Chancen und Limitationen der Vertragstransparenzstelle nach § 293a SGB V

Zentrales Register zur Schließung von Selektivverträgen soll Manipulationsanfälligkeit des RSA reduzieren

Dipl.-Pol. Benjamin Berndt

Imen Urukova

Selektivverträge stehen zum Teil im Verdacht, Anreize zur Manipulation der Datengrundlagen des Risikostrukturausgleichs (RSA) zu liefern. Um dem entgegenzuwirken, wurden mit der letzten RSA-Reform im März 2020 die gesetzlichen Voraussetzungen für ein zentrales Register zur Erfassung von Selektivverträgen geschaffen. Ziel der Vertragstransparenzstelle ist es, die Landschaft dieser Vertragsformen sowohl für das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) als auch für die Öffentlichkeit transparenter, nachvollziehbarer und informativer zu gestalten. Bereits sechs Monate nach Schaffung der Rechtsgrundlage ging die Basisausführung eines frei verfügbaren Online-Verzeichnisses auf der Website des BAS ans Netz und wurde nach dem ersten Betriebsjahr um verschiedene Vertragsangaben erweitert. Fast zwei Jahre Laufzeit markieren nun einen guten Zeitpunkt, um Struktur, Inhalt und Nutzeroberfläche dieses Werkzeugs etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, und mit den Zielvorgaben des Gesetzgebers abzugleichen.

Beobachtungen und Anwendungsversuche hinterließen dabei gemischte Eindrücke: So besitzt das Register mit der Abbildung von Art, Umfang und Geltungsbereich der erfassten Verträge durchaus transparenzschaffendes Potenzial. Die derzeit fehlende Sanktionierung bei Nicht-Meldung von Verträgen lässt allerdings offen, ob der Vertragsbestand überhaupt vollständig ist. Als Aufsichtsbehörde bekommt das BAS über das Verzeichnis bereits einen nützlichen Überblick zum Vertragsgeschehen und kann im Einzelfall Kenntnis über mögliche selektivvertragliche Anreize erlangen. Deren Kontrollfunktion bleibt durch die bisher fehlende Verknüpfung von Diagnosen mit der Vertragsnummer jedoch weiterhin eingeschränkt. Für die Öffentlichkeit ist der angestrebte Transparenz- und Informationsgewinn defacto (noch) nicht vorhanden, da konkrete Vertragsinhalte und deren Zweck nicht einsehbar, geschweige denn miteinander vergleichbar sind.

Alles in allem zeigt sich das Register als ausbaufähiger Ansatz mit vielen Möglichkeiten – sowohl zur Sicherung der RSA-Datengrundlagen als auch zur Förderung eines transparenteren Versorgungswettbewerbs in der GKV.

 

Hintergrund

Die Manipulationsanfälligkeit der Datengrundlagen des RSA ist ein Thema, das in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) seit 2016 ununterbrochen diskutiert wird. Dessen Kernproblem lag in der Zweckentfremdung von Selektivverträgen durch verschiedene Krankenkassen (Dietzel, Neumann & Stibbe, 2017). Vertragsärzt:innen wurden über verschiedene Vertragskonstrukte durch zusätzliche Vergütung dazu angereizt, für die Patient:innen möglichst viele und schwerwiegende Diagnosen zu dokumentieren, um sich Vorteile aus dem RSA zu verschaffen (BAS – Bundesamt für Soziale Sicherung, 2019; Berndt, Schrey, Schmiedel & Weinhold, 2019; Glaeske, 2016; Scherff, 2016; Weinhold, Claus, Kossack & Häckl, 2017) .

Als Reaktion auf diese Fehlentwicklung forderte Amnesty International Deutschland e. V. in einer Pressemitteilung bereits im Jahr 2016 die Errichtung eines Bundestransparenzregisters, das öffentlich einsehbar sein und die Sonderverträge, wie Selektiv-, Integrations-, und Rabattverträge, aller Krankenkassen mit jeglichen Vertragspartnern umfassen soll (Transparency International Deutschland e. V., 2016). Diese Aufforderung aufgreifend empfahl der Wissenschaftliche Beirat zur Weiterentwicklung des RSA beim BAS dem Gesetzgeber, die erforderliche Rechtsgrundlage für die Einrichtung eines zentralen Registers für Selektivverträge zwischen Krankenkassen und Vertragsärzt:innen im ambulanten Bereich zu schaffen (Drösler, S., Garbe, E., Hasford, J., Schubert, I., Ulrich, V., van de Ven, W., Wambach, A., Wasem, J. & Wille, E., 2017).

Der gesetzliche Rahmen wurde durch den § 293a Sozialgesetzbuch V (SGB V) mit Inkrafttreten des Gesetzes für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FKG) am 22.03.2020 geschaffen. Demnach ist der Aufbau einer öffentlich einsehbaren Vertragstransparenzstelle für Verträge der hausarztzentrierten Versorgung nach § 73b SGB V und der besonderen Versorgung nach § 140a SGB V vorgesehen. Mit der Umsetzung der Maßnahme wurde das BAS beauftragt, welches am 30.09.2020 bekanntgab, dass die Vertragstransparenzstelle online gegangen und fortan unter folgendem Link für die Öffentlichkeit zugänglich ist (BAS, 2020b): https://vertragstransparenzstelle.bundesamtsozialesicherung.de.

 

Selektivvertragsregister für mehr Transparenz, Kontrolle und Information

Funktion 1: Transparenz der Vertragslandschaft

Das Register soll an erster Stelle einen Überblick über das Themenfeld ermöglichen und somit Transparenz bezüglich Art, Umfang und Erstreckungsgebiet der durch die Krankenkassen abgeschlossenen Selektivverträge ermöglichen. Da die Aufsichtsbehörden den Krankenkassen zum Zeitpunkt der Schaffung der gesetzlichen Grundlagen des Registers kein Verzeichnis der bestehenden Versorgungsverträge in der GKV vorhielten, wird durch den Aufbau des Registers überhaupt erst eine Basis für eine lückenlose Beobachtung der Vertragslandschaft geschaffen. Die Einrichtung des Registers ist allerdings an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. Die beabsichtigte Transparenzfunktion tritt erst ein, wenn die Erhebung vollständig, eindeutig und dem weiteren Anwendungszweck angemessen erfolgt ist und wenn sie regelmäßig aktualisiert wird. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, beschloss der Gesetzgeber die Einrichtung der Vertragstransparenzstelle nach § 293a SGB V und verpflichtete gemäß Absatz 4 und 5 die Krankenkassen dazu, alle Verträge und Vertragsanpassungen eigenständig zu melden. Auf die Einführung einer Sanktionsregelung, die eine verspätete, unvollständige oder unterlassene Meldung mit Strafbewehrung versehen würde, wurde verzichtet.

 

Funktion 2: Kontrolle über Vertragsgeschehen

Die durch eine vollständige Erfassung gewährleistete Transparenz ist allerdings noch kein Selbstzweck, sondern soll insbesondere die als zweiten Zweck angegebene Kontrollfunktion ermöglichen. Die Beobachtung des Vertragsgeschehens erfolgt vorrangig mit dem Ziel, Auffälligkeiten in der Entwicklung der Datengrundlagen des RSA auf mögliche unrechtmäßige Vertragsgestaltungen zurückführen zu können. Der Anfangsverdacht kann dann bereits in der Existenz von Verträgen mit Bezug zu den auffälligen Krankheitsbildern begründet sein.

Der Gesetzgeber hat die Vertragstransparenzstelle insbesondere mit der Absicht eingeführt, die Effektivität der Prüfung nach § 273 SGB V zu unterstützen. Durch eine Kennzeichnung mit einer Vertragsnummer sollen einzelne Diagnosen bestimmten Verträgen zugeordnet werden können, um infolgedessen einen direkten Zusammenhang zwischen statistischen Auffälligkeiten der RSA-Datenmeldungen und konkreten Verträgen der Krankenkassen herzustellen (Drucksache 19/15662). Bisher wurde eine solche Kennzeichnung der Diagnoseherkunft noch nicht umgesetzt. Dies ist jedoch für die Meldung von RSA-Daten des Ausgleichsjahres 2023 vorgesehen. Der Mehrwert der Vertragstransparenzstelle für die Prüftätigkeiten des BAS besteht also aktuell nur in der grundsätzlichen Kenntnis über Versorgungsverträge einer Krankenkasse.

 

Funktion 3: Information der Öffentlichkeit

Selektivverträge ermöglichen den Krankenkassen, Versorgungsangebote zu gestalten und so ihren Versicherten Zugang zu einem höheren Leistungsniveau oder besserer Qualität zu bieten. Der Gesetzgeber hat daher die Vertragstransparenzstelle nach § 293a Abs. 1 Satz 2 SGB V explizit mit dem Zweck der Information der Öffentlichkeit versehen – so seien neben den Aufsichtsbehörden auch die Versicherten Adressaten der Stelle.

Unklar bleibt, mit welcher konkreten Fragestellung Versicherte die Transparenzstelle nutzen sollen. Denkbar ist eine Bandbreite von Nutzungsmöglichkeiten: Eine Option wäre die reine Schaffung von Markttransparenz, indem z. B. Informationsangebote zum Vorhandensein von Selektivverträgen für konkrete Leistungen oder Erkrankungen bereitgestellt werden. Zudem könnte sich eine Vergleichsfunktion durch die Gegenüberstellung spezifischer Leistungsangebote von Krankenkassen oder ein Datenverzeichnis etwa für unabhängige wissenschaftliche Evaluationen von Selektivverträgen als sinnvoll erweisen. Entscheidend für die letztliche Nutzung durch die Öffentlichkeit ist aber der konkrete Inhalt und die Form der Aufbereitung der Daten, die in der Vertragstransparenzstelle enthalten sind.

 

Struktur, Inhalt und Nutzeroberfläche der Vertragstransparenzstelle

In einem ersten Schritt wurde am 30.09.2020 gemäß den gesetzlichen Vorgaben des § 293 Abs. 2 SGB V das Verzeichnis der Vertragstransparenzstelle mit Angaben zur Vertragsnummer, Vertragsform und Krankenkasse durch das BAS veröffentlicht. Dieses Grundgerüst wurde am 30.09.2021 um die Angaben zum Vertragsbeginn und Vertragsende, zur Wirksamkeit von Vertragsänderungen und zum Geltungsbereich des Vertrages erweitert. In diesem Zuge wurden außerdem die dem Vertrag als Einschlusskriterien zugrundeliegenden Diagnosen und die teilnehmenden Leistungserbringer bei Verträgen zur besonderen Versorgung in das Datenmodell integriert.

 

Abbildung: Online-Plattform der Vertragstransparenzstelle (Screenshot vom 01.07.2022)

 

Vertragsnummer und ICD-Code

Die Vertragstransparenzstelle umfasst aktuell verschiedene Vertragsmerkmale, die es erlauben, die Fall- und Abrechnungsdaten sowie weitere Informationen zu den Vereinbarungen der hausarztzentrierten und der besonderen Versorgung eindeutig mit einem Bezug zum zugrundeliegenden Vertrag zu kennzeichnen. Zentrales Zuordnungselement ist dabei die 11-stellige Vertragsnummer. In den Datenaustauschverfahren stellt sie die eindeutige Kennzeichnung von Verträgen nach den §§ 73b und 140a SGB V leistungsbereichs- und kassenübergreifend bundeseinheitlich sicher (GKV-Spitzenverband, 2020). Das Kennzeichen entspricht folgender Verschlüsselungssystematik: Die erste Stelle verweist auf die Version der Schlüsselsystematik und ist zurzeit immer auf die Ziffer 1 normiert. Die nächsten zwei Stellen beinhalten den Hinweis auf die Vertragsart und die Rechtsgrundlage für den Vertragsschluss. Als Selektivverträge schließen die Krankenkassen Verträge zu Disease-Management-Programmen (DMP) für chronische Erkrankungen nach § 137f SGB V, Verträge der besonderen Versorgung nach § 140a SGB V, Hausarztverträge nach § 73b SGB V, Verträge zu Bonusprogrammen (§ 65a SGB V) und Modellvorhaben (§ 63 SGB V) sowie Verträge zu ambulanten Leistungen im Krankenhaus und mit Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen ab. Die Vertragstransparenzstelle führt allerdings nur die Selektivverträge nach § 140a und § 73b SGB V sowie die noch verbleibenden Altverträge nach § 73a und § 73c SGB V bis zu deren Ablauf auf. Auf den nächsten zwei Stellen ist der räumliche Geltungsbereich verschlüsselt. Über die einzelnen Bundesländer hinaus kann ein Vertrag auch bundesweit gültig sein oder versorgungsregionenübergreifende Komponenten beinhalten. Die letzten sechs Stellen der Vertragsnummer dienen der eindeutigen Kennzeichnung eines jeden Vertrages. Dabei gibt die erste Stelle dieses sechsstelligen Schlüssels die Kassenart der Vergabestelle an.

Über die Vertragsstammdaten und -nummer hinaus übermitteln die Krankenkassen an die Vertragstransparenzstelle Angaben der Diagnosen nach der gesetzlich vorgeschriebenen Klassifikation für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme ICD-10-GM, sofern Einschlussdiagnosen für einen bestimmten Personenkreis vorliegen. Damit ist jedoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass auch Versicherte, die diese Diagnose(n) nicht aufweisen, an dem Vertrag teilnehmen können. Dies gilt insbesondere für die Verträge zur hausarztentrierten Versorgung nach § 73b SGB V (BAS, 2020a).

 

Vertragsbestand mit verschiedenen Filter- und Suchoptionen

Die Beobachtung des Online-Verzeichnisses zeigte über die vergangenen Monate deutliche Schwankungen in der Häufigkeit verschiedener Vertragsmerkmale, ohne dass hierfür naheliegende inhaltliche Gründe ersichtlich sind. Die folgende Auswertung der Häufigkeiten verschiedener Vertragskriterien wurde zum Stichtag 01.07.2022 durchgeführt.

Der Vertragsbestand in der Transparenzstelle umfasste an diesem Tag insgesamt 9577 Verträge und kann nach mehreren Suchkriterien gefiltert werden.

Erstes Filterkriterium stellt der Vertragstyp dar, der sich entsprechend der Rechtsgrundlage des Vertrags gliedert: nach § 73a, § 73b, § 73c und § 140a SGB V. Der Abschluss von Strukturverträgen nach § 73a und § 73c SGB V war bis Juli 2015 noch möglich. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) sind diese Vertragsformen in die „Besondere Versorgung“ nach § 140a SGB V überführt worden. Die bereits geschlossenen Strukturverträge gelten aber fort und sind in der Datenbank bis zum Ablauf der vertraglichen Laufzeiten einsehbar. Es fällt auf, dass die meisten Verträge nach den Regelungen für die besondere Versorgung geschlossen wurden: Zum 01.07.2022 waren es 7295 solcher Verträge, was einem Anteil von 76,17 % des gesamten Vertragsbestands entspricht – gefolgt von 1125 Vereinbarungen über die hausarztzentrierte Versorgung, was 11,75 % aller Verträge entspricht.

Als weiteres Filterkriterium kann die Vertragstransparenzstelle nach der vertragsabschließenden Krankenkasse differenziert werden. Eine vorläufige Korrelations- und Regressionsanalyse bezogen auf die absoluten Größen deutete darauf hin, dass die Größe der Krankenkasse für die Beteiligung an den besonderen Versorgungsformen eher eine untergeordnete Rolle spielt. Viel entscheidender schien die Kassenart zu sein, was unter anderem auf den größeren Anteil bundesweit agierender Krankenkassen bei Betriebs- und Ersatzkassen zurückzuführen ist.

Über die Filteroption „Teilnehmende Leistungserbringer“ lässt sich feststellen, dass die meisten Verträge mit Kassenärzt:innen geschlossen wurden. Zum 01.07.2022 waren das 7516 Verträge. An zweiter Stelle wurden 1644 Positionen zu Vereinbarungen mit Krankenhäusern aufgeführt. Zusammen machen die kassenärztlichen und die krankenhäuslichen Verträge 95,49 % des Gesamtbestands aus. Zu den weiteren an der besonderen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringern zählen u. a. Polikliniken und Zentren der integrierten Versorgung, Rehabilitationseinrichtungen, Alten- und Pflegeheime sowie DiGA-Hersteller.

Die Filterung der regionalen Geltungsbereiche ergab ferner, dass die meisten Vereinbarungen regional für Berlin und Brandenburg geschlossen werden: Zum Beobachtungszeitpunkt galten laut dem Vertragsregister jeweils 8515 Selektivverträge für diese Bundesländer. Von den insgesamt 9577 gelisteten Verträgen waren 8170 bundesweit gültig, was einem Anteil von 85,31 % aller Verträge entspricht.

Schließlich kann der Vertragsbestand im Rahmen der Transparenzstelle auch nach den Einschlussdiagnosen für die Teilnahme an den Selektivverträgen untersucht werden. Die Operationalisierung der Diagnosen erfolgt nach dem ICD-10-GM Kodiersystem. Dementsprechend sollte die Datenbank mindestens nach ICD-Gruppen gefiltert werden können. Eine genauere Ausdifferenzierung kann aber auch nach ICD-Kategorien über einen dreistelligen ICD-Code sowie nach ICD-Subkategorien mittels der vierstelligen und fünfstelligen Codes vorgenommen werden. An dieser Stelle ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die Filterung nach den verschiedenen ICD-Gruppen im Zuge der Beobachtungen nicht reibungslos verlief. Es wurde festgestellt, dass viele relevante Ergebnisse, die sonst über die Filteroption mit den dreistelligen ICD-Codes richtig angezeigt wurden, bei der Überprüfung nach den dazugehörigen ICD-Gruppen teilweise fehlten. Dies erschwert den Überblick über das Vertragsgeschehen zu den allgemeinen Krankheitsbildern, denn die Filterergebnisse zu den einzelnen ICD-Kategorien können innerhalb des übergeordneten Auswertungsniveaus der ICD-Gruppen wegen Doppelung in unbekanntem Ausmaß nicht ohne Weiteres zusammengezählt werden. Zu den meistgenannten Diagnosekategorien im Vertragsbestand gehörten u. a. die Gruppen der depressiven Episode, des Diabetes mellitus Typ I und Typ II und der rezidivierenden depressiven Störung.

 

Erfüllt die Vertragstransparenzstelle die Funktionen eines Selektivvertragsregisters?

Ausbaufähige Transparenz durch mangelhafte Filter- und Suchfunktionen

In ihrer aktuellen Form enthält die Vertragstransparenzstelle ein öffentlich zugängliches Verzeichnis der durch die Krankenkassen gemeldeten Selektivverträge, sofern diese gemäß § 140a und § 73b SGB V oder gemäß § 73a und § 73c SGB V (a. F.) abgeschlossen wurden. Die Datenbank enthält neben Angaben zu Vertragsbeginn, Vertragsende und Vertragsform auch Informationen zur vertragsabschließenden Krankenkasse, zum regionalen Geltungsbereich des Vertrages, zu den teilnehmenden Leistungserbringern, sofern es sich um einen Vertrag nach § 140a SGB V handelt, sowie zu den Ein- und Ausschlusskriterien anhand von Diagnoseinformationen. Dabei sind Vertragsbeginn und Vertragsende sowie etwaige Vertragsänderungen keine filterbaren Informationen – ohne intensive Nachrecherche ist daher unklar, wie viele der verzeichneten Verträge aktuell noch wirksam sind.

Dennoch ist insgesamt davon auszugehen, dass die Vertragstransparenzstelle in der vorliegenden Form geeignet ist, die Art der meisten bestehenden Selektivverträge aufzuschlüsseln, insbesondere weil die Rechtsgrundlage, die den Verträgen zugrunde liegt, im Register verzeichnet ist. Für die Verträge der besonderen Versorgung gemäß § 140a SGB V bildet das Verzeichnis zudem die in die Vertragsschließung einbezogenen Leistungserbringer ab. Außerdem werden die spezifischen Krankheitsbilder – falls vorhanden – über die Einschlussdiagnosen erfasst. Somit wird ein erster Überblick über den Umfang von Selektivverträgen geschaffen. Allerdings lässt sich der Leistungsinhalt der dazugehörigen Verträge aus den vorliegenden Daten nicht ableiten. Das Erstreckungsgebiet wird durch die Erfassung des Geltungsbereichs der Verträge hinsichtlich der KV-Region erfasst, sodass auch bei nicht-vertragsärztlichen Vertragspartnern zumindest ein Bundeslandbezug hergestellt werden kann. Da Art, Umfang und Geltungsbereich der erfassten Verträge in Erfahrung zu bringen sind, hat das Verzeichnis also grundsätzlich das Potenzial, Transparenz über die Selektivvertragslandschaft herzustellen.

Inwieweit sich dieses Potenzial allerdings entfalten und Transparenz realisiert wird, hängt maßgeblich davon ab, ob in dem Verzeichnis die vollständige Vertragslandschaft abgebildet wird. Nur die Abbildung aller aktuell gültigen Verträge liefert einen vollständigen Überblick über die Aktivitäten von Krankenkassen. Ob die Vertragstransparenzstelle alle Verträge gemäß den §§ 73a, 73b, 73c und 140a erfasst, ist aber ohne konkrete Kontrolle nicht überprüfbar. Krankenkassen sollen ihre Verträge auf eigene Initiative hin an die Vertragstransparenzstelle melden. Aufgrund des fehlenden Sanktionsmechanismus besteht für Krankenkassen aktuell auch kein finanzielles Risiko bei einer unvollständigen Meldung ihrer Verträge. Hier könnten Einschränkungen der Transparenzfunktion drohen.

Weiterhin ist anzumerken, dass das Verzeichnis in seiner aktuellen Aufbereitungsform lediglich dazu geeignet ist, die Transparenzfunktion für das BAS als Aufsichtsbehörde zu erfüllen. Die ebenfalls als Adressat genannte Öffentlichkeit kann das Register nur über die Plattform auf der Website des BAS abrufen, die jedoch wenig benutzerfreundlich gestaltet ist. Die vorgefertigten Filtermöglichkeiten sind schlecht kombinierbar und teilweise nicht über Auswahl-, sondern nur über Freitextfelder zugänglich. Dadurch sind weder die Anzahl noch die Relevanz verschiedener Subgruppen, wie etwa spezifischer Einschlussdiagnosen, ohne konkretes Ausprobieren schnell ersichtlich. Ebenso erschwert eine fehlende Historisierung der Daten die Nachvollziehbarkeit. Jede Auswertung bleibt eine Momentaufnahme ohne verlässliche Reproduzierbarkeit. Hier scheint der Wille des Gesetzgebers nur halbherzig umgesetzt worden zu sein.

 

Eingeschränkte Kontrollfunktion durch fehlende Verknüpfung von Diagnosen und Vertragsnummer

Mit Blick auf die intendierte Kontrollfunktion für die Datengrundlagen des RSA, die durch ein Selektivvertragsregister ermöglicht werden soll, entfaltet die Vertragstransparenzstelle derzeit noch nicht ihr volles Potenzial. Solange die Herkunft der für den RSA gemeldeten Diagnosen noch nicht durch die obligatorische Meldung der Vertragsnummer in die Datenlieferungen für den RSA implementiert ist, können auffällige Entwicklungen in den Diagnosemengen nicht direkt in statistischen Zusammenhang zur Wirkung einzelner Verträge gesetzt werden.

Das aktuelle Verzeichnis ermöglicht es Aufsichtsbehörden aber zumindest, eigenständig Kenntnis über das Vorhandensein von möglichen selektivvertraglichen Anreizen zu erlangen. Dies stellt insofern bereits einen Fortschritt dar, als das BAS als Aufsichtsbehörde zuvor auf die eigenständige Information durch die Krankenkassen angewiesen war. Zukünftig kann die Aufsichtsbehörde selbstständig Verträge in der Einzelfallprüfung gemäß § 273 SGB V in Beziehung zu auffälligen Entwicklungen in der Morbiditätsstruktur einer Krankenkasse setzen. Die in der Vertragstransparenzstelle enthaltenen Informationen erlauben es dabei noch nicht, konkrete Wirkmechanismen von Verträgen nachzuvollziehen, weil die Vertragsinhalte nicht bekannt sind. Allerdings grenzen der Geltungsbereich, die teilnehmenden Leistungserbringer und die Ein- bzw. Ausschlusskriterien die für eine inhaltliche Prüfung relevanten Verträge bereits nachhaltig ein. In Verbindung mit der ebenfalls durch das GKV-FKG eingeführten Beweislastumkehr sind auffällige Krankenkassen dann gezwungen, die Morbiditätsentwicklungen im Kontext der bestehenden Verträge nachvollziehbar zu erläutern.

Die Meldung des Vertragskennzeichens in den RSA-Daten wird 2023 für die Krankenkassen obligatorisch werden. Die Prüfung nach § 273 SGB V wird dann durch den Nachweis von statistischen Zusammenhängen zwischen überdurchschnittlichen Morbiditätszuwächsen und einzelnen Verträgen noch zielgerichteter ungewünschte Vertragseffekte in den RSA-Datengrundlagen nachweisen können. Voraussetzung dafür ist aber eine saubere Zuordnung von Diagnosen zu Verträgen. Gerade für Verträge, die in der Vergangenheit wirksam wurden, kommt dieses Instrument allerdings zu spät – vor allem, wenn Diagnosen aus mittlerweile geänderten oder ausgelaufenen Verträgen Eingang in die reguläre Patient:innendokumentation von Vertragsärzt:innen gefunden haben und über die Datenwege der Regelversorgung gemeldet werden. Die vollständige Verbesserung der Kontrollfunktion der RSA-Datengrundlagen durch die Vertragstransparenzstelle wirkt also nur in die Zukunft. Vor den Altlasten ungerechtfertigter Morbiditätsausweitungen durch vertraglich instituierte Kodierbeeinflussung liefert sie keinen Schutz.

 

Geringer Informationsgewinn für die Öffentlichkeit

Die Informationsfunktion der Vertragstransparenzstelle für die Öffentlichkeit ist insgesamt überschaubar. Vor allem für die Versicherten, die laut Gesetzgeber zentraler Adressat der Online-Plattform beim BAS sein sollen, liefern Aufbereitung und Inhalt des Verzeichnisses praktisch keinen Mehrwert. Die reine Anzahl und grobe Clusterung der vorhandenen Selektivverträge einer Krankenkasse reichen ohne Informationen zum konkreten Vertragszweck nicht aus, um diese Adressatengruppe gehaltvoll zu informieren. Die Aufbereitung der Online-Plattform ist auch nicht darauf ausgelegt, schnell einen Überblick über das für spezifische Versicherte relevante Vertragsangebot zu erhalten oder gar Verträge, Krankenkassen oder Regionen miteinander vergleichen zu können. Für die Versicherten erhöht sich damit weder die Markttransparenz des Selektivvertragsangebots noch wird durch eine Vergleichsmöglichkeit von Verträgen oder Vertragsinhalten der Versorgungswettbewerb in der GKV gestärkt. Ein erkennbarer Nutzen der Vertragstransparenzstelle für den Versicherten stellt sich nicht ein. Die Inhalte der Vertragstransparenzstelle sind aktuell ebenfalls nicht dazu geeignet, eine nutzbare Datengrundlage, beispielsweise für die Versorgungsforschung oder Vertragsevaluationen, bereitzustellen. Insgesamt ist die Vertragstransparenzstelle in der vorliegenden Form für die Öffentlichkeit weitgehend nutzlos.

Perspektivisch ist daher zu hoffen, dass die Vertragstransparenzstelle um Inhalte erweitert wird. Gerade auch mit Blick auf die Verbesserung der Kontrollfunktion wären Informationen hilfreich, die die Reichweite und Relevanz der bestehenden Verträge abbilden und etwa das finanzielle Vertragsvolumen, die Anzahl der eingeschriebenen Versicherten und Leistungserbringer sowie die berührten Leistungen abbilden. Für die Versicherten könnten insbesondere die Vertragsinhalte, der Vertragszweck, die Zielgruppe und Evaluationsergebnisse von Interesse sein. Auf Basis solcher Informationen bestünde durchaus die Möglichkeit, aus einer Vertragstransparenzstelle, die aktuell vor allem der Sicherung der Datengrundlagen des RSA dient, ein Instrument zu machen, das einen relevanten Beitrag zur Transparenz über den Versorgungswettbewerb in der GKV liefert.

 

Literatur

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  • Transparency International Deutschland e.V. (Hrsg.). (2016). Transparency Deutschland fordert umfassende Korruptionsbekämpfung bei Kassen der Gesetzlichen Krankenversicherung. [Pressemitteilung]. Transparency International Deutschland e.V. Online: <https://www.transparency.de/aktuelles/detail/article/transparency-deutschland-fordert-umfassende-korruptionsbekaempfung-bei-kassen-der-gesetzlichen-kranke/> (abgerufen am 11.05.2022).
  • Weinhold, I., Claus, F., Kossack, N. & Häckl, D. (2017). Forschungsprojekt „Kodierwettbewerb“. Einflussnahme auf die ärztliche Kodierpraxis und Auswirkungen der Gesetzesänderungen zur Vermeidung von Kodierbeeinflussungen gem. HHVG. Gutachten für die Techniker Krankenkasse. WIG2 Wissenschaftliches Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung (Hrsg.).

 

 

Dipl.-Pol. Benjamin Berndt

Bereichsleiter Krankenversicherung am WIG2 Institut

Imen Urukova

Junior Wissenschaftliche Mitarbeiterin am WIG2 Institut


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