Das sollte der Gesundheitsminister im Sommer lesen

Eine Studie zu „Politikverflechtungsfallen“ im Kontext der Krankenhauspolitik

Dr. Andreas Meusch, Dozent Gesundheitspolitik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg

Sommer, Sonne, Strandlektüre: Das klingt nach Leichtigkeit und Sorglosigkeit. Was liest unser Gesundheitsminister, oder was sollte er lesen? Und warum soll man sich darüber überhaupt Gedanken machen?

Wie praktisch alle Menschen im Gesundheitssystem mache ich mir Gedanken über die Art, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach Politik gestaltet. Und wie viele andere auch, verstehe ich nicht, wie es ihm gelingen kann, die eigenen Vorstellungen politisch durchzusetzen. Hier geht es also nicht um die Frage, ob die Politik des Gesundheitsministers richtig ist, sondern um die Frage der Politikgestaltung. Wie gelingt es ihm, seine Vorstellungen auch gegen Widerstände durchzusetzen, wie bohrt er dicke Bretter, um zum Erfolg zu kommen? Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Die Lektüreempfehlung hier will eine Hilfestellung zum Betrachten der Wirklichkeit sein, in der und für die Gesundheitspolitik stattfindet.

 

Königsdisziplin der Gesundheitspolitik

Lauterbachs Vorgehen bei der Umsetzung der Realisierung des Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung hat erfahrene Beobachter schon laut darüber nachdenken lassen, ob man Verantwortlichen im Bundesgesundheitsministerium einmal eine Geschäftsordnung der Bundesregierung ausdrucken solle. Wie wird es erst sein, wenn es an die Königsdisziplin der Gesundheitspolitik des Bundes geht: die Krankenhauspolitik?

Zwei Aspekte sind es, die diesen Politikbereich zur Königsdisziplin machen:

  • die finanzielle Dimension: Die Ausgaben der Krankenkassen für Krankenhäuser sind der größte Ausgabenblock. An seiner Ausgabendynamik haben sich seit dem Sozialdemokraten Herbert Ehrenberg (als Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung von 1976 bis 1982 zuständig auch für das erste Kostendämpfungsgesetz) noch alle für die GKV später verantwortlichen Bundesminister die Zähne ausgebissen.
  • die verfassungsrechtliche Dimension. Das Thema Krankenhaus als Teil der Daseinsvorsorge wird im Grundgesetz grundsätzlich den Ländern zugeordnet. Ohne Zustimmung des Bundesrates sind relevante Veränderungen im Krankenhausbereich durch den Bundesgesetzgeber damit praktisch ausgeschlossen. Karl Lauterbach braucht also für Strukturveränderungen im Krankenhausbereich zwingend 35 von 69 Stimmen im Bundesrat.

Sehr eindrückliches Anschauungsmaterial zum Thema Unfähigkeit des Bundes, das Thema Krankenhaus politisch zu gestalten, liefert das Thema Investitionskosten, die von den Ländern zu tragen sind. Die Rechtsgrundlage dazu wurde vor knapp 30 Jahren vom Bundesverwaltungsgericht gekippt[1]. Es gibt seit diesem Zeitpunkt keine rechtlich verbindliche Abgrenzung zwischen Investitions- und Betriebskosten. Dass die unzureichende Bereitschaft der Länder, ihrer Investitionsverpflichtung nachzukommen, und die dadurch vorhandenen Investitionslücken ein sehr relevanter Teil der Probleme der deutschen Krankenhäuser ist, bestreitet ernsthaft niemand.

 

Ablenkung vom eigentlichen Problem

Vor Karl Lauterbach haben aber bereits acht Gesundheitsminister:innen aus fünf Parteien nicht die Kraft gefunden, an diesem Problem etwas zu ändern[2]. Es ist der Elefant im Raum: Alle wissen um die Bedeutung der fehlenden Landesmittel, aber niemand spricht es an, weil es mit Blick auf die Rolle der Länder in der Gesetzgebung des Bundes nicht lösbar ist. Für Psychologen ist es eine spannende Frage, ob sich die Heftigkeit, mit der in der Fachöffentlichkeit verbal auf das DRG-System eingeprügelt wird, auch dadurch zu erklären ist, dass man von diesem Teil des Problems gerne ablenkt. Die Kommunikationsstrategie verdient aber professionellen Respekt. So funktioniert Agenda-Setting: Alle reden über das Vergütungssystem. Dass kein Vergütungssystem der Welt fehlende Investitionsmittel ersetzen kann, ist im fachöffentlichen Diskurs als Thema marginalisiert. Die Betrachtung der Realität ist verzerrt. Was heißt das für die Politik, die aus dieser Verzerrung entsteht …?

Um sich einen ersten Eindruck von der Herausforderung zu machen, eine Mehrheit im Bundesrat für ein Krankenhausgesetz zu gewinnen, genügt ein Blick auf die Homepage des Bundesrates, wo sich eine Grafik seiner Zusammensetzung findet[3]. Sie vermittelt einen Eindruck von der bunten Republik Deutschland, in der sich aktuell sieben Parteien in Regierungsverantwortung in den Ländern befinden. Und nur in Rheinland-Pfalz regiert wie im Bund eine Ampel. Nimmt man wohlwollend Hamburg und das Saarland noch auf die Seite der Unterstützer der Bundespolitik, weil in den Landesregierungen nur Vertreter von Ampel-Parteien vertreten sind, ist man bei zehn Stimmen für potenzielle Vorhaben der Ampel.

Das Wort wohlwollend im letzten Absatz muss man eigentlich fett schreiben. Dass diese Länder im Bundesrat für Vorhaben der Bundes-Ampel stimmen werden, ist keineswegs selbstverständlich. Länder haben nun einmal eigene Interesse.

 

Sperrmehrheit im Bundesrat

Außerdem: Die beiden starken SPD-Ministerpräsidentinnen Schwesig und Dreyer haben Vertraute in Schlüsselpositionen in der Gesundheitspolitik auf Bundesebene: Der ehemalige Abteilungsleiter Gesundheit im rheinland-pfälzischen Arbeits- und Sozialministerium unter der damaligen Ministerin Malu Dreyer ist jetzt Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krankenhausgesellschaft, und Lauterbach hat im eigenen Haus eine Vertraute der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern als Staatssekretärin.  Es ist kaum anzunehmen, dass der Bundesgesundheitsminister von der SPD Politik gegen die beiden starken Ministerpräsidentinnen der SPD gestalten kann. Dass die SPD-Regierungschefs in Hamburg (ein Arzt!) und im Saarland sich auf das Abnicken von Gesetzen aus dem Hause Lauterbach beschränken, ist auch wenig wahrscheinlich.

Nicht nur fürs Protokoll sei darauf hingewiesen, dass sich in Koalitionsvereinbarungen auf Landesebene regelhaft eine Formulierung findet, dass sich das Bundesland im Bundesrat enthält, falls es keine einheitliche Zustimmung der Koalitionspartner im Land zu einer Gesetzesvorlage im Bundesrat gibt. Die Enthaltung wirkt wie ein Nein, erforderlich ist die Zustimmung der Mehrheit der Stimmen, damit ein zustimmungspflichtiges Gesetzesvorhaben den Weg ins Gesetzblatt findet. Wie die Zustimmung zumindest eines Teils der neun Landesregierungen, an denen die Unionsparteien beteiligt sind (mit insgesamt 45 Stimmen) gewonnen werden soll, bleibt ein Mysterium.

Die Union hat also eine Sperrmehrheit, und zumindest ein Friedrich Merz erinnert sich noch sehr gut an die Strategie eines Oskar Lafontaine, der die Sperrmehrheit der SPD in der Endphase der damaligen Bundesregierung systematisch genutzt hat. Völlige Blockade und gleichzeitig Dauerfeuer durch den Vorwurf, die Probleme auszusitzen: Das vergisst ein Friedrich Merz nicht. Mit dem Bundesrat hat er den Hebel in der Hand, der mit umgekehrten Vorzeichen schon einmal zum Machtwechsel beigetragen hat. Von Oskar lernen heißt siegen lernen?

Mit diesen Vorbemerkungen können wir uns jetzt der Sommerlektüre widmen. Zwar ist man geneigt, sich dem „Flüchtigen Begehren“ hinzugeben[4], aber für einen Minister, der Studien verschlingt, kommt das natürlich nicht in Frage. Also muss eine Studie her, die zu der oben beschriebenen Herausforderung passt. Leider kenne ich keine Harvard-Studie, die sich mit dem Dilemma der Krankenhauspolitik in Deutschland beschäftigt, aber mit Prof. emer. Dr. Dr. h.c. mult. Fritz W. Scharpf, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, gibt es einen Autor, der das deutsche politische System durchdrungen hat wie kaum ein anderer. Seine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem deutschen politischen System entsprang auch dem Frust über dessen „Politikverflechtungsfallen“, die er als Mitglied in der Kommission zur Neugliederung des Bundesgebietes (1970-1972) und der Enquete-Kommission Verfassungsreform (1972-1976) erlebt hatte.

 

Politikverflechtungsfallen

Mit dem Begriff der Politikverflechtungsfalle beschreibt er die „negativen Rückwirkung der besonderen Strukturen des deutschen Föderalismus auf die Problemlösungsfähigkeit der Politik“, und man spürt seinen Frust, wenn er in der nüchternen Sprache der Wissenschaft die dominierenden Interessen der „Vetospieler“ im Bund und in den Ländern beschreibt[5]. Die hier empfohlene Studie ist geschrieben im Kontext der Arbeit der Föderalismuskommission II (2006-2009), an der Scharpf nicht beteiligt war, und er stellt konsterniert fest, dass sich auch zwei Jahrzehnte nach seinen realpolitischen Erfahrungen mit den Politikverflechtungsfallen wenig geändert hat. Die Arbeit ist kostenlos im Internet verfügbar und unbedingt lesenswert, will man die aktuelle Lage abseits von Referentenentwürfen, Anhörungen und Stellungnahmen durchdringen.

Die Analysen (nicht unbedingt die Schlussfolgerungen) sind leider auch für die Gegenwart und ihre Probleme der Politikgestaltung einschlägig. Mit einem wichtigen Zusatz: Die Komplexität der Probleme hat zugenommen. In der bunten Republik Deutschland sind Mehrheiten im Bundesrat noch schwerer zu organisieren. Die Geldmittel des Bundes, mit denen eine Zustimmung des Bundesrates herbeigeführt werden könnte, sind in einem demnächst auch kreditfinanzierten Krankenversicherungssystem nicht in Sicht.

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Wer den Ernst der Lage im Reformstau des deutschen Gesundheitssystems begreifen will, kommt an der Wirklichkeitsbeschreibung des Fritz W. Scharpf nicht vorbei. Hier wird die Herkulesaufgabe der Gesundheitspolitik in nüchternen Worten beschrieben. Leider verstärkt der Text den Sommerblues, und es nicht damit zu rechnen, dass er aufhört, wenn die Tage kürzer und das Zeitfenster für Reformen kleiner werden.

 

[1] Fassadenurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Januar 1993 (Az. 3c 66.90)

[2]  S. auch: Meusch, Andreas: 3 Thesen zum Handlungsbedarf in der Gesundheitspolitik: Teil 2 Krankenhausfinanzierung, in Lohmannblog vom 18. Mai 2021; https://lohmannblog.com/3-thesen-zum-handlungsbedarf-in-der-gesundheitspolitik-teil-2-krankenhausfinanzierung/

[3] https://www.bundesrat.de/DE/bundesrat/verteilung/verteilung-node.html

[4] Donna Leon: Flüchtiges Begehren. Commissario Brunettis dreißigster Fall, Diogenes Verlag, Zürich 2021

[5] S. dazu: Vorwort, in: Scharpf, Fritz W. Föderalismusreform: Kein Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle? Campus Verlag Frankfurt/New York 2009 (Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln, Band 64, https://pure.mpg.de/rest/items/item_1232340_10/component/file_2176670/content

 

Der Autor vertritt seine persönliche Meinung.

 


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