„Down to earth“ – von der „gutmütigen Utopie“ zur realen Welt

Erwiderung zu bisher erschienenen Beiträgen zum Diskurs „Integrierte Versorgung als regionale Regelversorgung“

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender OptiMedis AG, Hamburg

Sieben Beiträge sind bisher zu unserem im September 2020 gestarteten Diskurs „Integrierte Versorgung als regionale Regelversorgung“ im Observer Gesundheit erschienen (s. Übersicht am Ende dieses Beitrags). Die besondere Rolle der Managementgesellschaften wurde dabei beleuchtet, aber auch die Sichtweise aus dem Blickwinkel der Krankenhäuser sowie der Krankenkassen. Heute nun nimmt der Initiator zu den Vorschlägen, Einwänden und Kritikpunkten der Autoren detailliert Stellung und benennt konkret die Notwendigkeiten für ein Gelingen eines solchen Vorhabens. Er knüpft damit auch an seine erste Replik vom 18. Januar 2021 an.

 

Das Vorantreiben einer patientenorientierten, regionalen und integrierten Versorgung erfordert viel Aufwand und braucht Mut – daher möchte ich zunächst allen danken, die sich in dieser Diskussion so engagieren.

Allein schon diese ernsthafte und tiefgehende Debatte lohnt die Anstrengungen – und hilft hoffentlich uns allen, wenn wir selbst oder unsere Angehörigen einmal als Patienten darauf angewiesen sind, dass die Versorgungskette gut funktioniert. Nils Dehne lieferte mir mit seinem Beitrag die Idee für die Überschrift. Ich weite diese Replik 2.0 aber auch auf die Kommentare und Vorschläge aus.

 

Modell erfordert Mut, Risikobereitschaft und Professionalität

Lassen Sie mich zunächst mit einem Missverständnis aufräumen. Das vorgeschlagene Modell ist keineswegs eine „gutmütige Utopie“, sondern erfordert von den Regionalen Integrationseinheiten und ihren Gesellschaftern erheblichen Mut und eine hohe betriebswirtschaftliche Risikobereitschaft. Gleichzeitig verlangt es ihnen aber auch sehr viel Professionalität ab. Sie müssen wissen, wo die Fehlanreize in den Sektoren liegen, welche Probleme dadurch in der Versorgung entstehen und wie sie vermieden werden können. Zusätzlich braucht es Wissen darüber, wie Gesundheit durch die Interaktion von Bürgern, Patienten und Umwelt mit den jeweiligen Akteuren der unterschiedlichen Fachberufe in Medizin und Pflege gefördert und zusammen mit den sozialen Determinanten von Gesundheit erfolgreich verbessert werden kann. Und es verlangt intensives Wissen um die neuesten Impulse aus Medizin und Versorgung. Darüber hinaus ist eine hohe emotionale und kommunikative Intelligenz wichtig. Nur mit diesen Fähigkeiten – denn Machtmittel gegenüber Leistungserbringern und Patienten soll sie ja nicht bekommen – wird die Regionale Integrationseinheit in der Lage sein, Effizienzgewinne zugunsten der Krankenkassen und der Gesellschaft zu produzieren.

Vielleicht war die Beschreibung bisher noch nicht deutlich genug, weshalb die Risikobereitschaft erforderlich ist. Es wäre problematisch, die Regionalen Integrationseinheiten zu Unternehmen zu entwickeln, die sich auf einer festen Förderungsbasis um die Optimierung der Versorgung kümmern. Damit könnte zwar eventuell auch Gutes für die Patienten entstehen, aber auf der Systemebene würden erst einmal viele neue Koordinierungsstellen add-on geschaffen werden, die sicherlich einen Automatismus zur eigenen Ausdehnung entwickeln würden. Und die Zahl der möglichen Unterstützungsmaßnahmen, für die eine Ausweitung der Fördermittel beantragt werden könnte, ist prinzipiell unendlich. In einer Welt der knappen Ressourcen, und wir alle wissen, welche Herausforderungen die neue Leitung des Gesundheitsministeriums für Ende 2021 erwartet, finde ich eine solche Vorstellung unredlich. Entsprechende Pilotprojekte wären lokal vielleicht denkbar, aber schon kurzfristig bei entstehenden Engpässen der Krankenkassen oder der öffentlichen Hand zum Scheitern verurteilt und damit nicht im Einklang mit einer Strategie der Nachhaltigkeit für die Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte. Gleiches befürchte ich auch für Strategien der Mischung von Primärversorgungspauschalen mit modularisierten Vergütungen nach EBM, wie sie etwa Andreas Schmid kürzlich in Verbindung mit Überlegungen zur Finanzierung der PORT-Zentren diskutiert hat.[1]

 

Essentiell: Der wirtschaftliche Zwang zur Erzielung von Effizienzgewinnen

Stattdessen haben wir in der Autorengruppe ein Modell empfohlen, in dem sich die Regionalen Integrationseinheiten durch die erzeugten Effizienzgewinne selbst finanzieren müssen, indem sie in ausreichendem Maße Effizienzgewinne produzieren. Robert Paquet „glaubt“ nicht, dass diese Effizienzgewinne eintreffen. Und er hat recht – „sicher“ ist das nicht, ohne höchste Professionalität und die von uns dargestellte Verknüpfung mit einer regionalen Unterstützung, einer Start-Up-Finanzierung, einer klaren Zieldefinition durch die Politik und einem Public Monitoring wird dies nicht in ausreichendem Maße erfolgen. Man darf aber nicht vergessen, dass es international und (nicht zuletzt aus unserer eigenen Erfahrung) national eine hinreichende Evidenz dafür gibt, dass Effizienzgewinne möglich sind. Auch ist bekannt, dass in Deutschland noch ein erhebliches Maß an Überversorgung besteht.

Doch genau das ist das unternehmerische Risiko für die Regionalen Integrationseinheiten. Bei dem Risiko einer Insolvenz müssen sie alles tun, um die Progression von Erkrankungen zu vermeiden und die Versicherten der Partnerkrankenkassen maximal kompetent zu machen in der Vermeidung bzw. im Umgang mit ihrer Erkrankung. Sie müssen sich darum kümmern, ineffiziente Versorgungsangebote durch Vereinbarungen mit den entsprechenden Leistungserbringern aus der Versorgung zu nehmen und durch intelligentere, evtl. auch digitale Angebote zu ersetzen. Und es kann für sie lohnend sein, in höhere Versorgungsintensität heute zu investieren, um dann in der Folgezeit durch weniger Krankengeld und Behandlungsaufwendungen und damit niedrigere Kosten, die den Partnerkrankenkassen entstehen, wieder zu profitieren. Ihr Verdienst besteht damit in der Produktion und Entwicklung von Gesundheit.

 

Keine Zwangsgewalt der Regionalen Integrationseinheiten

In unseren Lösungen, z. B. im Kinzigtal, dem Werra-Meißner-Kreis und dem Schwalm-Eder-Kreis, entwickeln wir diese Konzepte immer weiter, und genau das werden auch andere tun, die sich vertraglich der gleichen Business-Logik verpflichten. Dazu brauchen die Regionalen Integrationseinheiten aber keine Zwangsgewalt oder Verfügung über die Vergütungen der aktuellen Leistungserbringer von Pflege bis Ärzteschaft, was wahrscheinlich einzelne Kommentatoren vermutet hatten. Zum einen wäre damit die Idee wahrscheinlich schnell tot, da der Widerstand dagegen sicherlich ausreichend stark wäre, um jede Politik und jede Regionale Integrationseinheit in die Knie zu zwingen. Zum anderen wäre auch schon allein der administrative Zusatzaufwand der Neuverhandlung und das Neuarrangement der Zahlungsflüsse der heutigen Regelvergütungen viel zu teuer.

Allerdings wird durch den value-basierten Ansatz unseres Vorschlags und die darin enthaltenen Public Reportings eine optimale Grundlage für zukünftige Neuverhandlungen bei der Vergütung geschaffen, wenn nicht nur einzelne Modellprojekte, sondern hundert und mehr Regionale Integrationseinheiten gezeigt haben, welche Ergebnisse durch veränderte Versorgungsformen erzielt werden können. In Anlehnung an das AMNOG-Verfahren oder die Nutzenbewertung bei den DiGAs bestünde dann die Möglichkeit, positive Veränderungen der Morbidität und Mortalität und in erweiterter Form auch Patient Reported Experiences und Patient Reported Outcomes in die Verhandlungen zunächst auf regionaler Basis und später vielleicht auch auf bundesweiter Ebene einfließen zu lassen. Mit Recht fordert Professor Dr. Eckhard Nagel (Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung – DGIV) in der Ärzte Zeitung vom 10. Februar 2021: Zunächst müsse definiert werden, was an Versorgung notwendig sei, um dann ein sinnvolles Vergütungssystem anzuschließen. Vergütung solle ein Anreiz sein, kein Wert an sich. „Die Vergütungslogik muss der Versorgungslogik folgen.“

Für den Start reichen regional und situativ definierte Anreize und Investments durch die Regionalen Integrationseinheiten zusätzlich zu den weiterhin laufenden Vergütungen der Regelversorgung aus, um allmähliche Verbesserungen zu produzieren: an der einen Stelle die Finanzierung von zusätzlich qualifizierten Mitarbeitern als Gesundheitslotsen in Einrichtungen des Gesundheitswesens, an der anderen Stelle die Einrichtung einer funktionellen medizinischen Trainingseinheit; dafür woanders die Unterstützung zum Aufbau einer psychiatrischen Pflege, die Startfinanzierung einer mobilen Reha, die Moderation eines besseren Austauschs von Ärzten und Pflegenden in einer stationären Pflegeeinrichtung und wieder an anderer Stelle die Einleitung eines Prozesses zur Transformation eines kleinen Krankenhauses in ein intersektorales Gesundheitszentrum.

 

Gezieltes, frei mögliches Investment erforderlich – Gewinnorientierung positiv nutzen

Hierfür wird ein sehr gezieltes und gleichzeitig frei mögliches Investment erforderlich sein; deshalb komme ich zu dem von Matthias Gruhl und Matthias Mohrmann empfohlenen Topos der Vermeidung von Gewinnorientierung. Dadurch, dass wir die freiwillige Teilnahme von Patienten und Leistungserbringern als Grundvoraussetzung für die (teil-)standardisierten regionalen Integrationsverträge postuliert haben, und durch die Ankopplung an dem bei den Krankenkassen entstehenden Nutzen wird es möglich, Gewinnorientierung positiv zu nutzen, ohne dass er den wahrscheinlich von Gruhl und Mohrmann befürchteten Schaden produziert. Positiv dahingehend, dass die Gewinnorientierung die Bereitschaft und das Interesse auslöst, zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil an der richtigen Stelle und zum optimalen Zeitpunkt in die Verbesserung der Versorgung zu investieren, um damit Gesundheitseffekte zu produzieren, die kurz- oder mittelfristig Effizienzgewinne für die Krankenkassen bringen (aus denen die Regionale Integrationseinheit dann wiederum ihre Einnahmen bezieht).

Damit eine Regionale Integrationseinheit aber überhaupt investieren kann, braucht sie eine gewisse Grundlage. Was wir 2006 im Kinzigtal über die Anschubfinanzierung der Integrierten Versorgung von den Krankenkassen und die Kollegen in Billstedt-Horn über die Finanzierung aus dem Innovationsfonds erhielten, haben wir inzwischen weiterentwickelt zu einer Startfinanzierung aus Eigenmitteln der Gesellschafter der Regionalen Integrationseinheit und z. B. durch Banken und lokale Unternehmen. Letztere versprechen sich daraus zurecht einen Nutzen für die eigenen Mitarbeiter – im Fall der nordhessischen Regionalen Integrationseinheit ist dies z.B. die B. Braun Melsungen AG, die dort ihren Hauptstandort hat. Ergänzt wird diese Finanzierung durch Abschläge der jeweiligen Krankenkasse auf den später ermittelten Effizienzgewinn. Die Abschläge haben eher eine Darlehensfunktion: Erst bei real eingetretenem Erfolg wandeln sie sich in Einnahmen um.

Meine Sorge: Die Verpflichtung auf eine gemeinnützige Rechtsform würde zum einen die Möglichkeiten begrenzen, Darlehen und Eigenmittel einsetzen zu können, zum anderen eine sehr zurückhaltende Investitionsplanung bedingen und zum dritten das Business Modell „Regionale Integrationseinheiten“ gegenüber einer Fortsetzung der klassischen Möglichkeiten des Investments im Gesundheitswesen benachteiligen. Gleiches würde gelten für die Kappung von Gewinnmöglichkeiten. Allerdings wird ja ohnehin ein zunehmender Wettbewerb von Anbietern den Krankenkassen die Möglichkeiten geben, günstigere Verteilungssätze der eingetretenen relativen Erfolge zu verhandeln. Und die Anbieter müssen diesen Erfolg ja immer gegen die Entwicklung der Vergleichskosten in Deutschland erreichen – und je mehr Prozent der Versicherten nach dem neuen Modell intelligenter und preisgünstiger gesundheitlich versorgt werden, um so professionell herausfordernder wird es sein, gegenüber den durchschnittlichen Vergleichskosten einen Vorteil zu erreichen.

 

Vorschlag: „Zukunftsfonds Regionale Gesundheit“, gespeist auch durch private Anleger

Eine allzu knappe Startfinanzierung kann sich dabei als ein Engpassfaktor herausstellen. Sie kann die Regionale Integrationseinheit zwingen, zu wenig zu investieren und folglich eine sehr langsame Erfolgskurve zu erzielen, die evtl. dann auch nicht ausreicht, um mithilfe des Effizienzgewinnes die laufenden Kosten zu decken. Anbetracht der Finanzierungsengpässe der Krankenkassen und um auch kleineren Regionalen Integrationseinheiten ohne großen Kapitalhintergrund die Möglichkeit zum Aufbau zu geben, haben wir den Vorschlag eines eigenständigen „Zukunftsfonds Regionale Gesundheit“ eingebracht, der die Zuweisungen des Gesundheitsfonds an die Krankenkassen, die derartige Verträge mit Regionalen Integrationseinheiten abgeschlossen haben, anfänglich erhöhen soll (und damit den Krankenkassen die Möglichkeit gibt, diese zusätzlichen Mittel an die Regionalen Integrationseinheiten weiterzugeben). Ab dem elften Jahr soll das Geld dann durch degressive Abschläge wieder von diesen über die Krankenkassen in den Fonds zurückfließen. Dadurch „rechnet” sich der Zukunftsfonds insgesamt und wird damit auch für Versorgungswerke und private Anleger attraktiv. Unseres Erachtens ist das ein sehr interessantes Instrument, das eine intelligente Antwort auf die Finanzknappheit des Gesundheitsfonds 2022 ff. darstellt. Es würde helfen, Investitionsmittel in die Optimierung und Effizienzsteigerung des Gesundheitswesens zu pumpen und – bei Erfolg, z. B. wenn die angestrebten 10 Prozent und später 25 Prozent der Versicherten davon profitieren – nachhaltig die Kostensteigerung der Versorgung in den zukünftigen Jahrzehnten abmildern zu können. Es ist gerade nicht eine Änderung des Morbi-RSA, wie es Paquet befürchtet, sondern eine Ergänzung. Dadurch, dass die Krankenkassen bei Abschluss der damit einhergehenden Verträge mit den Regionalen Integrationseinheiten diese „on-top-Beträge” der Zuweisungen an sie weiterleiten, erhielten die Regionalen Integrationseinheiten neben ihren Gesellschaftereinlagen und den zu diesem Zeitpunkt ja noch unsicheren Abschlagszahlungen die notwendigen Sicherheiten, um in die Optimierung der Versorgung investieren zu können. Unter zusätzlicher Nutzung von Bankkrediten wären entsprechende Investitionen dann schneller möglich.

Aber: Und hier sehen wir uns wieder als Sachwalter des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems; die Regionalen Integrationseinheiten und die Partnerkrankenkassen stehen auch unter Erfolgszwang. Die Krankenkassen müssen dann ab dem elften Jahr auch eine Zuweisungskürzung in Kauf nehmen, die damit wieder den Zukunftsfonds auffüllt. Das heißt, die Daumenschrauben für die Regionale Integrationseinheit sind dann so, dass ihnen ab diesem Zeitpunkt ein Teil des Effizienzgewinns entzogen wird, d. h. sie müssen schon einen größeren Erfolg erzielt haben, um mit dem verbleibenden Effizienzgewinn haushalten zu können. Gemeinnützige Organisationen und Kommunen könnten hier überfordert sein, derartige Risiken zu tragen. Im Fall einer kommunalen Trägerschaft müssten auch zunächst Bedenken ausgeräumt werden, wie sie die Kommunalaufsicht schon heute gegenüber den deutlich geringeren wirtschaftlichen Risiken für die Trägerschaft für kommunale Medizinische Versorgungszentren äußert.

 

Krankenkassen werden in ihren Freiheiten nicht beschnitten

Damit komme ich zum nächsten Missverständnis, Krankenkassen würden in dem vorgeschlagenen Modell in ihren Freiheiten beschnitten. Ganz im Gegenteil. Krankenkassen sollen und können weiterhin ihre Versicherten begleiten und beraten, und sie können weiterhin ihnen nützlich und opportun erscheinende Selektivverträge abschließen. Ihre Versicherten bleiben auch ihre Versicherten, wenn sie in einer Region leben, die von einer Regionalen Integrationseinheit gemanagt wird, mit der sie einen regionalen Integrationsvertrag abgeschlossen haben. Und ihre Versicherten sind ja auch weiterhin frei, deren Angebote zu nutzen oder nicht. Krankenkassen müssen auch keine Regionalverträge nach dem teilstandardisierten Modell mit der Zuweisungserhöhung durch den Zukunftsfonds abschließen, sondern können ihre eigenen Modelle entwickeln (allerdings würden sie dann vermutlich nicht den Vorteil der Zuweisungserhöhung erfahren). Nach wie vor gilt die Vertragsfreiheit.

Matthias Mohrmann hat in seinem Kommentar den schönen Satz formuliert: „Entscheidend ist der ‚Zug zum Tor‘, eine Abschlussorientierung, also der ernsthafte Wille, unser Gesundheitssystem gemeinsam voranzubringen.“ Hier setzt nun meine Sorge ein. Karl-Heinz Schönbach, ehem. Leiter des Geschäftsbereichs Versorgung im AOK-Bundesverband, hat den berühmten Stoßseufzer „Wie schnell ist nichts passiert!“ bereits 1999[2] geprägt und 2012 noch einmal als Buchtitel wiederholt.

 

Regierungsamtlicher Aktionsplan notwendig

Meines Erachtens wäre ein Vertrauen auf den „Willen“ der Sektoren und der Krankenkassen zu wenig. Jenseits des Willens der Beteiligten benötigen wir alle auch dafür förderliche Strukturen und Anreize. Hier besteht Nachbesserungsbedarf! Und da reichen auch die kleinen und begrüßenswerten Modulationen des Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetzes (GPVG) nicht aus. Deshalb die Forderung nach einem regierungsamtlichen Aktionsplan mit der Aufforderung an die Krankenkassen, in bestimmten Zeitfristen für mindestens 10 Prozent und dann 25 Prozent ihrer Versicherten populationsorientierte Verträge anzubieten. Wesentlich ist hierbei auch eine proaktive Aufsicht des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS) – proaktiv und nicht restriktiv, wie Paquet es offensichtlich verstanden hat, dem allerdings auch jede Veränderbarkeit des BAS so unmöglich erscheint, dass es ihm „den Atem verschlägt“.

Der vorsichtigen Hoffnung von Mohrmann, dass Krankenkassen zu einem stärkeren gemeinsamen Handeln in der Lage sind, würde ich mich ja gerne anschließen. Allerdings gilt auch hier, dass die letzten 20 Jahre dafür leider gerade nicht den Erfolgsbeweis gebracht haben und dies nicht nur aufgrund der Morbi-RSA-Streitigkeiten. Insofern muss vermutet werden, dass die bestehenden Wettbewerbsanreize hier wohl in eine andere Richtung wirken. Unser Regionalisierungsansatz wird allerdings ein stärkeres gemeinsames Handeln deutlich befördern, und ich bin mir sicher, dass gerade auch die regional kleineren (aber dafür national vielleicht sehr großen) Krankenkassen relativ schnell kreative Verbundlösungen dafür finden werden.

 

Kommunen können Anstoßgeber sein

Ein weiteres Missverständnis prägt die Diskussion um die Rolle der Gebietskörperschaften, der Landkreise und Kommunen. Ihnen kommen in unserem vorgeschlagenen Modell zunächst insbesondere zwei Rollen zu: Sie können, aber sie müssen nicht als Anstoßgeber für die öffentliche Diskussion um den Gesundheitsstatus der lokalen Bevölkerung fungieren. Sie können damit die Bildung von Regionalen Integrationseinheiten anregen und die Krankenkassen unter einen gewissen Rechtfertigungsdruck setzen, integrierte Verträge mit einer Regionalen Integrationseinheit zu verhandeln und abzuschließen. Erzwingen können sie dies nicht, aber sie können damit in gewisser Weise vertrauensbildend zugunsten der Regionalen Integrationseinheiten wirken.

Paquet hatte mit Recht darauf hingewiesen, dass insbesondere bei privatwirtschaftlichen Unternehmen ein solcher Vertrauensbildungsprozess von Bedeutung ist. In einem späteren Stadium, wenn entsprechende Verträge abgeschlossen sind, können und sollten sie dann dafür Sorge tragen, dass die Regionalen Integrationseinheiten auch regional und nicht nur bundesweit auf ihre Ergebnisse hin monitoriert und ggfls. öffentlich herausgefordert werden, ganz im Sinne der Daseinsvorsorge und des Gemeinwohls.

Beabsichtigt ist damit ein System von „Checks and Balances“. Krankenkassen, Gebietskörperschaften und Bundesländer ergänzen sich in ihren wirtschaftlichen Interessen an der Vermeidung einer zu hohen Belastung für die Beitragszahler, und die Betriebe in ihrem Interesse an einem positiven Gesundheitsstatus der Bevölkerung. Sofern eine Regionale Integrationseinheit sich von diesen Interessen abwendet, können Krankenkassen die Verträge kündigen und andere Regionale Integrationseinheiten zur Übernahme der Verträge und damit auch den eingegangenen Verpflichtungen anregen.

 

Mittelfristiges Ziel ist Allgemeinverbindlichkeit regionaler Verträge

Zu einem späteren Zeitpunkt übernehmen Gebietskörperschaften in unserem Modell noch einmal eine besondere Rolle, und zwar dann, wenn sich über eine längere Zeit trotz intensiver Werbung nur wenige Krankenkassen zum Abschluss regionaler Verträge bereit erklären, sodass keine ausreichende Transformationskraft hin zu einem Anreiz auf eine wirkliche Integration der Versorgung entwickelt wird. Somit würde sich die alte sektoral aufgespaltene Regelversorgung mit ihren Fehlanreizen der Mengenentwicklung doch behaupten. Ob dies nun oberhalb oder unterhalb von 75 Prozent ist und ob dafür drei oder mehrere Jahre abgewartet werden muss, darüber lässt sich trefflich streiten. Irgendwann müsste aber dennoch überlegt werden, wie und ab wann man eine „Allgemeinverbindlichkeit“ regionaler Verträge erreichen kann, um zum einen die wirklichen Effizienzpotenziale auf eine höhere Stufe zu heben und zum anderen bei den teilnehmenden Leistungserbringern die Integrierte Versorgung zur „default“-Version werden zu lassen.

Es gibt übrigens noch einen anderen Grund für die Notwendigkeit, über eine gewisse Verpflichtungsmöglichkeit nachzudenken: Wenn zwei Drittel der Krankenkassen mit der Regionalen Integrationseinheit Verträge abgeschlossen haben und sich genügend Netzwerkpartner daran beteiligen, bei und mit den Patienten positive Ergebnisse zu produzieren, dann werden die anderen Krankenkassen bis zu einem gewissen Grad indirekte Nutznießer. Man könnte auch sagen „Trittbrettfahrer“. Denn z. B. intensiver auf Ernährung und körperliche Bewegung achtende Ärzte werden bei dem Versicherten der Nicht-Partnerkrankenkasse dieses Wissen ja nicht vergessen. Auch hier sieht unser Modell keine „Einheitskasse“ vor, wie es Paquet befürchtet, da die betreffenden Krankenkassen in ihrer Servicegestaltung, ihrer Beitragssatzkalkulation und ihren digitalen Tools weiterhin ihrem eigenen Konzept folgen. Es sei außerdem daran erinnert, dass es den Versicherten aller Kassen ja nach wie vor freisteht, auf die Zusatzangebote der Integrierten Versorgung zu verzichten.

In unserem Vorschlag hatten wir den Gebietskörperschaften die Möglichkeit gegeben, diese Allgemeinverbindlichkeit anzufordern und damit die Vertragsauswirkungen eines Standardvertrags der regionalen Integrierten Versorgung zu erwirken, der nach einem entsprechenden Verfahren auf der Bundesebene zu entwickeln wäre. Wie oben beschrieben ist dies jedoch eher als eine Art Notlösung konstruiert, die nur dann greift, wenn keine freiwilligen Vertragslösungen zustande gekommen sind und wenn sich nicht ohnehin in Reaktion auf den politischen Druck Krankenkassen in den Regionen zu vertragsschließenden Verbünden zusammengefunden haben, sodass bereits dadurch eine Quasi-Allgemeinverbindlichkeit nahezu erreicht wird.

 

Kein Anlass für „Rückfall in eine Kleinstaaterei“ 

Matthias Mohrmann befürchtet zudem durch regionale Verträge einen „Rückfall in eine Kleinstaaterei“. Dazu gibt es aber keinen Anlass. Sowohl die Krankenkassen als auch die Regionalen Integrationseinheiten werden aus eigenem wirtschaftlichen wie qualitativen Interesse dafür Sorge tragen, dass die Patienten auf der Versorgungsstufe und ggfls. in dem überregional spezialisierten Zentrum behandelt werden, welches die besten Ergebnisse für den Patienten verspricht und damit Folgekosten in den nächsten Jahren möglichst niedrig hält. Außerdem bleibt die klassische Regelversorgung weiterhin erhalten, die Selbstverwaltungsorgane bleiben, die § 90-Gremien auf Landesebene werden weiterhin die Bedarfsplanung diskutieren. Der ganze Vorschlag bildet eher eine evolutionäre allmähliche Veränderung ab.  Die Verfasser sind sich bewusst, dass er zunächst nur eine Stufe auf der Transformation von der fragmentierten hin zu einer intersektoral integrierten Lösung von Gesundheit und Versorgung ist.

 

Selbstverwaltungsstrukturen brauchen grundlegende Reform

Mit Nils Dehne sind wir der Meinung, dass die bestehenden sektoralen Selbstverwaltungsstrukturen aus sich heraus nur schwer in der Lage sind, zukunftsfähige, auf die Patientenerfahrung und über alle Krankenkassen hinweg ausgerichtete Lösungen zu entwickeln. Sie bräuchten „grundlegende Reformen“, aber auch dafür bräuchten sie Anstöße von außen. Die sektorale Fragmentierung der Selbstverwaltung, und hier bitten wir nicht nur an die Vertretungen der Ärzteschaft, der Krankenhäuser und der Krankenkassen zu denken, sondern auch an all die heute völlig unterrepräsentierten Vertretungen der Pflege und aller anderen Gesundheitsfachberufe, führt geradezu zwingendermaßen zum stetigen Verlust des Blicks auf das Lebensumfeld, die gesamte Population und damit die Public Health. Unser Vorschlag könnte genau diesen Anstoß darstellen, der durch die Erfahrung alternativer Geschäftsmodelle und Versorgungskonzepte den notwendigen Impuls einbringt.

 

Volks- und betriebswirtschaftliche Interessen werden zusammengebracht

Damit komme ich zurück auf die eingangs erfolgte Zurückweisung des Begriffs der „gutmütigen Utopie“. Bei aller Betonung, dass mit diesem Vorschlag kein „Wolkenkuckucksheim“, sondern ein ernstzunehmendes, durchaus auch risikobehaftetes und deshalb wahrscheinlich vorwiegend privatwirtschaftlich zu tragendes neues Geschäftsmodell im Gesundheitswesen geschaffen wird, ist dennoch festzuhalten, dass dieses Modell ein besonderes Versprechen enthält.

Das Versprechen, dass wir damit erstmalig im Gesundheitswesen volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Interessen zusammenbringen können, da der Betreiber einer Regionalen Integrationseinheit nur dann einen Ertrag generieren kann, wenn er es schafft, den Gesundheitsstatus einer regionalen Bevölkerung relativ zu dem Rest von Deutschland zu verbessern und die Patienten und Bürger einer Gebietskörperschaft zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort gut zu versorgen. Damit generieren wir betriebswirtschaftlich auf die Erzielung von Gemeinwohl festgelegte, aber privatwirtschaftlich organisierte Unternehmensformen im Gesundheitswesen, die nicht mehr den inneren Widerspruch der heutigen Trägerstrukturen zwischen einzelbetriebswirtschaftlicher Optimierung und dem bestmöglichen Gesundheitsergebnis für den Patienten aushalten müssen, sondern genau durch die Ausrichtung auf das letztere das beste Ergebnis für sich erzielen. Den ein oder anderen wird dies an die „Social Impact“- und „Impact Economy“-Diskussion erinnern[3], die zwar bisher verstärkt in den angelsächsischen Ländern geführt wird, aber auch in Deutschland mehr Beachtung findet. Die konkrete Rechtsform wäre dann letztendlich unerheblich.

 

[1] Schmid, Andreas; Optionen für eine zukunftsfähige Vergütung aus Perspektive der Primärversorgung. In: G+S 6(2020 S. 6-13 https://doi.org/10.5771/1611-5821-2020-6-6

[2] Übrigens auch heute noch unbedingt lesenswert die Referenz von Klaus Jacobs auf diesen Satz im Observer Gesundheit vom 1. Juni 2018.

[3] Vgl. https://www.griffith.edu.au/engage/professional-learning/content-centre/impact-economy-1

 

Für eine tiefergehende Lektüre gibt es eine ausführliche Langfassung des Vorschlags der neunzehn Autoren. Alle Texte finden Sie unter https://optimedis.de/iv-als-regelversorgung. In einer LinkedIn-Gruppe wird die Diskussion weitergeführt, vor allem mit Blick auf die Aufnahme in die Wahlprogramme der Parteien für die nächste Bundestagswahl unter https://www.linkedin.com/groups/9029235/. (Hinweis von H. Hildebrandt)

 

 

Bisher sind zu Reformüberlegungen für eine regionale integrierte Versorgung im Observer Gesundheit folgende Beiträge erschienen:

Dr. Robert Paquet: Ein kurzer Antrag von Bündnis 90 / Die Grünen zur Regionalisierung. Reicht das als Hebel für die Umgestaltung des Gesundheitswesens? – 9. September 2020

Dr. Robert Paquet: Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene. Der Vorschlag einer Autorengruppe um Helmut Hildebrandt – 11. November 2020

Dr. Helmut Hildebrandt: Neuausrichtung des deutschen Gesundheitssystems auf regionaler Ebene – eine Replik und Diskussion. Zur Analyse von Dr. Robert Paquet im Observer Gesundheit zu diesem Thema – 18. Januar 2021

Dr. Robert Paquet: Integrierte Versorgung vor Drohkulisse. Erwiderung auf die Analyse von Dr. h.c. Helmut Hildebrandt – 19. Januar 2021

Nils Dehne: Wie eine gutmütige Utopie einer fernen Welt. Integrierte Versorgung als regionale Regelversorgung – Der Diskurs geht weiter – 3. Februar 2021

Dr. Matthias Gruhl: Glaubwürdigkeit statt unternehmerisches Eigeninteresse. Die besondere Rolle der Managementgesellschaften im Hildebrandt-Modell der regionalen integrativen Versorgung – 5. Februar 2021

Matthias Mohrmann: Unser Gesundheitssystem: Muss alles anders werden, damit es besser wird? Vorschläge für eine stärker regional geprägte und vernetzte Versorgung zum Wohle des Patienten – 8. Februar 2021


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