„Wir müssen Gesundheitsdaten nutzen und vernetzen können“

Ziele sind zukunftsfähige Forschung und bessere Patientenversorgung

Tessa Wolf, Senior Director Governmental Affairs, Patient Affairs und Payer Affairs bei AstraZeneca Deutschland

Rund 80 Prozent der Deutschen würden ihre Daten laut des Self Tracking Reports 2022 der medizinischen Forschung zur Verfügung stellen. Dr. Alexander Schachinger vom Marktforschungsunternehmen EPatient Analytics hat diese wissenschaftliche Studie gemeinsam mit Prof. Dr. Sylvia Thun (Charité) und Prof. Dr. Klaus Hurrelmann (Hertie School Berlin) umgesetzt. Das Ergebnis ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die deutsche Gesetzgebung das Sammeln von Patient:innendaten quasi unmöglich macht.

Anamnesen, Diagnosen, Auslöser für bestimmte Krankheiten, spezifische Symptome und Verläufe, Wechselwirkungen, Labortests – ein Zusammenspiel all dieser Daten ließe uns die Prävention von Erkrankungen und die Qualität der Patient:innenversorgung enorm optimieren. Wichtig ist mir zu betonen, dass wir immer von anonymisierten oder pseudonymisierten Daten sprechen. Informationelle Selbstbestimmung und Patient:innenschutz müssen weiterhin an erster Stelle stehen.

Wir haben also auf der einen Seite eine Bevölkerung, die gewillt ist, ihre Daten für die medizinische Forschung herzugeben, und dies auch schon vielfach tut. Auf der anderen Seite haben wir dafür bisher keine Strukturen und rechtlichen Grundlagen. Woran liegt es, dass wichtige Akteure unseres Gesundheitssystems um die Verfügbarkeit dieser Daten ringen müssen? Warum ist Deutschland noch nicht so weit, wie viele andere europäische Länder?

Wie immer gibt es nicht nur den einen Grund. Vielmehr ist es ein Geflecht aus Gesetzen und komplexen Hürden. So gilt in Deutschland zum Beispiel eine sehr strenge Auslegung der europäischen Datenschutzregeln. Diese Regeln sind enorm wichtig, sollten aber differenziert betrachtet werden und nicht jeglicher Datennutzung einen Riegel vorschieben. Viele andere EU-Länder, die an dieselben Regeln gebunden sind, haben diese deutlich lockerer interpretiert. Außerdem war Deutschland in Sachen Digitalisierung lange rückständig. Es gibt zum Beispiel bis heute kein einheitliches Format zur Dokumentation, es fehlen Standards und Schnittstellen. Der kürzlich vorgelegte Entwurf einer Digitalstrategie lässt uns hoffen, bleibt aber noch zu sehr an der Oberfläche.

Deutschland hat eines der besten Gesundheitswesen der Welt. Das lädt dazu ein, alles so zu lassen, wie es ist. Es dämpft die Veränderungsbereitschaft in der Politik sowie die Motivation der Beteiligten im Gesundheitswesen. Mit dem Ziel einer besseren und zukunftsorientierten Patient:innenversorgung und Forschung müssen wir jedoch viel stärker auf die Digitalisierung setzen. Nicht zuletzt gibt es trotz einer großen Offenheit in der Bevölkerung nach wie vor viele Skeptiker, was die Nutzung von Gesundheitsdaten betrifft. Hier braucht es weitere Aufklärung – auch in Richtung der Politik.

 

Kooperation und Eigeninitiative erforderlich

Wie also kann Vertrauen aufgebaut und der Nutzen von Gesundheitsdaten belegt werden? Dazu hat mein Kollege Alexander Unger, Director Data Insights & Business Intelligence bei AstraZeneca Deutschland, bereits einen wichtigen veröffentlicht. Er benennt in seinem Text wichtige Impulse, von denen ich einige hier aufgreifen möchte:

  • Wir müssen eine hohe Qualität und eine konsequente Digitalisierung der Daten gewährleisten. Dazu müssen die Daten nach einheitlichen Standards erfasst, strukturiert und verfügbar gemacht werden.
  • Zudem muss es überhaupt erst einmal eine rechtliche Basis geben, die den Zugang zu diesen Daten ermöglicht. Sowohl die öffentliche als auch die industrielle Forschung sollte antragsberechtigt sein. Jegliche Analyse darf natürlich nur anhand aggregierter Daten in einer gesicherten und datenschutzzertifizierten Umgebung stattfinden. Eine Re-Identifikation von Patient:innen muss ausgeschlossen sein.
  • Und nicht zuletzt müssen wir Datensilos auflösen. Die Verknüpfung verschiedener Datenquellen ist der Schlüssel zu besseren Erkenntnissen und innovativen Forschungsansätzen.

Um konkrete Szenarien für eine verbesserte Patient:innenversorgung aufzuzeigen, setzen wir bei AstraZeneca auf Kooperation und Eigeninitiative. Zuletzt hat der HealthDataDive, den wir gemeinsam mit der GWQ ServicePlus AG veranstaltet haben, gezeigt, welchen Mehrwert Vernetzung bieten kann. In diesem Datathon wurden pharmazeutische Studiendaten mit Abrechnungsdaten von gesetzlichen Krankenkassen kombiniert. So konnte beispielsweise ein Algorithmus erarbeitet werden, der vorhersagen lässt, wann jemand mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Asthma-Anfall bekommt. Wenn wir Erkrankungen oder Risikofaktoren frühzeitig erkennen und die Prävention und Behandlung dahingehend weiterentwickeln, kann das für Patient:innen lebensverändernd sein.

Solche hoffnungsvollen Ansätze müssen wir verfolgen. Es gibt weitere Initiativen, die dafür den Weg bereiten. So trägt Gaia-X zum Aufbau einer leistungsfähigen und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur für Europa bei – mit wichtigen Beteiligten wie der Charité Berlin, dem Fraunhofer- oder dem Hasso-Plattner-Institut. In der Diskussion sind gemeinsame Datenstandards oder ein European Health Data Space. Gaia-X bildet hier die Plattform-Architektur.

Weitere Denkanstöße kommen von unseren europäischen Partner:innen. Findata in Finnland, Health Data Research UK und das französische Health Data Hub (HDH) zeigen, wie sich zentrale Plattformen für Gesundheitsdaten schaffen und sinnvoll nutzen lassen. Es sind gute Beispiele für den Zugang zu verschiedensten Datenquellen unter Beachtung höchstmöglicher Sicherheitsstandards und Transparenz. Auch das für 2023 geplante deutsche Forschungsdatenzentrum verfolgt diesen Anspruch und soll Gesundheitsdaten zugänglich machen. Hier gehört die Industrie bisher leider nicht zum Kreis der berechtigten Antragsstellenden, obwohl ein Großteil der Forschungsaktivitäten von ihr ausgeht und Gesundheitsdaten essenziell für die Entwicklung innovativer Medikamente und Behandlungsmethoden sind.

 

Gemeinsam zu einer besseren Datenbasis

Neben den Chancen, die eine Digitalisierung und der Nutzen von Patient:innendaten bieten, müssen wir uns auch die Frage stellen, wie Ärzt:innen die Sammlung der Daten leisten können. Mehr Patient:innen-Daten und Dokumentation bedeuten einen Zusatzaufwand, für den sowohl das Personal als auch das passende Abrechnungs- beziehungsweise Aufwandsentschädigungsmodell fehlen. Die ePA wird erst in Zukunft dabei unterstützen und sicherlich nicht allen Mehraufwand abdecken können. Es braucht also Strategien, um die Ärzteschaft zumindest in den ersten Schritten besser zu unterstützen. Denn, was zu Beginn für mehr Arbeit sorgt, soll eine Entlastung zum Ziel haben. Wenn Praxen untereinander besser vernetzt und Daten zugänglich sind, lassen sich beispielsweise doppelte Untersuchungen vermeiden. Das kann nur durch klares und einheitliches Vorgehen funktionieren.

Am Ende geht es darum, dass für eine zukunftsfähige Forschung alle Akteure an einem Strang ziehen müssen. Nur wenn Vertreter:innen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Politik gemeinsam daran arbeiten, Daten sinnvoll und sicher zusammenzubringen, können alle – und vor allem Patient:innen – davon profitieren. Noch stehen wir am Anfang. Aber in der Kombination aus einheitlichen Datenerfassungsstandards, erweiterten Antragsrechten, hoher Transparenz und einer unabhängigen Wissenschafts- und Ethikkommission sehe ich gute Voraussetzungen für Deutschland, deutlich aufzuholen.

 

Literatur:


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