Die Karten sind gelegt

Das finale GKV-Finanzdebakel der Ampel

Dr. Christopher Hermann

Der Befund ist ebenso alarmierend wie beunruhigend: Der GKV steht Anfang 2025 ein Beitragssatzsprung zuvor nie gekannten Ausmaßes bevor. Mit der von den Experten des GKV-Schätzerkreises Mitte Oktober einvernehmlich verabschiedeten Prognose über die Höhe von Einnahmen und Ausgaben in der GKV für das kommende Jahr öffnet sich ein Finanzloch in der sozialen Krankenversicherung von annähernd 14 Milliarden Euro.

Da diese Lücke noch nach den Festlegungen der gescheiterten Ampelkoalition ausschließlich durch höhere Belastungen von Versicherten und Arbeitgebern geschlossen werden soll, muss der rechnerische durchschnittliche Zusatzbeitragssatz massiv um 0,8 Beitragssatzpunkte auf dann 2,5 % angehoben werden. Die Symbolik der parallelen Vorgänge könnte eindringlicher kaum sein. Am Tag des Ampelbruchs dekretierte das BMG gleichzeitig offiziell den höchsten Beitragssatzanstieg seit Jahrzehnten und besiegelte damit das GKV-Finanzdebakel der Ampel final.

Seit 2019 steht damit bereits die sechste Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes an. Lag dieser Ende des letzten Jahrzehnts – bei Start der (vorerst?) letzten großen Koalition (GroKo III) mit BMG Spahn – noch bei 0,9 Prozent, wird er sich dann innerhalb einer halben Dekade annähernd verdreifacht haben. Der durchschnittliche Gesamtbeitragssatz der Krankenkassen springt 2025 auf ein Allzeithoch jenseits von 17 % der beitragspflichtigen Einnahmen. Ein Desaster, zu dessen historischer Dimension sich selbst BMG Lauterbach noch am Tag der Veröffentlichung der Schätzerkreisergebnisse im Bundestag mit einem irritierenden Impetus der vermeintlichen Alternativlosigkeit bekannte.

 

1. Ursachenanalyse nach Gutsherrenart

In seiner Ursachenanalyse kam der BMG im Parlament über nebulöse Begründungen auf der Überschriftenebene nicht hinaus. Neben knappen Hinweisen auf Inflation und höhere Löhne stellte er fest: „Wir haben in den letzten Jahrzehnten Strukturreformen versäumt, und das ist auch ein Versäumnis meiner eigenen Partei gewesen“ (Bt-Prot 20/25112). Mit dieser historischen Volte zur (vermeintlich) präziseren zeitlichen Dimensionierung der „Versäumnisse“ machte der BMG zum einen einen Horizont auf, der völlig unspezifisch in eine nicht näher definierte Vergangenheit weist. Vor allem aber minimiert sich zum anderen gleichsam automatisch der Anteil eigener möglicher politischer Versäumnisse im zeitlich überschaubaren Vorfeld der gegenwärtig desaströsen Situation der GKV letztlich allenfalls auf eine vorgebliche Quantité négligeable. Es bleibt zudem auch thematisch gänzlich unbestimmt, wo konkret – auf den verschiedenen Systemsteuerungsebenen, der Einnahmengenerierung oder der Ausgabenseite – die beklagten zentralen Versäumnisse zu verorten sein sollen.

Vielmehr scheint die Einlassung zu den Ergebnissen des Schätzerkreises „im Gesundheitssystem“, wie sich der BMG ausdrückt, viel eher lediglich als Staffage dafür zu dienen, unmittelbar die eigenen „großen Reformen“ und deren vermeintlich strukturverändernde Kraft zu loben. Das reale Beitragssatzfiasko für 2025, dessen konkrete Ursachen und welche gesundheitspolitischen Handlungsoptionen grundsätzlich bestehen, spielen in den Ausführungen im Weiteren keine Rolle mehr. Freilich wurde der BMG dazu auch von den (Oppositions-)Abgeordneten in der sich anschließenden Regierungsbefragung im Bundestag nicht weiter gefordert.

 

2. Konzeptioneller Absentismus

Bei einer näheren Befassung mit dem gesundheitspolitischen Agieren der Ampelkoalitionäre während ihrer dreijährigen Amtszeit – der Koalitionsvertrag (KOV) wurde am 24.11.2021 geschlossen – wird freilich schnell deutlich, in welchem substantiellen Umfang die bisherige „Fortschrittskoalition“ (Eigenlob) Verantwortung für das aktuelle Finanzfiasko trifft. Die eingetretene Situation ist zwar einerseits zweifellos – auch – das Resultat teilweise jahrzehntelanger struktureller Reformabstinenz verschiedener Vorgängerkoalitionen. Andererseits waren Parteien der Ampelkoalition während der gesamten Berliner Republik stets in der einen und anderen Konstellation an Bundesregierungen maßgeblich beteiligt. Sie stellten gerade seit den Nullerjahren wiederholt selbst die Spitze des BMG (bis 2013, ab 2021) und bestimmten auch in der Zwischenperiode das gesundheitspolitische Agenda-Setting und die Gesetzgebung maßgeblich mit.

Gleichwohl ließ bereits der Ampel-KOV keinen Fokus auf eine originäre gesundheitspolitische Prioritätenliste erkennen. Ausgelobt wurde ein buntes Potpourri von mehr als einhundert nacheinander aufgeführten Einzelvorhaben. Die konzeptionelle Konturierung der finanziellen Zukunftsfähigkeit der GKV fiel dabei mit lediglich zwei Merkposten auffällig mager aus: höhere Beiträge für ALG II- (jetzt Bürgergeld-)Bezieherinnen und -Bezieher aus Steuermitteln – dauerhafter Entlastungseffekt für die GKV rd. 10 Milliarden Euro jährlich –, Dynamisierung des Bundeszuschusses zur GKV.

Dass mit einem sich in diesen Ankündigungen erschöpfenden Vorgehen die dauerhafte Konsolidierung der GKV-Finanzen verfehlt werden würde, war bereits bei Verkündung des KOV weithin offenkundig. Die Koalition hat freilich während drei Jahren nie die Kraft gehabt, selbst diesen Minimalansatz auch nur partiell mit Leben zu erfüllen.

Schon den Diskurs über die erkennbar konfliktaffine Thematik der Schaffung einer zukunftsfähigen Finanzarchitektur für die GKV hat die Ampelkoalition von Beginn an absichtsvoll vermieden. Sie stand damit insbesondere in GKV-Finanzierungsfragen ganz in der Kontinuität der vom Tina-Syndrom („There is no alternative“) geprägten GroKo-Jahre. Die weitgehend „vermeintlich alternativlose Sedierung des politischen Diskurses“ (Astrid Séville) in der Ära unter Bundeskanzlerin Merkel bis 2021 wurde prolongiert und hat speziell in Bezug auf die Systemfragen der Krankenversicherung auch für die Ampelkoalition den Erhalt des Status quo zum Maß aller Dinge werden lassen. Selbst inkrementelle Formen systemischer Weiterentwicklung blieben tabu, was das Spektrum politischer Antworten gänzlich auf das Tina-Schema reduziert hat.

Der dadurch implementierte konzeptionelle Absentismus des BMG galt selbstredend parallel ebenso für die soziale Pflegeversicherung (SPV), deren prekäre Finanzsituation seit Jahren eine politische Dauerbaustelle abgibt. Auch in der SPV hat die Ampelkoalition die rudimentären Festlegungen ihres KOV zur finanziellen Entlastung, insbesondere die Übernahme der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige aus Steuermitteln (Entlastungseffekt 3,6 Milliarden Euro jährlich), nicht umgesetzt. Die schon im KOV angekündigte „moderate“ Anhebung des Beitragssatzes zur SPV erfolgte zum 01.07.2023 gleich um 0,35 Beitragssatzpunkte auf 3,4 % (4 % für Kinderlose; § 55 I, III SGB XI). Die ebenfalls angekündigte Prüfung durch eine Expertenkommission bis Ende 2023, die SPV durch eine freiwillige, paritätisch finanzierte Vollversicherung zu ergänzen, wurde nicht realisiert.

Die von BMG Lauterbach zunächst bereits öffentlich in die kommende Legislaturperiode geschobene „große Pflegereform“ wurde zwar von Bundeskanzler Scholz publikumswirksam wieder auf die politische Agenda gesetzt, ist aber (spätestens) durch das vorzeitige Ende der Legislaturperiode bis auf Weiteres obsolet geworden. Ein Referentenentwurf ist nie bekannt geworden. Zwei Tage nach dem Ampelbruch blieb dem BMG allein noch, eine weitere Beitragssatzanhebung um 0,2 Prozentpunkte für 2025 anzukündigen, um die drohende Zahlungsunfähigkeit verschiedener Pflegekassen kurzfristig abzuwenden. Dabei ist die Rest-Koalition nunmehr freilich auf die Zustimmung der (Mehrheits-)Opposition im Bundestag sowie des Bundesrates angewiesen (§ 55 Ia SGB XI).

In der GKV wurden die unzulänglichen KOV-Vereinbarungen in den nach einer monatelangen Hängepartie schließlich Anfang diesen Jahres bekannt gewordenen, lediglich knappe acht Seiten ausfüllenden „Empfehlungen für eine stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ der GKV, die gemäß gesetzlicher Verpflichtung eigentlich bereits spätestens „bis zum 31. Mai 2023“ vorzulegen waren (§ 220 IV SGB V), hinter die Fassade eines generellen fiskalischen Vorbehalts geschoben. Es hieß lediglich noch, man wolle mit dem „schrittweisen Einstieg in die Refinanzierung“ der GKV-Beiträge für Bürgergeldbezieherinnen und -bezieher aus Steuermitteln dann beginnen, wenn es „die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen zulassen“ (BMG-Empfehlungen, 6). Damit wurde genau die gleiche, Alternativlosigkeit suggerierende Floskel recycelt, hinter der sich schon die GroKo III nach gleichlautenden Ansagen im KOV jahrelang versteckt hatte, ohne jemals Umsetzungsschritte tatsächlich einzuleiten. Die Ampelkoalition lieferte lediglich eine triste Doublette ab.

 

3. Selbstblockaden und Finanzakrobatik

Daneben blockierte man sich gegen Ende koalitionsintern selbst über Wochen bei administrativen Routinevorgängen wie der Anpassung der jährlichen Finanzierungsbasis aller Sozialversicherungszweige an die Einkommensentwicklung aller Beschäftigten, die jahrzehntelang unabhängig von jeglicher parteipolitischer Couleur amtierender Koalitionsregierungen in Bonn oder Berlin nie ein veritables Streitthema abgegeben hatte. Konkret ging es um die jährliche Veränderung der Beitragsbemessungsgrenzen zum 1. Januar eines Jahres entsprechend dem Verhältnis der Bruttolöhne und -gehälter der Arbeitnehmer im vergangenen Jahr zu den Löhnen und Gehältern im vorvergangenen Jahr. Dabei beträgt die Bemessungsgrenze in der GKV 75 % derjenigen in der Rentenversicherung.

Der Mechanismus existiert materiell-rechtlich unverändert seit mehr als einem halben Jahrhundert – ein Verdienst der ersten sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Brandt aus dem Jahr 1970 (2. KVÄndG; heute für die GKV verankert in § 223 III iVm § 6 VI, VII SGB V). Die Bundesregierung ist dabei seither durch Gesetz verpflichtet, jährlich durch eine entsprechende Rechtsverordnung lediglich die rechnerisch ermittelten neuen Werte festzusetzen. Dazu konnte sich die Ampelkoalition aber über Wochen nicht verstehen. Die vom federführend zuständigen BMAS im September auf den Weg gebrachte Sozialversicherungsgrößen-Verord­nung 2025 wurde wiederholt von der Tagesordnung der Sitzungen des Bundeskabinetts gestrichen. Ihre Verabschiedung erfolgte erst am 6. November 2024 in der – wie bald danach klar wurde – letzten Ampel-Kabinett­sitzung. Hätte die Ampelkoalition auch diese gesetzliche Verpflichtung tatsächlich weiter ignoriert, wäre in der GKV eine nochmalige Korrektur des neuen Zusatzbeitragssatzes 2025 unausweichlich gewesen. Die strukturell angelegte regressive Belastung für Versicherte mit einem Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze wäre weiter ausgedehnt worden, die einseitige Belastung der Pflichtversicherten nochmals angewachsen.

Auch diese Entwicklung spielte sich vor dem Hintergrund ab, dass namentlich für die maßgeblichen politischen Akteure der finanzielle Konsolidierungsbedarf in der GKV bereits über Jahre mit zunehmender Dramatik offensichtlich gewesen sein musste. Der gesetzgeberische Hyperaktionismus der Spahn-Ära mit wiederholten Ausgabenschüben für die GKV im Milliarden-Euro-Bereich hat die politisch geerbten systemischen Finanzierungslücken, da punktuell konfliktbehaftet, unbearbeitet gelassen und ohne nachdrückliche Beachtung neue permanent weiter aufgerissen. Einzig eine über mehrere Jahre anhaltend kommode Wirtschaftsentwicklung und im Weiteren die Folgen der Corona-Pandemie mit allgemein akzeptierten hohen direkten Sonderzuwendungen des Bundes aus Steuermitteln an den Gesundheitsfonds (2020 bis 2023 48,5 Milliarden Euro) hatten den schon gegen Ende der GroKo III grundsätzlich anstehenden finanzpolitischen Offenbarungseid einstweilen verhindert.

Die Ampelkoalition übernahm offensichtlich nur allzu gerne gegenüber einer pandemiegeplagt höchst verunsicherten Öffentlichkeit nahtlos das zunächst von der GroKo III kolportierte Narrativ von den gleichwohl nicht refinanzierten, überbordenden pandemiebedingten Sonderaufwendungen der GKV. Für 2022 konnte auf diese Weise nahezu eine Verdopplung der für Normalzeiten gesetzlich vorgegebenen Höhe des Bundeszuschusses auf fast 29 Milliarden Euro realisiert werden.

In den Pandemiejahren 2021 und 2023, in denen zum einen die GroKo III, zum anderen die Ampelkoalitionäre bescheidenere Aufstockungen des Bundeszuschusses vereinbarten (5 bzw. 3 Milliarden Euro), verfolgten die Verantwortlichen im BMG zur temporären Eindämmung der GKV-Finanzkrise mit prognostizierten GKV-Defiziten in Höhe von 16 bzw. 17 Milliarden Euro in nahtloser Übereinstimmung ein ebenso technokratisch angelegtes wie fatales Vorgehensmuster: Mit der Zwangskollektivierung der Finanzreserven der Krankenkassen erfolgte ein zentralstaatlich ausgerichteter massiver kurzatmiger Eingriff in die materielle Statik und ordnungspolitische Strukturierung des „selbstverwalteten“ GKV-Systems.

Insbesondere durch die wiederholte Absenkung der gesetzlich zulässigen Höhe kassenindividueller Finanzreserven (vom 1,0-fachen über das 0,8-fache auf das 0,5-fache einer Monatsausgabe) und den Rückbau der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds (vom 0,5- auf das 0,25-fache einer Monatsausgabe) sowie die unmittelbare Abführung der dadurch „überflüssig“ werdenden Finanzmittel an den Gesundheitsfonds zur GKV-Einnahmenstützung wurde die finanzielle Schieflage der GKV 2021 und 2023 kurzfristig um einen namhaften Milliarden-Euro-Betrag reduziert (jeweils rd. 8 Milliarden Euro).

Ordnungspolitisch passt bei diesem Vorgehen zwischen GroKo III und Ampelkoalition kein Blatt. Das zuerst in der Ära Spahn auflebende Regime des exekutiven Dirigismus erfährt eine nahtlose Fortführung in der Ära Lauterbach. Das Vermögen der einzelnen Krankenkassen steht nach diesem Politikverständnis als systemische Verfügungsmasse jederzeit zur freien Disposition, wenn dies als politisch opportun erscheint. Das GKV-System wird (vorerst?) zur virtuellen Einheitskasse, ohne den politischen Diskurs über Alternativen aufnehmen zu müssen.

 

4. Ankündigung als Strategiesubstrat

In der Folge fahren seit Beginn dieses Jahres sowohl die Krankenkassen als auch das GKV-System insgesamt ebenso wie die SPV finanzpolitisch quasi ohne Radar und Plankenschutz allein noch auf Sicht. Jedes ernst zu nehmende Delta zwischen höheren aktuellen Ausgaben und zurückbleibenden Einnahmen muss unmittelbar zu Handlungsbedarf auf der Beitragsseite führen. Wenn, wie aktuell vom GKV-Schätzerkreis für das kommende Jahr prognostiziert, die (fixierten) Einnahmen der GKV hinter deren Ausgaben um volle zwei Prozentpunkte zurückbleiben (4,8 % zu 6,8 %), ist der bevorstehende Beitragssatzsprung, da politisches Gegenhandeln ausbleibt, unausweichlich.

Konsequenz dieser final von der Ampelkoalition zu verantwortenden fatalen Entwicklung ist die von BMG Lauterbach im Bundestag selbst verkündete „historische Steigerung“ der GKV-Beitragssätze. Seine unmittelbare Schlussfolgerung daraus im Parlament: „Aber wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir müssen die wesentlichen Reformen machen.“ Der BMG sah sich gar „auf dem Höhepunkt unserer Reformen“ (Bt-Prot 20/25112f).

Was dazu im Weiteren zur überfälligen Sanierung der GKV im Detail als Lösung offeriert wurde, ist freilich weiterhin erkennbar ebenso ernüchternd wie inadäquat. Von einer nachvollziehbaren Strategie zur Rückkehr zu einer mittelfristig soliden GKV-Finanzaufstellung kann ernsthaft nicht die Rede sein. Die aufgemachte Reformagenda mit ausnahmslos sattsam bekannten Inhalten (Krankenhaus, Digitalisierung, Entbürokratisierung, Vorbeugemedizin) soll es richten. Selbst ein Bekenntnis zu einem zumindest perspektivisch angestrebten Einstieg in die Umsetzung der „dürftigen Regelungen“ (Knieps) des KOV zur verlässlichen Finanzierung der GKV blieb aus.

Die vermeintliche Lösung ist eine andere: „Mit den Reformen, die wir jetzt schon gemacht haben, die jetzt anfangen zu wirken“, so verkündet der BMG publikumswirksam, „und den Reformen, die wir gerade machen, kommt tatsächlich auch dieser Beitragssatzanstieg zu einem Stopp.“ Ab 2026 würden die Krankenkassenbeiträge „stabil sein“ (Interview BamS 20.10.2024).

Stärker noch als in den schmallippigen Empfehlungen für eine „stabile, verlässliche und solidarische Finanzierung“ der GKV stehen nunmehr ausschließlich „effizientere Versorgungsstrukturen“ im Fokus. Die Liste der Ineffizienzen im deutschen Gesundheitssystem im Allgemeinen und in der GKV im Besonderen vermag zwar in der Tat allein durch die Anzahl ihrer Einträge – von A wie Ambulantisierung und Arzneimitteldistribution bis Z wie Zulassung von Leistungserbringern – zu beeindrucken, wie pars pro toto zahlreiche Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen belegen.

Welchen Beitrag zur Listenverkürzung allerdings bereits in Kraft befindliche „Reformen, die jetzt anfangen zu wirken“ der Ampelkoalition leisten können sollen, bleibt unerfindlich. Im letzten Jahr gelangten lediglich zwei einschlägige „Reformen“ aus dem BMG ins Bundesgesetzblatt: Im Mai das 15. SGB V-ÄndG Stiftung Unabhängige Patientenberatung Deutschland sowie im Juli das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). „Effizientere Versorgungsstrukturen“ mit (längerfristigen) positiven Wirkungen auf die Finanzarchitektur der GKV standen dabei überhaupt nicht zur Debatte. Im Gegenteil wirkt gerade das ALBVVG durch die Aufweichung des Festbetragsregimes bei Arzneimitteln unmittelbar und dauerhaft in eine entgegengesetzte Richtung. Selbst in der Gesetzesbegründung werden jährliche „Mehrausgaben in Höhe eines mittleren dreistelligen Millionenbetrages“ prognostiziert, von Einsparungen ist keine Rede (Bt-Drs 20/6871, 22).

Zudem bleibt ebenso unergründbar, wie die Liste der ineffizienten Versorgungsstrukturierung im deutschen Gesundheitswesen durch die „Reformen, die wir gerade machen“ wirksam verkürzt werden soll, um die Krankenkassenbeiträge ab 2026 „stabil“ zu gestalten. Dabei ist offensichtlich, dass ein als Kostensenker angeführtes „Gesundes-Herz-Gesetz“ (GHG) – unabhängig von tiefgreifenden konzeptionellen Mängeln („Pillen statt Prävention“; Reimann) –, das Früherkennungsmaßnahmen adressiert, deren Nutzeneffekte nach allgemeiner gesundheitsökonomischer Erkenntnis allenfalls nach einem langen Zeitraum entsprechend messbar sein können, überschaubar keinen Beitrag zur Bewältigung der GKV-Finanzierungskrise leisten kann.

 

5. Revolutionsrhetorik

Befindet sich aber das GHG ohnehin erst mitten im Gesetzgebungsverfahren und nach dem Bruch der Ampelkoalition vor dem parlamentarischen Aus, ist die von BMG Lauterbach seit langem mediengerecht als „Revolution im System“ beschworene Krankenhausreform Mitte Oktober nur einen Tag nach Verkündung der für 2025 anstehenden historisch vorbildlosen GKV-Beitragssatzsteigerung auf die ebenso historisch vorbildlose Beitragssatzhöhe noch mit den Stimmen der Parteien der Ampelkoalition im Bundestag verabschiedet worden. Änderungen am vorliegenden Gesetzentwurf gab es keine.

Dabei zeichnet sich gerade auch das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) weder direkt noch indirekt durch solche Regelungen aus, die kurz- und mittelfristig konsolidierend auf die Ausgabenentwicklung in der GKV wirken könnten. Vielmehr wird die GKV insbesondere ab 2026 – dem Jahr der prophezeiten „stabilen“ Beitragssätze – mit jährlich zusätzlichen Milliarden-Euro-Beträgen belastet. In der Gesetzesbegründung selbst werden Mehrausgaben der GKV von (addiert) jährlich mehr als einer Milliarde Euro bereits ab 2025 konkret benannt. Zu ihnen summieren sich ab 2026 (bis 2035) namentlich die Ausgaben für die Finanzierung des neuen sogenannten Transformationsfonds für die Krankenhäuser aus GKV-Beiträgen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro jährlich (insgesamt 25 Milliarden Euro).

Dem werden zwar Minderausgaben durch „Effizienzgewinne“ ebenfalls bereits ab 2025 gegenübergestellt. Ihre Höhe wird im Einzelnen freilich nicht beziffert. Gleichwohl sollen sie in einer nebulös bleibenden „Gesamtbetrachtung“ schon 2025 unmittelbar zu Minderausgaben der Krankenkassen von 330 Millionen Euro führen, die ab 2026 auf eine Milliarde Euro ansteigen, um dann jährlich um einen weiteren Milliardenbetrag zu wachsen (Bt-Drs 20/11854, 121f).

Dieser nebelverhangene Blick in die Glaskugel potentieller Struktureffekte der „großen Reform“ ist offenkundig nicht geeignet, das politische Versprechen „stabiler“ Beitragssätze in der GKV ab 2026 seriös zu stützen. Als materiell belastbare Argumentationshilfe für den Beitragssatzstopp scheidet auch das KHVVG ganz offenkundig aus.

 

6. Reformfehler

Ohnehin ist in der vom Bundestag beschlossenen Fassung des KHVVG von der ursprünglich durchaus ambitionierten Strukturkonzeption der Regierungskommission für die zukünftige Krankenhausversorgung, deren Veröffentlichung für den BMG unmittelbar die „Revolution im System“ einläutete, nur noch ein Torso geblieben. Von den Eckpfeilern der Kommissionskonzeption finden sich weder die bundesweit einheitlich und klar definierten Krankenhaus-Level (von Level I i bis Level III U) noch eine sektorenübergreifende Planung des stationären und ambulanten Sektors durch neue Gremien auf Länderebene, oder die Gliederung des Behandlungsspektrums eines Krankenhauses anhand von 128 bundeseinheitlich definierten Leistungsgruppen. Einzig die Vergütung über eine fallmengenunabhängige (neue Vorhaltevergütung plus Pflegebudget) und eine fallmengenabhängige (Rest-DRG) Komponente enthält strukturrelevant der Gesetzesbeschluss. Zwar kennt das KHVVG statt der vorgesehenen 128 immerhin noch 65 Leistungsgruppen, jedoch werden die damit grundsätzlich verbundenen Qualitätsanforderungen durch breit gefächerte Ausweichmöglichkeiten und Ausnahmetatbestände für die zuständigen Landesbehörden in ihren strukturbildenden Wirkungen substantiell weithin verwässert.

Nicht zuletzt wird im KHVVG zudem erneut die Chance vertan, durch konzeptionell erfolgversprechendes Vorgehen die Implementierung einer neuen zukunftsorientierten sektorengleichen Versorgung und Vergütung (Hybrid-DRGs) mit dem primären Ziel der Ambulantisierung bisher unnötig stationär erbrachter Leistungen tatsächlich voranzutreiben. Auch die mittlerweile dritte Gesetzesfassung eines entsprechenden § 115f SGB V innerhalb von nur zwei Jahren, die im KHVVG enthalten ist, verspielt durch gleichzeitig unambitionierte wie in sich widersprüchliche Regelungen den gerade mit Blick auf die um Jahre voraus geeilte internationale Entwicklung längst überfälligen couragierten Auf- und Ausbau eines hybriden Versorgungsbereichs in Deutschland.

Einerseits sollen zwar 2030 (!) zwei Millionen Hybrid-DRG-Fälle erreicht werden – was freilich immer noch weit hinter den bereits aktuell realistischen Möglichkeiten zurück bliebe –, andererseits wird die Berücksichtigung allein von Fällen mit lediglich einer Übernachtung (VWD 1) ausdrücklich weiterhin festgeschrieben, was einen versorgungspolitisch sinnhaften Ausbau der sektorengleichen Versorgung und Vergütung gerade konterkariert. Hinzu kommt ein grundlegend mangelhafter Innovationsimpetus, wenn der Anspruch, zu einer empirisch fundierten, transparenten Kostenkalkulation für die Hybrid-DRGs überzugehen, durch einen völlig überdehnten Zeithorizont für die Operationalisierung bis ins nächste Jahrzehnt hinein aufgeschoben wird. Im Ergebnis werden die durch forcierte Ambulantisierung möglichen durchschlagenden positiven Effekte insbesondere im Hinblick auf einen optimierten Personaleinsatz in Krankenhäusern und den konsequenten Abbau medizinisch überflüssiger Bettenkapazitäten in den Kliniken ebenso verhindert wie der damit verbundene Effizienzschub für die gesundheitliche Versorgungslandschaft insgesamt. Die „revolutionäre“ Strukturreform versandet in technokratischen Vorgaben und tradiertem Sektorendenken.

Den eigentlichen „Elefanten im Raum“ bei der Bearbeitung der Ursachen zunehmend ineffizienter Krankenhausstrukturen in Deutschland – die langanhaltende chronische Unterfinanzierung der Investitionskosten der Krankenhäuser durch die dafür rechtlich verantwortlichen Länder – benennt zwar die Gesetzesbegründung neben Kostensteigerungen und Personalmangel zunächst als einen der wesentlichen Gründe, im Weiteren erfährt dieses tatsächliche Kardinalproblem des Krankenhaussektors aber keinerlei konzeptionelle Beachtung mehr (Bt-Drs 20/11845, 112). Wie bei Fortschreibung dieses insuffizienten Zustandes die gleichzeitig – richtigerweise – beklagte, weit verbreitete Heranziehung von Behandlungserlösen für benötigte Anschaffungen und Baumaßnahmen durch Krankenhäuser zukünftig ausbleiben soll, erschließt sich schon rein denklogisch nicht.

Am 22. November 2024 steht im Bundesrat die Entscheidung an, ob sich dort eine Mehrheit dafür findet, zum KHVVG den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat anzurufen (Art. 77 II GG). Geschieht dies, sind zwar tatsächlich Änderungen am KHVVG erwartbar. Da aber eine Befassung mit dem „Elefanten“ realistischer Weise ausscheidet, sind im Gegenteil viel eher mit parteiübergreifender Tina-Rhetorik versehene nochmalige Finanzverschiebungen zu Lasten der GKV wahrscheinlich. Nur dann dürfte sich die notwendige Mehrheit aus (Minderheits-)Rest-Koalition und (Mehrheits-)Opposition für das Vermittlungsergebnis im Bundestag finden lassen (Art. 77 II 5 GG).

Andernfalls dürfte mit einem antizipierbaren Einspruch des Bundesrates das Scheitern des KHVVG insgesamt bevorstehen. Die Rest-Koalition kann einen Einspruch jedenfalls mangels eigener Mehrheit im Bundestag nicht zurückweisen (Art. 77 IV GG). Im Zweifel sorgt zudem der auch bei vorgezogenen Neuwahlen verfassungsrechtlich geltende Grundsatz der Diskontinuität des Parlamentsbetriebs für die abschließende Erledigung des KHVVG.

 

7. Neustart überfällig

In der Gesamtschau erweist sich die prompte öffentlichkeitswirksame Rhetorik des BMG, auf die „historische Steigerung“ 2025 mit der Ankündigung „stabiler“ Beitragssätze ab 2026 zu reagieren, bei realistischem Faktencheck als reines Wortgeklingel. Die Ampelkoalition verfügte ebenso wenig wie vor ihr die GroKo III über ein konzeptionelles Gerüst zur kurz- und mittelfristigen Konsolidierung der GKV-Finanzen und damit letztlich zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit der GKV als einer der tragenden Säulen des bundesdeutschen Sozialstaats. Gleiches gilt im Ergebnis auch für die SPV. Die Behandlung der Thematik blieb hier wie dort dilatorisch und ohne politischen Durchsetzungswillen zur Lösung. Vielmehr dominiert seit Jahren gesellschaftliche Konfliktvermeidung nach innen wie nach außen als übergeordnetes politisches Credo das Handeln der Verantwortlichen in der Gesundheits- (und Pflege-)Politik.

Die GroKo III hatte allerdings mehr „Glück“, in einer ökonomischen Prosperitätsphase regieren zu können. Nachdem aber auch der Ausnahmezustand Pandemie überwunden ist und zudem sämtliche Finanzreserven im System „verfrühstückt“ sind, liegt nunmehr die fehlende konzeptionell-operative Tiefenschärfe und die fehlende Offenheit für Reformoptionen bei den politischen Entscheidungsträgern als strategisches Dilemma offen zu Tage.

Die Karten sind gelegt; sie neu zu mischen steht an.

 

Weiterführende Literatur- und Quellenangaben beim Autor.

 

Lesen Sie vom Autor auch:

„Finanzierbare Konzepte sind notwendig – aber bitte keinen Torso!“, Observer Gesundheit, 15. März 2024

„Vermittlungsverfahren voraus?“, Observer Gesundheit, 20. November 2023,

„Der lange Arm des exekutiven Dirigismus“, Observer Gesundheit, 13. Juli 2023.


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