ePA – die Opt-out-Lösung ist so nicht vertretbar

Risiken und Nachteile kommen in Pflichtinformationen nicht vor

Prof. Dr. med. Jürgen Windeler

Ab Januar wird sie nun wohl kommen, die elektronische Patientenakte „für alle“. Statt auf Überzeugung und Einwilligung zu setzen, hat sich die Politik entschieden, eine Widerspruchslösung („Opt-out“) zu wählen: Jeder Versicherte bekommt die Akte „automatisch“, wenn ihrer Einrichtung nicht widersprochen wird.

 Zur Flankierung dieser Lösung hat der Gesetzgeber in § 343 (1a) SGB V „Informationspflichten der Krankenkassen“ beschrieben. Die lange, detaillierte Liste soll offenbar die Informationen umfassen, die Versicherte zur Entscheidung über einen Widerspruch ermächtigen. Eine Analyse der derzeitigen Informationspolitik macht deutlich: Die Inhalte der Liste sowie die Art und Weise, wie Informationen zur ePA präsentiert werden und wie mit der gesetzlichen Informationsverpflichtung umgegangen wird, sind geeignet, einen Wunsch nach Widerspruch gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. ihn im Keim zu ersticken.

 

Analyse der derzeitigen Informationspolitik

Die Überschrift der dpa-Meldung vom 28. Oktober „Krankenkassen: Wenig Widerspruch gegen E-Patientenakte“ ließ schon Interessantes erahnen: Statt der vermuteten 20% hätten bisher nur wenige Prozent der Versicherten von ihrem Widerspruchsrecht („opt out“) Gebrauch gemacht, so einige Kassen unisono. Und dann runzelte man erstaunt die Stirn: „Diese geringe Quote bestätigt uns darin, dass unsere Versicherten sich gut informiert fühlen“, wird ein Digitalisierungsexperte der DAK zitiert.

Warum dies eine naheliegende oder gar die einzige Erklärung für die bisher wenigen Widersprüche ist, bleibt unerfindlich. Vielleicht ist aber die Wortwahl noch interessanter als die fehlende Logik, denn „sich informiert fühlen“ ist etwas gänzlich anderes als „informiert sein“. Bevor man vom Dreimeter-Brett springt, sollte man nicht „fühlen“, sondern sich genau informieren, vergewissern, dass Wasser im Becken ist.

Dass hier ein Defizit besteht, war auch der Bundesdatenschutzbeauftragten Louisa Specht-Riemenschneider aufgestoßen, die drei Tage später „bessere Information der Versicherten über die Widerspruchsmöglichkeiten gegen eine ePA“ [1] forderte. Und die europäische Bürgerrechtsorganisation EDRI hat sich in Zusammenhang mit den Plänen der EU zur Datennutzung sogar ganz gegen eine „Opt-out“-Regelung ausgesprochen, da sie „die Last des Wissens, des Verstehens und der Entscheidung in unangemessener Weise den Patienten“ aufbürde [2].

 

Alternative Interpretation

Informieren – Wissen – Verstehen – Entscheidung? Wie wäre es also alternativ mit folgender Interpretation: Die Widerspruchsquote ist deshalb so niedrig, weil die Versicherten schlecht und einseitig informiert werden und überhaupt nicht wissen (können), worauf sie sich einlassen. Zudem erfordert Widerspruch Initiative und Aktivität, die dem einlullenden „Sie müssen nichts tun“ der „Informationsschreiben“ entgegengesetzt werden müssen. Da lässt man es doch lieber.

Aber seien wir ehrlich: Genau dies ist das Ziel einer Opt-out-Regelung. Zwar müsse es „selbstverständlich sein, dass die Patientinnen und Patienten bestmöglich informiert werden, wie sie widersprechen können, um sich eine freie Meinung zu bilden“, wie die Datenschutzbeauftragte zitiert wird. Aber während es bei einer Einwilligungslösung im Interesse des Anbieters ist, die Menschen zu überzeugen, sie zu einer Änderung des Status Quo zu motivieren und sich dafür Mühe zu geben, ist es bei einer Widerspruchslösung im Interesse des Anbieters, die Menschen möglichst von einer Änderung des neu geschaffenen Status Quo abzuhalten. Was das für die Mühe zu informieren bedeutet, liegt auf der Hand.

Um einen Eindruck zu gewinnen, was derzeit geschieht, wie also der Opt-out gelebt wird und was die Gründe für den geringen Widerspruch sein könnten, lohnt ein Blick auf die „Last des Wissens, des Verstehens und der Entscheidung“. Dazu konnten die Anschreiben von vier Krankenkassen* eingesehen werden. Die dort genannten Links zu weiteren Informationen wurden bewertet. Die 4 Kassen bilden mehr als ein Drittel der Versicherten in Deutschland ab (ca. 28,5 Mio von 74,4 Mio) [3]. Weitet man die Aussagen auf alle AOKen aus, so sind es 40 Mio. Eine stichprobenhafte Einsicht in entsprechende Internetseiten des BKK- und IKK-Systems erlaubt die fundierte Annahme, dass die im Folgenden beschriebenen Befunde verallgemeinerbar sind. Anschreiben dieser Kassen lagen aber nicht vor.

 

Widerspruch ist unerwünscht

Die Inhalte der analysierten Quellen machen deutlich: Es kann niemanden verwundern, dass die Widerspruchsquote bisher gering ist.

a. Die Informationsschreiben der Kassen sind Werbeschreiben. „Sie müssen nichts tun“ (gemeint: Tun Sie bloß nichts!) in verschiedenen Variationen. Sie würden jedem Telefontarif- oder Stromanbieter zur Ehre gereichen.

b. Die Schreiben sind so aufgebaut, dass man schwerlich auf die Idee kommt, dass Widerspruch überhaupt eine ernsthafte Option ist. „Für alle“ heißt es schon fett in den Überschriften; und weiter: „… bekommen Sie automatisch eine elektronische Patientenakte. Das wurde gesetzlich so entschieden“; „.. erhalten alle Versicherten .. per Gesetz automatisch“. Nur bei einer Kasse wird bereits im ersten Absatz in Fettdruck auf die Freiwilligkeit und die Widerspruchsmöglichkeit hingewiesen. Die übrigen Kassen verlegen diese Info ans Ende des Schreibens, weit weg vom initial verkündeten Automatismus.

c. Die Schreiben enthalten oberflächliche, nichtssagende Infos („Sie haben keinen Papierkram mehr“; „immer griffbereit“; „Impfnachweise immer zur Hand“).

d. Allein der Umstand, dass es in allen Schreiben einen Passus „Ihre Vorteile“; „Was sind die Vorteile der ePA?“ oder Aufzählungen von Funktionen, „die Ihnen Vorteile bringen“ gibt, aber keinen „Was sind die Nachteile?“ oder wenigstens „Gibt es auch Nachteile?“, macht deutlich, dass es hier nicht um Information geht.

e. Weitere Infos werden nicht beigelegt, sondern sind nur über eine angegebene Internetseite einsehbar (man darf Zweifel haben, ob damit der gesetzlichen Intention des § 343 SGB V und damit der Opt-out-Grundlage Genüge getan ist).

f. Der Widerspruch geht nur online – oder jedenfalls beschreiben diese vier Kassen das in den Anschreiben so; immerhin klappt das bei einigen gut; bei der AOK muss man erst einmal seine Kasse suchen, dann seine persönlichen Daten eingeben, seine Versicherungskarte suchen, um die Mitgliedsnummer einzutragen, und darf schließlich widersprechen. Es fehlt nur die blinkende Nachfrage, ob man das auch wirklich will.

g. Auf den Internetseiten, auf die ergänzend verwiesen wird, sind Infos bereitgestellt, die viele wichtige Aspekte unerwähnt lassen. Sie lassen keine Probleme und nicht den leisesten Zweifel erkennen oder thematisierten etwa Argumente, an denen man seine Überlegungen zum Widerspruch festmachen könnte. Auch hier keinerlei Hinweise auf mögliche Risiken oder Nachteile.

Das alles wäre nicht zu beanstanden, wenn es sich um das Anpreisen eines Produktes handelte. Als Basis für ein Opt-out-Verfahren ist dies jedoch vollkommen inakzeptabel. Dass es – natürlich – anders geht und es möglich ist, nüchterne, abgewogene entscheidungsunterstützende Information zur Verfügung zu stellen, zeigt u.a. die Entscheidungshilfe von netzpolitik.org [4].

Wenn dann eine Kasse im Jahre 2024 allen Ernstes schreibt: „Absolut sicher“, dann fragt man sich, ob es eigentlich schlimmer ist, wenn die Verantwortlichen ihre Naivität zur Schau stellen oder wenn sie ihre Versicherten für dumm verkaufen. Vertrauen gewinnt man so ganz sicher nicht.

 

Es gibt eine gesetzliche Verpflichtung

Der Gesetzgeber hat in § 343 Abs 1a SGB V „Informationspflichten der Krankenkassen“ beschrieben, „bevor sie ihnen eine elektronische Patientenakte zur Verfügung stellen“. Die Kassen haben „umfassendes und geeignetes Informationsmaterial über die elektronische Patientenakte in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache und barrierefrei zur Verfügung zu stellen.“ Welche Aspekte dabei thematisiert werden müssen (!), umfasst eine Liste von sage und schreibe 24 Punkten. Berücksichtigt man, dass es in zwei Punkten jeweils drei Unterpunkte gibt, und einige Einzelpunkte verschiedene Sachverhalte zusammenfassen, dann ergibt sich mit zahlreichen Querverweisen auf andere Paragraphen ein schwer durchschaubarer Wust an Informationen.

Man mag von den Details dieser Liste halten, was man will, aber diese „Informationspflichten“ wurden offensichtlich für erforderlich gehalten, um eine Opt-out-Lösung begründen zu können. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass man die Umsetzung nur als mangelhaft bezeichnen kann.

Erster Befund: Die gesetzlich vorgeschriebenen Informationen sind schwer zu finden. Den Informationsschreiben liegen sie nicht bei. Die in den Schreiben angegebenen Links führen zu Seiten, die als „Mehr zur ePA“, „ausführliche Informationen“ oder „Alles Wissenswerte“ angekündigt werden, aber nur eine kleine Auswahl an Informationen umfassen – zu Nebenwirkungen, Nachteilen, irgendwelchen Problemen kein Wort. Diese Inhalte erfüllen sicher nicht die gesetzlichen Verpflichtungen.

Man muss vielmehr sehr genau hingucken (andere würden sagen: suchen), um das Icon zum Download der Informationen zu „§ 343 Abs 1a SGB V“ zu entdecken. Bei einer Kasse findet es sich z.B. ganz unten auf der Seite unter dem Label „Gesetzliche Pflichtinformationen“ (ist „Pflicht“ nicht per se schon lästig?). Bei einer anderen findet man ganz – wirklich: ganz! – unten einen kleinen Hinweis auf „Informationen zur elektronischen Patientenakte nach § 343 SGB V“. Den gesetzlichen Anforderungen („zur Verfügung stellen“) ist also formal Genüge getan und die vom GKV-SV erarbeiteten Informationen sind durchaus gut lesbar und verständlich. „Leicht zugänglich“ sind sie jedoch zweifellos nicht. „Barrierefrei“ ist weder der Zugang noch das Dokument selbst. Menschen ohne Internet erfahren diese gesetzlich vorgeschriebenen Informationen nicht.

Zweiter Befund: Genau so, wie vermutlich kaum jemand die AGB eines online-Händlers oder einer Versicherung liest, ist anzunehmen, dass kaum ein Versicherter die umfangreichen gesetzlich vorgeschriebenen Informationen lesen wird. Die Vorlage des GKV-SV für die 24 Punkte des § 343 dehnt sich im „Informationsmaterial“ der AOK-RH auf 43 Seiten; bei der TK sind es 37 Seiten, bei der DAK 39, bei der Barmer gibt es nichts zum Downloaden und deshalb auch keine Seitenzahlen, aber die Angabe „Lesedauer unter 71 Minuten“ lässt die Länge erahnen.

Dritter Befund: Wenn man nicht die ausführlichen Dokumente herunterlädt – und liest –, dann erfährt man aus dem versendeten Schreiben und den dort angegebenen Links zu „weiteren Informationen“ über viele der qua Gesetz für notwendig (!) angesehenen Punkte nichts. In der Regel findet sich z.B. kein Wort darüber, dass die Daten an ein deutsches „Forschungsdatenzentrum“ geleitet werden und dass man dafür eine gesonderte Widerspruchsmöglichkeit hat. Eine Kasse weist in ihrem Schreiben zwar auf den „Vorteil“ hin, Forschung „mit Ihren Daten“ zu unterstützen, auf die Widerspruchsmöglichkeit allerdings nicht. Und nur wer – nach Lesen des Schreibens und Studium der Webseite – schließlich in einem 43seitigen Dokument auf S. 39 angekommen ist, erhält diese Information. Dass die Daten dann in einen europäischen „Health Data Space“ eingepflegt werden sollen und man auch schon über „transatlantische“ Kooperation nachdenkt [5] (Trump und Musk spitzen die Ohren), steht nirgends – ist ja auch nicht gesetzlich vorgeschrieben. Dass die vorgesehene Pseudonymisierung fragwürdig ist [6,7], hat der Gesetzgeber auch gar nicht als Informationspunkt vorgesehen, allerdings in § 303d festgelegt, dass diese Daten bis zu 100 (in Worten: einhundert) Jahre aufbewahrt werden können und zugänglich sind. Man darf die Hypothese wagen, dass das außer Eingeweihten niemand weiß.

Interessanter Nebenbefund ist, dass in den Informationsdokumenten „nach § 343 SGB V“ von der Nutzung der Daten zu „gemeinwohlorientierten Zwecken“ die Rede ist. Diese Charakterisierung steht aber weder in der 24er Liste des § 343, der die Inhaltspflichten beschreibt, noch im § 363, auf den in der Liste verwiesen wird. Selbst in § 303e, in dem Forschungszwecke für diese Daten aufgeführt sind, fehlt dieser Begriff. Man kann das nur begrüßen, denn die Zwecke selbst (§ 303e (2)) ebenso wie die Möglichkeit für faktisch jede Person, Institution oder Firma (§ 303 e (1)), mit diesen Daten „Forschung“ zu betreiben, führen jedem vor Augen, wie gemein dieses „Wohl“ sein wird.

Und noch ein Befund ist bemerkenswert: Das Material soll, so sieht es § 343 SGB V vor, „Informationen enthalten über den individuellen Nutzen und Mehrwert der elektronischen Patientenakte für die Versorgung des Versicherten, der dadurch entsteht, dass … er die elektronische Patientenakte nutzt“. Worin Nutzen und Mehrwert bestehen, wird nicht gesagt und ist auch den „Pflicht“-Informationen der Kassen nur mit den üblichen Schlagworten zu entnehmen. Weiter sieht das Gesetz dann Informationen dazu vor, dass für den „individuellen Nutzen“ die Daten selbst und die Zugriffsmöglichkeiten „möglichst vollständig“ sein sollten. Die Kasseninformationen werden da direktiver: „Für eine vollständige ePA sollten Sie möglichst wenige Leistungserbringende vom Zugriff auf die ePA oder auf einzelne Dokumente in der ePA ausschließen“ – die Versicherten mögen also doch bitte die umfassenden Entscheidungsmöglichkeiten bei der Anwendung der ePA nicht nutzen.

Und während man bei einem Arzneimittel in allen Details auf „Risiken und Nebenwirkungen“ hingewiesen werden muss, findet sich in der langen Liste von Informationen des § 343 zu Risiken kein Wort. Der einzige denkbare Nachteil liege darin, so entnimmt man dem Gesetz, dass man die ePA nicht nutzt. In den Informationen der Kassen tauchen Risiken immerhin an zwei Stellen auf: beim Sicherheitsniveau des Anmeldeverfahrens (11.6) sowie etwas versteckt mit dem Hinweis, dass es „Gesundheitsrisiken aufgrund nicht aktueller Daten“ (6.10) geben könnte. Dies ist der einzige Punkt in den gesamten Dokumenten, in dem irgendein Vorbehalt für die Versicherten angedeutet wird. An anderen Stellen ist dies höchstens indirekt erkennbar, wenn etwa auf die Widerspruchsmöglichkeit bei „Daten, deren Bekanntwerden Anlass zu Diskriminierung oder Stigmatisierung des Versicherten geben kann“, hingewiesen wird (Punkt 13 der Liste).

Die Art und Weise, wie Informationen zur ePA präsentiert werden und wie mit der gesetzlichen Informationsverpflichtung umgegangen wird, ist geeignet, einen Wunsch nach Widerspruch gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. ihn im Keim zu ersticken. Man darf begründete Zweifel haben, ob so die gesetzlichen Verpflichtungen zur Information erfüllt werden. Man darf daher Zweifel haben, dass die rechtliche und ethische Grundlage für eine Widerspruchsregelung gegeben ist, umso mehr für einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Versicherten: ohne Internet erfährt man von all dem – gar nichts.

 

Gibt es eine andere Grundlage für die Opt-out-Regelung?

Wenn man eine Internetseite öffnet, dann wird man, bevor man irgendeine Information erhält oder lesen kann, mehr oder weniger subtil aufgefordert, Cookies zu akzeptieren. Möglichst alle, aber man erhält auch Auswahlmöglichkeiten. Der Eine mag darin Vorteile sehen, aber es mag auch Nachteile haben oder schlicht unerwünscht sein. Ohne Zustimmung bleibt der Status Quo – keine Cookies – bestehen. Genauso funktionieren Zustimmungsregeln, wenn man online etwas bestellen will, einen Vertrag schließen will oder eine Geldanlage tätigen. Man muss dort bestätigen, Informationen – zum Datenschutz, zu Widerrufsrechten etc. – zur Kenntnis genommen zu haben. In bestimmten Fällen muss man sich sogar die Dokumente herunterladen, um fortfahren zu können. Man muss zwar nichts lesen, aber ausdrücklich bestätigen, dass man es gelesen hat, bevor eine Zustimmung akzeptiert wird. Dies geschieht, um eine angemessene, faire Balance zwischen den Interessen der Anbieter und denen der Kunden herzustellen, um Menschen vor Nachteilen aufgrund unzureichenden Informationsstands zu schützen.

Diesen Vorbehalt, sich sorgfältig zu informieren, gibt es bei der Opt-out-Entscheidung nicht. Es sind zwar ausführliche Informationen zur ePA gesetzlich vorgeschrieben, aber ihre Kenntnisnahme wird nicht erzwungen oder wenigstens unterstützt. Ganz im Gegenteil: Wie dargestellt, werden die Informationen bestmöglich versteckt. Nirgends besteht ein Vorbehalt, diese zur Kenntnis zu nehmen, bevor ein Widerspruch akzeptiert wird.

Und eine solche Hürde macht auch gar keinen Sinn. Zum einen sind diese Informationen vollkommen ungeeignet, da sie nirgends die Nachteile, Pflichten, Risiken, die mit dieser Entscheidung – dem Widerspruch – verbunden sind oder sein können, thematisieren. Und zum anderen bestehen die Risiken, die einen Widerspruch motivieren könnten, gerade nicht bei einem Widerspruch, sondern dann, wenn nicht widersprochen wird, also in der Anwendung der ePA. Abgesehen davon, dass diese auch nirgends angesprochen werden, gibt es also einen entscheidenden Unterschied zwischen z.B. der Kenntnisnahme von AGB bei einer Zustimmungsregel und ePA-„Pflicht“informationen bei Widerspruch.

Eine Einwilligung erfolgt, obwohl man bestätigt, Hinweise auf Risiken zur Kenntnis genommen zu haben. Ein Widerspruch erfolgt aber nicht obwohl, sondern weil man sich über Risiken der ePA informiert hat. Aus „weil“ lässt sich natürlich kein Vorbehalt konstruieren. Im Gegenteil, ein Zwang, für einen Widerspruch die Kenntnisnahme von „Pflicht“-Informationen zu bestätigen, würde absehbar die Hürden für einen Widerspruch erhöhen und so, genau gegenteilig zu dem Vorbehalt bei einer Einwilligungslösung, die Anbieterinteressen weiter unterstützen.

Die gesetzlich vorgesehenen Informationen erfüllen bei einer Opt-out-Regelung also gar keine Funktion – außer der verantwortungsentlastenden für die Protagonisten dieser Lösung – „Wir haben es euch doch gesagt!“ Eigentlich sind sie nicht mehr als schmückendes Beiwerk. Die Informationen, so oft sie auch „Pflicht“ genannt werden, können insofern gar keine Grundlage für eine Opt-out-Regelung sein.

Eine Opt-out-Regelung ohne individuelle Risikobewertung vorzusehen – und sie de facto gar nicht zu ermöglichen, um nicht zu sagen: zu hintertreiben –, wäre daher nur dann vertretbar, wenn es eine (überzeugende, transparent vermittelte) „kollektive“ Risikobewertung gäbe, insbesondere, wenn ein konkret benennbarer Nutzen außer Zweifel stünde und es keine (relevante) Schutzbedürftigkeit für die beteiligten Menschen gäbe. Diese Situation könnte man z.B. für eine Organspende annehmen.

 

„Kollektive“ Bewertung

Für eine solche „kollektive“ Bewertung, die in der Lage sein könnte, eine vorbehaltliche, individuelle Bewertung zu ersetzen, sind als Grundlage für eine Opt-out-Regelung mindestens vier Voraussetzungen zu nennen:

1. Die Regelung selbst muss für eine relevante Zahl einzelner Personen einen Nutzen darstellen, bei einer Regelung im medizinischen Bereich einen gesundheitlichen Nutzen. „Sie haben keinen Papierkram mehr“ reicht dafür nicht aus.

2. Es darf für den Einzelnen kein relevantes Risiko bestehen. Dies schließt unmittelbare gesundheitliche Risiken ebenso ein wie Aspekte der Diskriminierung, der Geheimhaltung (Schweigepflicht, Beschlagnahmeverbot) und generell des Datenschutzes.

3. Unabhängig davon müssen Risiken allgemein bekannt sein. Jeder weiß vermutlich, dass für die Organspende neben weltanschaulichen Aspekten das einzige Risiko darin bestehen könnte, dass ein Hirntod nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden kann.

4. (ggfs. alternativ zu 1.) Es muss ein übergeordneter („bevölkerungs“bezogener) Nutzen existieren. Eine Abwägung zu Anforderung 2 hat natürlich trotzdem zu erfolgen.

Für die ePA ist bei genauer Betrachtung keine dieser Voraussetzungen erfüllt.

Dass (zu 1.) „die Befürworter:innen“ sich etwas davon „versprechen“, wie es in der genannten Entscheidungshilfe heißt, ist richtig und ehrlich, aber als Basis für ein Opt-out unzureichend. Und als wesentliche Vorteile werden in den Informationen der Kassen auch eher Aspekte der Vereinfachung und der Bequemlichkeit (den Impfpass „haben Sie immer griffbereit“) sowie der Transparenz („Sie wissen, welche … Leistungen abgerechnet werden“) genannt. Auch auf der Informationsseite des Ministeriums [8] („Die wichtigsten Vorteile“) geht es primär um Service: „.. noch einmal schnell den letzten Befund checken?“ oder „Lästiges Suchen … bald Vergangenheit“. Das mag alles so sein, ist aber kein Grund, diese Leistungen nicht nur denen zur Verfügung zu stellen, die an diesen Aspekten interessiert sind. Das überall herausgestellte Thema der „Doppeluntersuchungen“ wurde an anderer Stelle kommentiert [9]. Das Herausstellen dieses „Vorteils“ tut so, als ob eine zweite Untersuchung nur deshalb gemacht wird, weil die vorherige gerade nicht verfügbar ist. Es gibt aber viele andere Gründe für eine Wiederholung – gute und weniger gute –, die mit Digitalisierung nicht beseitigt werden. Ein medizinischer Nutzen wird nirgends konkretisiert, geschweige denn seine Größenordnung oder Relevanz. Dass sich mit der ePA „die Behandlung von Patienten dramatisch verbessern“ [10] wird, ist Wunschdenken.

Dass (zu 2.) mit der ePA grundsätzlich Diskriminierungs- und Datenschutzrisiken bestehen, die mit fortschreitender technischer Entwicklung nicht kleiner werden, ist hier ein sehr zentraler Aspekt. Übersehen wird oft ein anderer: Die ePA ist als „versichertengeführte Akte“ (§ 341 SGB V) konzipiert. Damit hat der Versicherte zwar Anspruch auf, aber eben auch die Verantwortung für Aktualisierung und Vollständigkeit der Inhalte, nennen wir es ruhig: die Brauchbarkeit der Akte. Da geschätzte 98% von ihnen kaum überblicken können, welche medizinischen Konsequenzen veraltete Daten, das Fehlen von Daten, das „Löschen“ oder Nicht-Zugänglichmachen bestimmter Informationen zukünftig haben kann, bestehen auch gesundheitliche Risiken, die, wie erwähnt, vom GKV-SV jedenfalls angedeutet werden.

Dass (zu 3.) diese Risiken allgemein bekannt sind, kann man ausschließen, zumal sie in den Dokumenten nach Kräften negiert („absolut sicher“) oder gar nicht erwähnt werden. Die Informationsseite des BMG kennt nur einen Abschnitt „Vorteile“; nirgendwo wird auch nur angedeutet, dass es Nachteile geben könnte. Die 30 „Fragen und Antworten“ thematisieren weder Risiken noch Nachteile. Das gilt im Übrigen sowohl für Risiken bei Nutzung der ePA (s. 2.) als auch bei einem Widerspruch. Außerhalb von Betroffenengruppen wird das Bewusstsein für Diskriminierung und Stigmatisierung gar nicht vorhanden sein. Und dabei haben wir auch nur Eigenschaften und Verhaltensweisen im Blick, die heute zu Diskriminierung führen können. Welche sind das wohl in 30 oder 50 Jahren? Im Gegensatz etwa zur Organspende ist das Risikospektrum viel zu komplex und differenziert, wenn überhaupt ausreichend bekannt.

Dass schließlich (zu 4.) bei Nutzung der ePA ein übergreifender, quasi abstrakter Nutzen bestehe, darf man, ganz unabhängig von einer Balancierung zu den angedeuteten Risiken, bezweifeln oder jedenfalls im Reich der  nicht eingelösten Versprechen verorten. Wenn man nicht Papiereinsparung oder die volkswirtschaftlich motivierte Förderung bestimmter Industriezweige heranziehen wollte, für die man aber sicher keine Gefährdung von Patientendaten in Kauf nehmen könnte, dann bleibt das Versprechen, mit den Daten „gemeinwohl-orientierte“ Forschung mit einem Nutzen für alle machen – und nur so machen – zu können. Mehr als Ankündigungen sind dabei nicht zu verzeichnen (s. [9]). Gute Forschung würde für diese Daten zudem einen hohen Grad an Vollständigkeit und Richtigkeit voraussetzen. Die Vollständigkeit wird aber durch die weitreichenden (und aus anderen Gründen zu befürwortenden) Widerspruchsmöglichkeiten innerhalb der ePA konterkariert, die Richtigkeit durch ggfs. mangelnde Aktualität, vor allem aber durch die bekannten Einschränkungen bei Abrechnungsdaten, die ja ergänzend (übrigens ohne eine Widerspruchsmöglichkeit) an das FDZ geschickt werden.

Für eine Organspende kann man 1., 2. und 3. als erfüllt ansehen (4. spielt hier keine vorrangige Rolle, es könnten z.B. Kosten für langjährige Dialyse angeführt werden). Auf dieser Basis kann man ein Opt-out diskutieren – und es vielleicht aus guten Gründen trotzdem ablehnen. Für die ePA ist aber keine der Voraussetzungen erfüllt, wenn man von nebulösen Ankündigungen der „Befürworter:innen“ absieht. Dies in Verbindung mit einer mangelhaften Informationspolitik kann keine Grundlage für eine Opt-out-Lösung sein. Die Pflicht, bestimmte Informationen bereitzustellen, löst das Problem nicht. Die Zielsetzung dieser gesetzlichen Regelung, Menschen umfassend zu informieren, wird aber in der Praxis auch gar nicht erfüllt.

 

Fazit

Man kann der elektronischen Unterstützung von Abläufen und dem gezielten Informationsaustausch durchaus positiv gegenüberstehen. Aber die ePA in der jetzt ausgestalteten Form entpuppt sich, umso mehr mit der ergänzenden ubiquitären Weitergabe der Daten als wirtschaftsinteressen-geleitetes, missionarisch-paternalistisches Unterfangen, bei dem es formal eine Widerspruchsmöglichkeit gibt, die Versicherten aber mit allen verfügbaren Mitteln dazu bewegt werden, diese nicht zur Kenntnis oder jedenfalls nicht in Anspruch zu nehmen. Und so ist die Opt-out Lösung nichts anderes als die Bankrotterklärung argumentativer Überzeugungsarbeit.

 

[1] https://www.zeit.de/news/2024-10/30/datenschuetzerin-einspruch-gegen-e-patientenakte-erleichtern

[2] https://www.heise.de/news/Paradigmenwechsel-im-Datenschutz-Opt-Out-ja-oder-nein-7623312.html“.

[3] https://www.krankenkassen.de/krankenkassen-vergleich/statistik/versicherte/aktuell/

[4] https://netzpolitik.org/2024/entscheidungshilfe-zur-elektronischen-patientenakte-soll-ichs-wirklich-machen-oder-lass-ichs-lieber-sein/

[5] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/E/Europaeische_Gesundheitspolitik/240701__BMG_Prios_neue_EU_Legislatur.pdf

[6] https://netzpolitik.org/2024/fraunhofer-gutachten-elektronische-patientenakte-leidet-an-schweren-schwachstellen/

[7] https://www.heise.de/hintergrund/Gesundheitsdatenforschung-ja-aber-bitte-mit-Datenschutz-10053620.html?wt_mc=rss.red.ho.ho.rdf.beitrag.beitrag

[8] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/epa-vorteile/

[9] https://observer-gesundheit.de/digitalistan-oder-der-tanz-um-das-binaere-kalb/

[10] https://www.heise.de/news/Lauterbach-zu-Gesundheitsdaten-Google-Meta-und-OpenAI-melden-Interesse-an-10179936.html?wt_mc=rss.red.ho.ho.rdf.beitrag.beitrag

 

* Es handelt sich um die AOK Rheinland/Hamburg, Barmer, DAK sowie die TK.

Ich bedanke mich bei vier interessierten Menschen für ihr Review, ihre kritischen Anmerkungen und ihre konstruktiven Vorschläge. 

 

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