09.10.2020
Zukunft der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
Erwin Rüddel MdB, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages
Die Covid-19-Pandemie hat einerseits hohe Mehrausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung ausgelöst, und gleichzeitig werden durch den dadurch ausgelösten konjunkturellen Einbruch deutliche Mindereinnahmen erwartet. Um die finanzielle Situation der GKV im Jahr 2021 zu stabilisieren, werden wir mit dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz eine Kombination unterstützender Maßnahmen beschließen: Der Bund leistet im Jahr 2021 einen ergänzenden Bundeszuschuss in Höhe von 5 Milliarden Euro an den Gesundheitsfonds, die Finanzreserven der Krankenkassen werden abgesenkt und die Zusatzbeiträge werden moderat erhöht.
Aber auch über 2021 hinaus ist die Finanzierung der GKV nicht gesichert, und wir benötigen grundlegende Reformen, die dem demographischen Wandel und dem medizinischer Fortschritt gewachsen sein müssen. Aufgrund des demographischen Wandels kann man mit Beitragssteigerungen allein das Gesundheitssystem nicht ausfinanzieren, weil immer weniger Versicherte immer mehr Finanzmittel aufbringen müssten. Wir müssen also verstärkt auch auf den Bereich der Ausgaben schauen.
Krankenhausreform dringend erforderlich
Dringend benötigt wird dabei in meinen Augen eine Krankenhausreform, die die Strukturen fit für die Zukunft macht. Eine Spezialisierung der Kliniken würde nicht nur zu einem kostensparenden Bettenabbau führen, sondern auch zu einer besseren medizinischen Versorgung der Patienten in Deutschland. Dabei kann ich mir vorstellen – mit oder ohne Corona –, dass man eher in einem Ballungsraum auf ein Krankenhaus verzichten kann als in der Fläche. Gleichzeitig sehe ich mittel- und langfristig große Problem, Krankenhäuser zu erhalten, die weniger als 100 Betten haben. Meine Erfahrung ist, dass sich diese Häuser einerseits nicht so sehr spezialisieren können und auf der anderen Seite erhebliche Probleme haben, Ärzte zu finden, die langfristig im ländlichen Raum arbeiten wollen. Im Hinblick auf eine wirtschaftliche Krankenhausversorgung sollte auch das Ziel der Standortkonzentration mit Nachdruck verfolgt werden; regionale Doppel- und Mehrfachstrukturen in unmittelbarer räumlicher Nähe sind abzubauen.
Kliniken zu Versorgungszentren entwickeln
Wir müssen diese kleinen Krankenhäuser zu multifunktionalen Versorgungszentren weiterentwickeln, damit der Standort und die Arbeitsplätze in der Region erhalten bleiben. Diese Zentren könnten ambulante und stationäre Versorgung bieten, aber auch Angebote der Kurz- und Langzeitpflege – besonders im Bereich Intensivpflege von Wachkoma- oder Beatmungspatienten – zur Verfügung stellen. Gerade im ländlichen Raum muss die doppelte Facharztschiene kritisch hinterfragt und Krankenhäuser weiter geöffnet werden für die ambulante Leistungserbringung. Länder und Kassenärztliche Vereinigungen müssen enger zusammenzuarbeiten, um mithilfe einer sektorübergreifenden Planung weiterhin eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen.
Um ihre Existenz zu sichern, erbringen Krankenhäuser immer häufiger Leistungen, die mit „Überversorgung“ eher beschönigend beschrieben sind. Die jahrelange Unterfinanzierung der Investitionskosten durch die Länder und die existenzielle Not vieler Kliniken führen zu einer Mengenausweitung. Immer mehr Krankenhäuser erbringen aus Geldsorgen immer komplexere Operationen in geringer Fallzahl. Denn die Krankenhäuser haben häufig gar keine andere Wahl, als ihre Investitionen aus der Betriebskostenfinanzierung der Krankenkassen quer zu subventionieren. Dabei sind in erster Linie die Länder aufgefordert, ihren Finanzierungsverpflichtungen nachzukommen, gleichzeitig müssen wir aber auch Fehlanreize in der Vergütung beseitigen und zur Sicherheit der Patienten Qualitätsstandards definieren.
Anfang des Jahres haben wir eine Reform der Notfallversorgung in Angriff genommen. Aufgrund der Corona-Epidemie haben wir das Gesetzgebungsverfahren zurückgestellt. Die Notwendigkeit bleibt aber bestehen, um die bestmögliche Versorgung von medizinischen Notfällen zu erreichen, indem eine bessere Patientensteuerung implementiert wird.
Die Gesundheitswelt der Zukunft wird vernetzter, digitaler und schneller sein als heute. Kompetenzen werden über Telemedizin an vielen Orten verfügbar sein, und Aufgaben der Medizin werden zunehmend an gut ausgebildete Gesundheitsberufe delegiert werden. Der Weg in diese digitale Welt ist nicht mehr aufzuhalten, die Kooperation der Medizin mit den andern Gesundheitsberufen wird insgesamt die Arbeit im Gesundheitswesen attraktiver machen. Medizin, Pflege und anderer Gesundheitsberufe werden stärker auf Augenhöhe zusammenarbeiten. In vielen anderen Ländern in Europa und in der Welt wird das heute schon praktiziert. Hier haben wir noch einen deutlichen Nachholbedarf. Die Pandemie hat sicherlich dazu beigetragen, dass dieser Entwicklung jetzt auch bei uns an Dynamik gewinnt und Versorgung besser und attraktiver macht.
Schnelles Heben von Effizienzen zur Vermeidung von Kostendämpfungsgesetzen
Eine Krankenhausreform mit Bettenabbau wird sicherlich begleitet werden müssen durch eine optimierte Patienten- und Personalsteuerung, entlastende Dokumentationssysteme, vorausschauende Logistik, Telemedizin und technische Assistenzsysteme. Nicht überall wird man jede Kompetenz vorhalten können, aber man wird über moderne Kommunikationssysteme ein Mehr an Kompetenz jedem Ort zuleiten können. Mit dem Krankenhausdigitalfonds sorgen wir aktuell dafür, dass die Krankenhäuser weiter in diese digitale Welt vordringen können.
Aber auch im ambulanten Bereich wird die Digitalisierung zur einer verbesserten Diagnostik führen und die Therapiesicherheit erhöhen. Viele Entscheidungen werden zukünftig sogar im häuslichen und privaten Umfeld des Patienten getroffen. Der Patient der Zukunft wird über Telemedizin, KI und eine entsprechende Triage in die richtige Versorgung geleitet.
Das Heben von Effizienzen und die verstärkte Digitalisierung sind wichtige Bausteine für stabile Finanzen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das müssen wir schnell und konsequent angehen, da wir sonst Kostendämpfungsgesetze beschließen werden müssen. Dazu würde auch die Frage nach einer möglichen Selbstbeteiligung gehören.
Abschaffung der Praxisgebühr war Fehler
Die ursprünglich beabsichtigte Lenkungswirkung der Praxisgebühr ist damals nicht eingetreten. Die Hoffnung, mit der Gebühr könnten Bagatellbesuche und Facharzthopping begrenzt werden, hatte sich nicht erfüllt. Die Zahl der Arztkontakte lag in Deutschland auch mit Praxisgebühr noch immer deutlich über dem OECD-Schnitt. Die Abschaffung der Praxisgebühr war meines Erachtens trotzdem ein Fehler und dem Wahlkampf des damaligen Koalitionspartners geschuldet. Meiner Meinung nach wäre vielmehr eine intelligente Weiterentwicklung sinnvoll gewesen, auch um die Hausarztzentrierte Versorgung zu stärken. Gesundheitsökonomen hatten damals vorgeschlagen, bei jedem Arztbesuch einen kleineren Betrag zu erheben, um unnötige Arztbesuche vielleicht zu vermeiden.
Zusätzlich zu der Lenkungswirkung hätte eine solche Gebühr vielleicht zu einem gewissen Kostenbewusstsein beigetragen. Das war auch eines der Ziele der Patientenquittung, die aufzeigt, welche Leistungen der Arzt abrechnet und welche Kosten damit verbunden sind. Leider wird diese Möglichkeit heute noch zu selten genutzt. Mit Hilfe der elektronischen Gesundheitsakte werden wir diese Informationen dann der breiten Masse der Versicherten zur Verfügung stellen können.
Die Finanzlage der gesetzlichen Krankenkassen sieht aktuell nicht gut aus, und es wird nicht DIE EINE Lösung geben. Wir werden viele verschiedene Maßnahmen in Angriff nehmen müssen, unvoreingenommen alte Gewissheiten auf den Prüfstand stellen und dabei dann auch unangenehme Diskussionen aushalten müssen. Aber nur, wenn wir dazu auch bereit sind, werden wir die Zukunft des Gesundheitswesens aktiv gestalten können.
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