Geheime Medikamentenpreise: Foulspiel gegen Europa und Eigentor der pharmazeutischen Industrie

Dr. Thomas Kaiser, Institutsleiter des IQWiG

Die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland startet mit dem Eröffnungsspiel Deutschland gegen Schottland. „Heimspiel für Europa“, so der Slogan der Bundesregierung zu diesem Großereignis, das die Menschen in Europa verbinden soll [1]. Zwei Tage zuvor wurde im Gesundheitsausschuss über ein europapolitisch wichtiges Vorhaben diskutiert: die vertraulichen Erstattungsbeträge für das AMNOG als Bestandteil des Medizinforschungsgesetzes. Bei der Diskussion wurde erneut deutlich: Die geplanten Geheimpreise sind ein Foulspiel gegen Europa. Und sie sind ein Eigentor der pharmazeutischen Industrie.

Ein wichtiges Argument der Befürworter der Geheimhaltung von Erstattungsbeträgen ist so einfach wie falsch: Durch die Einführung der Vertraulichkeit bestehe ein größerer Spielraum bei der Preisverhandlung, was in Folge zu einer höheren Verfügbarkeit neuer Arzneimittel in Deutschland führe [z. B. 2, 3]. Bereits 2011, kurz nach Einführung des AMNOG, gab es den ersten Vorstoß des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA) in diese Richtung. Die Preistransparenz im AMNOG werde die Markteinführung in Deutschland verschlechtern [4]:

„Heute ist Deutschland in der Regel das erste Land der Europäischen Union, in dem ein innovatives Medikament den Patientinnen und Patienten zur Verfügung steht. Eine zukünftig verzögerte Markteinführung kann dem Arzneimittelhersteller unter Umständen helfen, die negativen Konsequenzen der internationalen Preisreferenzierung zu vermeiden. Somit werden falsche Anreize gesetzt.“ (VfA 2011)

 

Preistransparenz verhindert Marktverfügbarkeit? Das Gegenteil ist der Fall

Und was ist die Realität nach 13 Jahren absoluter Preistransparenz? Genau das Gegenteil! Deutschland ist Europameister bei der Verfügbarkeit neuer Arzneimittel – sowohl in der Anzahl der Arzneimittel als auch bezüglich der Geschwindigkeit der Einführung – und liegt hier deutlich vor den Ländern mit vertraulichen Preisen. Das zeigen auch eigene Analysen der pharmazeutischen Industrie [5].

Im oben genannten Zitat des VfA wird die eigentliche Zielsetzung vertraulicher Erstattungsbeträge deutlich, sie wird auch heute noch unverblümt so ausgegeben: Man möchte die internationale Referenzierung auf reale deutsche Preise verhindern und damit in den anderen Ländern ein anderes Preisniveau erreichen. Aber bereits heute, mit veröffentlichten Preisen, sind viele europäische Länder kaum in der Lage, die hohen Kosten für neue Arzneimittel zu tragen. Eine aktuelle Analyse beschreibt dies, einschließlich der Konsequenz für die Versorgung in vielen Ländern Europas [6]. Geheime Preise in Deutschland werden dieses Problem noch verstärken, da noch höhere Preisvorstellungen der Hersteller für diese Länder noch weniger tragbar sein werden. Es droht ein massiver Kollateralschaden für Patientinnen und Patienten in der EU.

 

Geheime Preise: Ein Eigentor der pharmazeutischen Industrie

Schließlich sind geheime Preise auch ein Eigentor der pharmazeutischen Industrie. Das ergibt sich aus dem zuvor beschriebenen Kollateralschaden für die anderen Länder Europas in Kombination mit der anstehenden europäischen Nutzenbewertung.

Eine wichtige Rahmenbedingung der europäischen Nutzenbewertung (EU-HTA) ist, dass die unterschiedlichen Versorgungssituationen aller Länder der EU berücksichtigt und im Bewertungsbericht adressiert werden sollen. Entsprechend muss auch das Dossier der Hersteller diese unterschiedlichen Situationen adressieren. Zu Beginn einer Bewertung übermittelt daher zukünftig jedes Land seine relevante Fragestellung, die sich aus der konkreten Behandlungssituation vor Ort ergibt: Stehen z.B. neue Arzneimittel regelhaft zur Verfügung, dann können sie für die nächste Generation von Wirkstoffen oft ein guter Vergleichsmaßstab sein. Ist das jedoch nicht der Fall, dann sind zumeist ältere, oft generische Arzneimittel der richtige Vergleichsmaßstab für das betreffende Land.

Je stärker sich der Versorgungsstandard innerhalb der EU unterscheidet, umso unterschiedlicher werden daher die von den Ländern gemeldeten Fragestellungen für die europäische Nutzenbewertung sein. Der durch die geplanten vertraulichen Erstattungsbeträge entstehende Kollateralschaden wird diese Unterschiede manifestieren, vielleicht sogar noch verstärken. Damit wird das Gegenteil dessen erreicht, wofür auch die europäische Nutzenbewertung eingeführt wurde: Den Versorgungsstandard in der EU auf ein gleichermaßen hohes Niveau zu heben. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Erstellung des EU-Dossiers: Der hierfür notwendige Aufwand bleibt für die Hersteller langfristig erhalten oder erhöht sich sogar bei zunehmender Ungleichheit zwischen den Ländern. Ein klassisches Eigentor der pharmazeutischen Industrie.

 

Das Parlament als VAR?

Seit einigen Jahren gibt es auch bei Fußballspielen den Video Assistent Referee (VAR). Er soll bei klaren Fehlentscheidungen des Schiedsrichters bzw. der Schiedsrichterin eingreifen. Als regelmäßiger Stadionbesucher bin ich kein Freund des VAR. Die teilweise lang andauernden Unterbrechungen stören die Stimmung immer wieder enorm. Aber bei Geheimpreisen geht es um etwas anderes. Hier lohnt ein Innehalten und der nochmalige Blick auf die aktuelle Entscheidung: Richtig oder Falsch? Das Parlament als VAR kann Eigentor und Foulspiel für Europa noch verhindern.

 

Literatur

1. Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland. Ein Heimspiel für Europa: Die UEFA EURO 2024. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/euro-2024 Bundesregierung

2. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA). Stellungnahme zum Referentenentwurf für ein Medizinforschungsgesetz (MFG). Stand: 20.02.2024. https://www.vfa.de/download/stellungnahme-referentenentwurf-mfg

3. Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Kabinettsentwurf des Medizinforschungsgesetzes in: Gesetzentwurf der Bundesregierung – Entwurf eines Medizinforschungsgesetzes. Drucksache 20/11561. Stand: 29.05.2024. https://dserver.bundestag.de/btd/20/115/2011561.pdf

4. Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA). vfa-Positionspapier „Vertrauliche Erstattungsbeträge nach § 130b SGB V schaffen Vorteile für alle Beteiligten“. Stand: 07.09.2011. https://www.vfa.de/embed/pos-vertrauliche-erstattungsbetraege.pdf

5. European Association of Pharmaceutical Industries and Associations (EFPIA). EFPIA Patients W.A.I.T. Indicator 2023 Survey (IQVIA, Published June 2024). https://efpia.eu/media/vtapbere/efpia-patient-wait-indicator-2024.pdf

6. Investigate Europe. Tödliche Preise. Juni 2024. https://www.investigate-europe.eu/de/themes/investigations/deadly-prices-europe-big-pharma-medicines


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