CDU-Gesundheitspolitik back to the future?

Zum Entwurf des neuen Grundsatzprogramms

Robin Rüsenberg, Lehrbeauftragter am Institute of Comparative Politics and Public Policy an der TU Braunschweig

Die CDU wird gerade grundsätzlich, konkret: Sie ist dabei, sich ein neues Grundsatzprogramm zu geben. 2024 soll es so weit sein. Ein umfangreicher Prozess wurde dafür gestartet, unter anderem tagen elf Fachkommissionen, die Inhalte für das neue Grundsatzprogramm zuarbeiten. Erste Entwürfe werden mittlerweile bekannt.

So haben die Ideen der Fachkommission „Wohlstand“ schon für Furore gesorgt (pauschale Erbschaftsteuer, höhere Steuern). Um die Gesundheitspolitik kümmert sich die Fachkommission „Soziale Sicherung“ unter der Leitung von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer.

 

Politische Wettbewerbsfähigkeit ist gefragt

Die CDU ist eher Macht- als Programmpartei. Grundsatzprogrammen wird – so die allgemeine Einschätzung – in der CDU nicht allzu hohe Bedeutung beigemessen. Es geht eher darum, bürgerlich-konservative Ordnungsvorstellungen zu spiegeln – und außerdem die Tagespolitik nicht allzu sehr zu behindern. Politische Wettbewerbsfähigkeit ist gefragt. So hat die Partei sich auch erst drei Grundsatzprogramme gegeben (1978, 1994, 2007).

Ein Blick in das aktuelle Grundsatzprogramm von 2007 zeigt: Die Gesundheitspolitik spielte keine große Rolle.  Die wichtigsten Stichpunkte: „Eigenverantwortung stärken und die Prävention zu einer eigenständigen Säule im Gesundheitswesen ausbauen.“ Gute, wohnortnahe medizinische Versorgung, Teilhabe am medizinischen Fortschritt, freie Arztwahl, freie Gesundheitsberufe, gesetzliche und private Krankenversicherung weiterentwickeln, individuelle Wahlmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume eröffnen, Wettbewerb stärken. Zur Finanzierung ist das Prämienmodell (als Kopfpauschale verschrien) mit Sozialausgleich vorgesehen, das die Lohnnebenkosten entlasten soll. Kinder sollen über Steuern finanziert werden. Diese programmatischen Überzeugungen spiegeln noch Fragen aus der sozialpolitischen Debatte, die aus der Perspektive des Jahres 2023 lange Zeit gar keine Rolle mehr gespielt haben: Wie weit soll Solidarität reichen? Was soll der Einzelne selbst an Risiken übernehmen?

Als konzeptionelle Kraft hat sich die CDU gesundheitspolitisch bei diesen Aspekten spätestens mit Schwarz-Gelb Anfang der 2010er Jahre verabschiedet. Und das Stimmengift Kopfpauschale wurde anschließend ebenfalls de facto in den GroKos entsorgt. Gesundheitspolitik wurde tagespolitisch aus der Fraktion, dann dem BMG gedacht. Von der Fachkommission „Soziale Sicherung“, die auch das Politikfeld Gesundheit und Pflege umfasst, liegt nun ein Entwurf vor (Stand 29. März 2023).

Kurz zur Fachkommission selbst: Sie ist nicht mit dem Bundesfachausschuss „Soziale Sicherung und Arbeitswelt“ der Partei zu verwechseln, aber es gibt personelle Überschneidungen – und einige gesundheitspolitisch bekannte Gesichter: Claudia Schmidtke, Annette Widmann-Mauz, Tino Sorge, Karl-Josef Laumann.

 

Gesundheitsprämie ist vom Tisch

Wohin könnte die gesundheits- und pflegepolitische Reise für die Partei gehen? Was könnte nun 2024 im Grundsatzprogramm stehen? In der Gesundheits- und Pflegepolitik muss es demnach darum gehen, die Versorgung langfristig zu sichern, strukturell und finanziell. Stichpunkte sind Fachkräftezuwanderung, Digitalisierung, Überwindung Sektorengrenzen, Umbau Krankenhauslandschaft etc. – soweit alles hinlänglich bekannt. Prävention soll gesteigert werden, Gesundheitskompetenz, gesündere Nahrungsmittel, etc. Aber auch: „Eigenverantwortung steht auch im Gesundheitsbereich an erster Stelle.“ Auch die Einführung der Praxisgebühr als Steuerungsinstrument will man zumindest diskutieren. Die Gesundheitsprämie ist hingegen passé.

Jetzt stehen Beiträge im Mittelpunkt, nicht aber steigende Steuerzuschüsse – diese sind nur für versicherungsfremde Leistungen (was dann aber realiter zu steigenden Steuerzuschüssen führen würde, wenn diese denn den Bedarf abdecken sollen). Außerdem sollen Kostenbewusstsein geschärft und Modelle mit „differenzierter Eigenbeteiligung für die gesetzlichen Krankenkassen“ ermöglicht werden. Es wird nicht ganz klar, was damit gemeint ist, zumal für „zusätzliche Leistungsversprechen“ in der GKV die Ressourcen fehlen würden. Ob das KBV-Modell von 2013, das auf abgestufte Wahltarife zur (mehr oder weniger freien) Haus- und Facharztwahl setzt, Pate steht? Fairerweise muss erwähnt werden, dass der entscheidende Part mit der differenzierten Eigenbeteiligung durch den aktuell wohl wichtigsten Sozialpolitiker der CDU, NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann, strittig gestellt ist. Ende 2022 hatten der gesundheitspolitische Sprecher der Bundestagfraktion, Tino Sorge, und der zuständige Fraktionsvize, Sepp Müller, bei der Finanzierung unterschiedliche Ideen geäußert, konkret bei der Frage GKV als Basistarif und Beitragsgestaltung auf Höhe der Rentenversicherung. Davon ist hier keine Rede. An den Leistungskatalog will man in der Partei offenbar auch nicht. Ebenso wenig werden kapitalgedeckte Elemente erwähnt.

Generell soll mehr gesteuert werden, um Geld zu sparen. So sucht man den Klassiker freie Arztwahl vergeblich! Dafür finden sich nun regionale Gesundheitszentren, die Hausarztpraxis als erste Anlaufstelle für Patienten (bemerkenswerterweise werden Hausarztverträge namentlich erwähnt!), dazu Telemedizin und Community Health Nursing. Das klingt weniger nach traditioneller CDU-Gesundheitspolitik, sondern fast schon nach rot-grünen Ideen. In der Pflegeversicherung dann aber schon weniger: Hier will man auf langfristig bezahlbare Pflegezusatzversicherungen setzen („mehr Eigenvorsorge“, „Pflegeversicherung als Teilkaskoversicherung erhalten“), aber auch „geordnete Verantwortlichkeiten für heilkundliche Tätigkeiten und einen modernen Delegationskatalog“. Ein Grundsatzprogramm der 2020er Jahre muss natürlich auch auf die Digitalisierung eingehen. Dass es zu den Aufgaben der Politik gehöre, die Akzeptanz in der Bevölkerung für neue Technologien zu erhöhen, ist aber schon interessant. Die Chancen von KI für die Gesundheitsversorgung will man nutzen und die Risiken minimieren. Abschließend zeigt sich ein strategischer Paradigmenwechsel, der mittlerweile recht oft zu sehen ist: Gesundheit als Standortpolitik und Wirtschaftsförderung, nicht mehr (nur) als Lohnnebenkostenherausforderung. Gesundheits-KI soll in Deutschland Arbeitsplätze schaffen. Bei Arzneimitteln und Medizintechnik soll der Produktions- und Entwicklungsstandort Deutschland für Unternehmen ohnehin wieder attraktiver werden.

 

Jubelstürme sind nicht zu erwarten

Wie sehen denn wohl die Mitgliedschaft und die Wähler der CDU die Ideen? Jubelstürme sind eher nicht zu erwarten. Die begleitende Mitgliederumfrage zum neuen Grundsatzprogramm (immerhin über 65.000 Personen haben teilgenommen) zeigt die Präferenzen der Mitglieder. 64% halten es für besonders wichtig, das Gesundheitswesen zu stärken. Aber wie? Mit Werten von immer deutlich mehr als 70% werden Aspekte einer breit definierten Sicherstellung der Gesundheitsversorgung als besonders dringlich eingeschätzt (Medikamente, Pflegekräfte, Ärzte, flächendeckende Versorgung, Bürokratieabbau). Der Ausbau von Präventionsangeboten kommt auf gerade 35%. Nach mehr Eigenverantwortung wurde nicht gefragt.

Fraglich ist auch, welchen Anklang die Vorschläge in der CDU-Wählerschaft finden: Bei der letzten Bundestagswahl punktete die Union – wie übrigens auch die SPD – überproportional bei älteren Wählern, konkret bei den über 60- und 70-Jährigen. Zudem gewinnt die CDU – zumindest in Westdeutschland – stark abseits der Ballungsräume und Metropolen. Bei älteren Wählern im ländlichen Raum stehen aber – wie bei den CDU-Mitgliedern – Themen der Erreichbarkeit, der Versorgungssicherung und -bezahlbarkeit hoch im Kurs. Mit forschen Appellen an Prävention und (finanzielle) Eigenverantwortung wird man dort keine Begeisterung auslösen, im Gegenteil. Man muss aber fairerweise sagen, dass die Vorschläge zum neuen Grundsatzprogramm Fragen der Sicherstellung – explizit auch im ländlichen Raum – ebenso adressieren und das nicht zu knapp. Außerdem setzt die Partei in Bundestagswahlkämpfen traditionell auch eher auf andere Themen. Siehe 2021, als die thematischen Alleinstellungsmerkmale von CDU/CSU im gemeinsamen Wahlprogramm Infrastrukturausbau, Recht und Ordnung, Bürokratieabbau sowie Wirtschaftsförderung waren.

 

Fazit

Prominent ist natürlich die mögliche Wiederauferstehung der Praxisgebühr. Das strittige Steuerungsinstrument soll aber nicht den Blick darauf verstellen, dass der Vorschlag der Fachkommission einige alte Zöpfe bei der CDU abschneidet, auch das explizite Bekenntnis zum dualen Krankenversicherungssystem fehlt. Begleitet werden die inhaltlichen Lockerungsübungen von einem Revival des Klassikers Eigenverantwortung – wobei diese theoretisch natürlich nie verschwunden war, stand sie doch im gültigen Grundsatzprogramm von 2007. Realpolitisch war sie aber kein Thema. Wie das genau aussehen soll, bleibt aber hinreichend unklar. Insgesamt verbleibt den Gesundheitspolitikern damit noch Handlungsspielraum für das Tagesgeschäft. Zumal das ganze Papier ohnehin ein Entwurf ist, der weiter diskutiert wird. Zum weiteren Zeitplan: Im September soll ein Gesamtvorschlag fertig sein, der dann breiter diskutiert werden kann. Im Mai 2024 soll dann Parteitag das neue Grundsatzprogramm verabschieden.

 

Literatur:

Karl-Rudolf Korte (2018): Parteiendemokratie in Bewegung. Organisations- und Entscheidungsmuster der deutschen Parteien im Vergleich, Baden-Baden: Nomos

 

Der Autor vertritt seine private Meinung. 

 

Weitere Beiträge von Robin Rüsenberg zur Programmatik von Parteien und Koalitionen:

„Wie drei ungleiche Parteien sich auf Gemeinsames einigen“, Observer Gesundheit, 14. Februar 2022,

„Ampel-Schaltung: Wie geht es jetzt bei den Koalitionsverhandlungen weiter“, Observer Gesundheit, 27. Oktober 2021,

„Was erwartet Deutschland bei einer Ampel-Koalition“, Observer Gesundheit, 1. Oktober 2021.

 

 


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