen ist der Vorschlag einer Vertraulichkeit der § 130b SGB V-Rabatte immer wieder recht einmütig von maßgeblichen Akteuren des deutschen Gesundheitswesens verworfen worden. Der GKV-Spitzenverband lehnt die Regelung komplett ab.[2] Geheimpreise sind intransparent, hebeln das Prinzip der Wirtschaftlichkeit aus, führen zu milliardenschweren Mehrkosten und erhöhen die ohnehin hohe Bürokratie im Gesundheitswesen. Andere Kassenverbände äußern sich ähnlich[3], der G-BA-Chef stimmt in die Kritik ein[4]. Auch die Ärzte sind unzufrieden, wer A sagt müsse auch B sagen: Eine wirtschaftliche Verordnungsweise ohne den Preis zu kennen, wie soll das gehen? Da sollte auf preisbezogene Steuerungsinstrumente doch gleich ganz verzichtet werden.[5] Der Pharmagroßhandel betont die hohen Kosten und fordert Mehrausgleich für die neuen Belastungen.[6] Ja, selbst Gesundheitsminister Lauterbach lehnte die Vertraulichkeit vor Jahren bereits ab, als sein Vorgänger den gleichen Vorstoß versuchte.[7]
Auch Pharmahersteller winken ab
Selbst innerhalb der Pharmabranche findet die Idee keine Anhängerschaft. Dort glaubt kaum jemand an die These, dass sich vereinbarte vertrauliche Preise in einem komplexen System wirklich geheim halten lassen. Denn egal wie viele Fälle am Ende über die Vertraulichkeitsstrecke laufen, die Kosten des neu einzuführenden Verfahrens werden enorm sein. Denn dieses müsste komplett neu aufgesetzt werden, wenn Rückrechnungen von Mehrwertsteuer und prozentuale Zuschlage, die sich durch die Differenz von offiziellem Listenpreis und verhandelten Geheimpreis im Nachhinein über alle Stufen der Handelskette – also vom Unternehmen, über den Großhandel und die Apotheken – ergeben, ausgeglichen werden müssten. Die vertraulichen Preisinformationen müssten demzufolge im Gesundheitswesen breit gestreut und in allen relevanten technischen Systemen hinterlegt werden. Breit gestreut und geheim? Das schließt sich eigentlich aus.
Jüngst äußerte sich dann auch der Geschäftsführer von Novo Nordisk, Jesper Jensen Larsen, zu Wort und erteilte dem Vorschlag eine Absage.[8] Das Vorgehen stelle keinen realistischen Ansatz dar, um den Zugang zu innovativen Arzneimitteln langfristig zu gewährleisten. Es führe zu erheblichen Mehrkosten, die den Unternehmen durch die Abwicklung entstehen und schaffe Informationsasymmetrien.
Ein Beispiel: Für welche Medikamente wären vertrauliche Erstattungsbeträge attraktiv?
Einige wenige Hersteller wie Pfizer sprechen sich für vertrauliche Erstattungsbeträge als Option aus[9] und sagen deutlich, für welche Arzneimittel die Geheimpreise gut geeignet wären: Und zwar diejenigen, denen nach dem AMNOG-Prozess kein oder nur ein geringer Zusatznutzen im Vergleich zu vorhandenen Therapieoptionen bescheinigt wird. Bei diesen Medikamenten kann vom Hersteller bei der nachfolgenden Preisverhandlung der erwartete Betrag üblicherweise nicht realisiert werden.
Desolat für Privatpatienten und Selbstzahler in der GKV
Man merkt, richtig durchdacht ist die Regelung nicht, und über die konkrete Durchführung und die wahren Aufwände hat sich kaum jemand Gedanken gemacht. Sollte die Regelung dennoch kommen, wäre sie für jene besonders desolat, die nicht die Möglichkeit der Rabattrückabrechnung hätten: Die Privatpatienten und auch die Selbstzahler in der GKV. Denn sie würden auf immer und ewig zu hohe Schaufensterpreise zahlen und hätten nicht einmal die Aussicht, dass sich die Preise durch wettbewerbliche Mechanismen über die Zeit nach unten bewegen. Sie sind diejenigen, die geschädigt werden – sollte das Gesetz nicht noch im parlamentarischen Verfahren geändert werden. Heute zahlt der Versicherte den rabattierten Preis an der Apothekenkasse, künftig den Schaufensterpreis der Industrie.
Um Transparenz ins Dunkel zu bringen, müsste der Versicherte an der Apothekenkasse einen Hinweis auf den vertraulichen Erstattungsbetrag erhalten. Also die Information darüber, dass und wieviel er mehr zahlt, als er eigentlich müsste. Diese Information erhält er aber – Stand heute – nicht, weil sie nur juristischen Personen bekannt gemacht werden soll, nicht natürlichen. Die einzige Chance, den Differenzbetrag zurückzuerhalten, hätten nur diejenigen Kunden, die ihre Rechnung beim Versicherungsunternehmen einreichen.
Im Unterschied zur GKV tragen Privatversicherte ihre Kosten bis zur Höhe des vereinbarten tariflichen Selbstbehalts aus eigener Tasche und reichen auch danach ihre Rechnungen erst dann ein, wenn die Erstattungshöhe den finanziellen Vorteil der Beitragsrückerstattung überwiegt. Die neuen Regelungen machen es also für Privatversicherte notwendig, alle Arzneimittelrechnungen einzureichen, wenn sie nicht dauerhaft mehr zahlen wollen, als notwendig. Mit der Erstattung aber verlieren sie den Anspruch auf ihre Beitragsrückerstattung für das betreffende Jahr.
Auf der anderen Seite muss das Versicherungsunternehmen alle eingereichten Rechnungen bezahlen. Unerwünschte Folge: die Leistungsausgaben steigen und Beitragsrückerstattungen könnten der Vergangenheit angehören. Dabei gehören diese finanziellen Anreize zu den wichtigsten Instrumenten der PKV, um eigenverantwortliches Handeln zu fördern. Den finanziellen Schaden hätten also ausgerechnet diejenigen Kunden, die sich kostenbewusst verhalten.
Daher muss die Regelung komplett gestrichen werden, wenn man keine Ungleichbehandlung der Versicherten riskieren möchte. Bürokratische und teure Alternative, falls es nicht zu einem Einlenken kommt, wäre ein eigener Durchführungsweg über ZESAR, der Zentralen Stelle zur Abrechnung von Arzneimittelrabatten. Von ihr wird das Rabattinkasso für PKV-Unternehmen und die Beihilfe abgewickelt.
Es ist noch etwas Zeit, die Termine für die zweite und dritte Lesung im Bundestag sind noch nicht anberaumt. Der Kabinettentwurf liegt jedoch vor und daher ist hier ein dringendes Eingreifen der Abgeordneten im Interesse der Versicherten im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens gefordert.
Fazit
- Vertrauliche Erstattungsbeträge verheißen allenfalls Vorteile für die Hersteller von Arzneimitteln mit geringem oder keinem Zusatznutzen. Ob bei Preisverhandlungen im Ausland die Schaufensterpreise in Deutschland zugrunde gelegt werden, darf aber bezweifelt werden. Die tatsächlichen Preise, die in millionenfachen Erstattungsverfahren in Deutschland umzusetzen sind, lassen sich praktisch nicht geheim halten.
- Sie führen zu Intransparenz, etablieren protektionistische Werkzeuge in der Gesundheitswirtschaft und verhindern eine wirtschaftliche Verordnung.
- Sie beschädigen die finanziellen managed care – Anreize in den PKV-Tarifen und schwächen das Prinzip der Eigenverantwortung.
- Sie nehmen in Kauf, zu Lasten von Gesundheitssystemen im Ausland zu gehen, dort zu Marktverwerfungen zu führen und den europäischen Zusammenhalt zu beschädigen.
- Sie sind laut Berechnungen der GKV betragssatzrelevant und erhöhen die Kosten für Beitragszahlerinnen und Beitragszahler.
[1] Vertrauliche Erstattungspreise: Letztes Wort noch nicht gesprochen (aerztezeitung.de)
[2] https://www.bmuv.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Glaeserne_Gesetze/20._Lp/mfg/Stellungnahmen/Verbaende/mfg_stn_gkv_sv_bf.pdf
[4] https://www.aerztezeitung.de/Politik/G-BA-Chef-Hecken-haelt-vertrauliche-Erstattungsbetraege-fuer-grossen-Fehler-447333.html
[5] https://www.kbv.de/html/2024_68121.php
[6] Medizinforschungsgesetz: Vertrauliche Erstattungspreise belasten den Pharmagroßhandel – PHAGRO
[7] https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/erstattungspreise-lauterbach-klares-nein-zur-vertraulichkeit/
[8] https://background.tagesspiegel.de/gesundheit/korrektur-der-leitplanken-fuer-zuverlaessige-rahmenbedingungen-unabdingbar
[9] Vertrauliche Erstattungsbeträge könnten Arzneimittelversorgung verbessern – Tagesspiegel Background
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