Wie gewonnen, so zerronnen – bestenfalls

Dr. Volker Hansen, Leiter der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA)

39,75 Prozent – das ist die aktuelle Beitragssatzsumme in der Sozialversicherung. Und laut Koalitionsvertrag soll sie auch in der laufenden Legislaturperiode bei unter 40 Prozent stabilisiert werden. Wobei kinderlose Beitragszahler bereits heute wegen des Zuschlags in der Pflegeversicherung auf exakt 40 Prozent kommen. Die Einhaltung dieser Haltelinie könnte der Bundesregierung sogar gelingen. Trotz ihrer Spendierhosen auf der einen und ihrer Knauserigkeit auf der anderen Seite. Aber um welchen Preis? Eine verantwortungsvolle und zukunftsorientierte Sozial- und Gesundheitspolitik jedenfalls sieht anders aus!

So will der Bundesgesundheitsminister zum 1. Januar 2019 den Beitragssatz in der Pflegeversicherung auf einen Schlag um satte 0,3 Prozentpunkte anheben. Das kostet dann die Beitragszahler pro Jahr 4,5 Milliarden Euro. Und das soll dann auch nur bis 2022 reichen. Der GKV-Spitzenverband weist darauf darin, dass auch für die Zeit bis dahin eine weitere Anhebung um letztlich 0,5 Prozentpunkte nicht ausgeschlossen werden kann. Im „Sofortprogramm Kranken- und Altenpflege“ sollen dann vor allem die Beitragszahler in der Krankenversicherung zur Kasse gebeten werden. Zur Finanzierung von mehr Personal und höheren Löhnen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Das macht dann mindestens noch einmal 0,1 Beitragssatzpunkte oder 1,5 Milliarden Euro pro Jahr aus. Und wohlgemerkt, es geht hier um ein Sofortprogramm, dem weitere „Reformvorschläge“ folgen werden, wie zum Beispiel die Einführung von verbindlichen Personaluntergrenzen im Krankenhaus und Personalbemessungsinstrumenten in der Pflege.

Damit sind bereits alle geplanten Entlastungen für die Beitragszahler sofort und komplett wieder einkassiert. Zum einen die laut Koalitionsvertrag geplante Absenkung des Beitragssatzes bei der Bundesanstalt für Arbeit um 0,3 Prozentpunkte zum 1. Januar 2019. Zum anderen die laut dem GKV-VEG-Gesetzentwurf für 2020 angekündigte Senkung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes in der Krankenversicherung um 0,1 Prozentpunkte durch eine gesetzliche Begrenzung der Kassenüberschüsse. Wie gewonnen, so zerronnen! Aber, wie gesagt, dieses Nullsummenspiel ist wegen der zahlreichen Unwägbarkeiten keinesfalls das letzte Wort. Und was noch viel schwerer wiegt: Durch das Verspielen von Entlastungsmöglichkeiten wird die Wahrscheinlichkeit, dass in den kommenden Jahren die Beitragssatzsumme in der Sozialversicherung früher und schneller angehoben werden muss als bisher berechnet, erheblich größer.

Auf von der Politik selbst geschaffene Finanzengpässe und Finanzbedarfe – beispielsweise durch die letzten Pflegestärkungsgesetze und die (bewusste?) deutliche Unterschätzung der daraus resultieren Zusatzkosten – immer und sofort bzw. reflexartig mit der Ankündigung von Beitragssatzerhöhungen zu regieren, kann deshalb kein sachgerechtes Problemlösungsinstrument sein. Jeder zusätzliche Beitragssatzpunkt kostet Wachstum und Arbeitsplätze. Das schmälert unmittelbar, dauerhaft und nachhaltig die Finanzierungsbasis aller Sozialversicherungszweige sowohl beim Beitrags- als auch beim Steueraufkommen. Und wenn die Konjunktur künftig einmal schlechter laufen sollte, dann wiegt das umso schwerer. Schon jetzt korrigieren die Forschungsinstitute ihre Konjunkturprognosen – wegen Brexit, Trump und Regierungsquerelen – reihenweise kräftig nach unten.

In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass sich die Ausgaben der Pflegeversicherung allein von 2012 bis 2017 um rund 16 Milliarden Euro auf jetzt 39 Milliarden Euro pro Jahr erhöht haben, also um fast 70 Prozent bzw. mehr als 11 Prozent im Jahresdurchschnitt. In jedem anderen Sozialversicherungszweig hätten solche Zahlen einen Aufschrei und wohl auch sofortige Gegenmaßnahmen in der Politik und beim Gesetzgeber ausgelöst.

Nicht aber in der Pflegeversicherung. Hier werden weiterhin Beitragssatzerhöhungen angekündigt, Freibriefe ausgestellt und Verschiebebahnhöfe aktiviert, die geradezu unwirtschaftliches Verhalten produzieren müssen und so die Beitragszahler ein weiteres Mal zur Kasse bitten werden. So sollen die geplanten zusätzlichen 13.000 Pflegestellen in den Pflegeheimen voll von den Krankenkassen (!) finanziert werden. Und in der Krankenpflege soll „zukünftig jede zusätzliche Pflegestelle und jede lineare und strukturelle Tarifsteigerung vollständig von den Kostenträgern refinanziert werden“. Paradiesische Zustände, nur nicht für die Beitragszahler und die Volkswirtschaft. Das längst für tot erklärte Selbstkostendeckungsprinzip lässt grüßen und feiert fröhliche Wiederauferstehung.

Für die Arbeitgeber kommen zu diesen Mehrbelastungen noch zusätzliche Kosten von über 5 Milliarden Euro pro Jahr hinzu. Durch die angekündigte paritätische Finanzierung des Zusatzbeitrags in der Krankenversicherung. Noch nie hat es in der Geschichte der Bundesrepublik ein Gesetz gegeben, das die Lohnzusatzkosten auf einen Schlag so kräftig nach oben getrieben hat. Auch das kostet dauerhaft Arbeitsplätze. Laut einer aktuellen PROGNOS-Untersuchung bis zu 200.000!

Was wären die Alternativen? Zum einen kann der Beitragssatz bei der Bundesagentur für Arbeit problem- und risikolos um 0,5 Prozentpunkte statt nur um 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden. Zum anderen ist auch in der Pflegeversicherung an einen Bundeszuschuss zur Abdeckung versicherungsfremder Leistungen zu denken. Der GKV-Spitzenverband hat hier eine Summe von immerhin rund 2,7 Milliarden Euro errechnet. Vor allem aber müssen in der Pflegeversicherung endlich die Wirtschaftlichkeitsreserven erschlossen werden. Das setzt voraus, dass auch in diesem Sozialversicherungszweig endlich Kosten-, Preis- und Qualitätswettbewerb eingeführt wird. Statt Einheitsversicherung mit einheitlichem Beitragssatz und vollem Ausgabenausgleich. In der Krankenversicherung hat sich das voll bewährt, warum nicht auch in der Pflegeversicherung.


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