Wir brauchen eine patientenorientiertere Evidenzbewertung bei der Festlegung des Leistungskatalogs der GKV

Dr. Martin Danner, Geschäftsführer der BAG SELBSTHILFE

Es ist eine große Errungenschaft, dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung anhand der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin konkretisiert wird. Nur so kann sichergestellt werden, dass in der Versorgung diagnostische und therapeutische Verfahren auch tatsächlich einen patientenrelevanten Nutzen aufweisen und für Patientinnen und Patienten sicher sind.

Aus diesem Grunde richten die Patientenorganisationen ihr Antragsrecht beim Gemeinsamen Bundesausschuss, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog aufzunehmen, auch strikt an den Grundsätzen des Nutzennachweises aus. In aller Regel sind die darauf folgenden Nutzenbewertungsverfahren auch fair und Bewertungsergebnisse sachlich sowie rechtlich tragfähig.

 

Nutzenbewertung ist keine „reine“ Wissenschaft

Die Bewertung ist jedoch kein mechanistischer Vorgang, bei dem man wie bei einem Automaten oben die Studienlage eingibt und unten das Bewertungsergebnis abrufen kann. Alle Beteiligten beim Gemeinsamen Bundesausschuss haben trotz aller Kategorisierungsversuche einen Bewertungsspielraum, ob die Evidenz als ausreichend oder nicht ausreichend angesehen wird. Wir reden hier über Einschätzungsunterschiede im Detail, die durchaus Folge von Eigeninteressen der Beteiligten sein können, die aber gravierende Auswirkungen auf das Bewertungsergebnis bzw. das Abstimmungsverhalten beim Gemeinsamen Bundesausschuss haben können. Die Nutzenbewertung ist also keine „reine“ Wissenschaft, sondern es sind immer auch Interessen im Spiel.

 

Debatte zum BMG-Vorschlag völlig verzerrt

Diese sehr detailliert zu betrachtende Problematik wird in der aktuellen Debatte zum Vorschlag einer Ermächtigung des Bundesministeriums für Gesundheit zur ergänzenden Entscheidung über die Aufnahme neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in den Leistungskatalog der GKV völlig verzerrt:

Dies beginnt schon damit, dass die Liposuktion als Projektionsfläche für das Thema gewählt wurde. Das in der öffentlichen Diskussion angeführte Beispiel der Liposuktion betrifft nicht die Idee, Fettabsaugen für jedermann verfügbar zu machen, wie teilweise kolportiert wurde. Es geht vielmehr um eine Behandlungsmaßnahme für Patientinnen mit Lipödem (also einer seltenen Erkrankung), deren Aufnahme in den Leistungskatalog die Patientenorganisationen aufgrund der positiven Studienlage und des Fehlens von tragfähigen Behandlungsalternativen beim G-BA beantragt hatten. Wie schon beschrieben wurde, ging es hier nicht darum, ob man „für“ oder „gegen“ die evidenzbasierte Medizin ist, sondern um Bewertungsunterschiede. Der G-BA beschreibt die Evidenzlage zur Liposuktion wie folgt:

„Bei allen bestehenden methodischen Limitationen (keine Kontrollgruppen, hoher Anteil fehlender Daten) geben die berichteten Endpunkte Anhaltspunkte dafür, dass mindestens ein Teil der behandelten Patientinnen jedenfalls kurzfristig von der Liposuktion profitiert, indem die KPE (komplexe physikalische Entspannungsbehandlung) reduziert werden kann, ohne den bisherigen Behandlungserfolg einzubüßen oder gar eine Verschlimmerung des Zustandes befürchten zu müssen (…)“. (Aus den Tragenden Gründen des entsprechenden Beschlusses)

Aus Sicht der Patientenvertretung stellt sich die Studienlage wie folgt dar:

„Die Studien zur Bewertung des Nutzens der Liposuktion zeigen signifikante Verbesserungen hinsichtlich folgender patientenrelevanter Endpunkte: Spontan- und Druckschmerzen, Ödembildung und Neigung zu Blutergüssen, Bewegungseinschränkungen, kosmetische Beeinträchtigung und Lebensqualität, sowie eine Reduktion des Ausmaßes der konservativen Therapie nach der Liposuktion. Alle Primärstudien machen zudem Angaben zur Sicherheit der Liposuktion. Komplikationen sind danach insgesamt selten und schwere Komplikationen aufgrund der Liposuktion sind nicht aufgetreten. Zwei Studien, die eigens zur Bewertung der Sicherheit der Liposuktion durchgeführt wurden, ergaben, dass die Liposuktion unter Lokalanästhesie ein sicheres Verfahren ist. Obwohl den Studien methodische Limitationen zu attestieren sind, zeigen alle einen gleichgerichtet positiven Effekt.“

Diese positive Studienlage wurde von den Partnern der Selbstverwaltung nicht zum Anlass genommen, die Methode aufzunehmen, sondern es wurde entschieden, dass über eine Erprobungsstudie zusätzliche Nachweise zu erbringen seien. Aus Sicht der Patientenorganisationen ist diese Evidenzbewertung viel zu restriktiv und führt auch ins versorgungspolitische Abseits: Da nicht absehbar ist, ob diese Studien zustande kommen, werden die Patientinnen zunächst einmal auch weiterhin im Stich gelassen. Die Liposuktion muss dann weiterhin privat finanziert werden, was die Kassen der Krankenversicherung schont und den Leistungserbringern eine private Liquidation des Honorars erlaubt.

Wird darüber diskutiert, in solchen Fällen über das Bundesministerium für Gesundheit eine Ergänzung des Leistungskatalogs zu ermöglichen, dann hat dies mit der Einführung der Staatsmedizin ebenso wenig zu tun wie mit der Aufgabe des Prinzips der evidenzbasierten Medizin.

 

Rein politisch motivierte Steuerungsentscheidungen nicht sachgerecht

Andererseits erscheint es auch nicht als sachgerecht, dass das Bundesministerium für Gesundheit neben dem Gemeinsamen Bundesausschuss quasi als Parallelinstanz bei der Ausgestaltung des Leistungskatalogs mitwirkt und womöglich rein politisch motivierte Steuerungsentscheidungen trifft.

Dieses Problem ließe sich jedoch ganz einfach beheben: Als Voraussetzung für die Ersatzvornahme durch das Ministerium sollte gesetzlich festgelegt werden, dass das in Rede stehende Bewertungsverfahren ursprünglich durch einen Antrag der maßgeblichen Patientenorganisationen nach § 140f SGB V in Gang gesetzt wurde und dass eben diese Organisationen nach einer ablehnenden Entscheidung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss das Bundesministerium für Gesundheit durch einen einvernehmlichen Beschluss mit der Bitte um Entscheidung anrufen können.

Eine solche Lösung könnte dreierlei ermöglichen:

  1. Es würde eine weitere Prüfmöglichkeit immer dann eröffnet, wenn in Grenzfällen der Evidenzbewertung aus Patientensicht ein allzu restriktiver Prüfmaßstab angelegt wurde.
  1. Die Balance zwischen Gemeinsamer Selbstverwaltung und ministerieller Verantwortungsübernahme bliebe erhalten.
  1. Die Patientenperspektive erhielte in den Bewertungsprozessen eine größere Bedeutung, ohne dass man den Patientenorganisationen sogleich ein Mitentscheidungsrecht zuerkennen müsste.

Wir kämen also weiter voran auf dem Weg zu einer patientenorientierten Evidenzbewertung bei der Festlegung des Leistungskatalogs der GKV.


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