Wie funktioniert Gesundheitspolitik?

Anmerkungen eines Veteranen

Hartmut Reiners

Die politische Analyse zum „Kompendium der Governance des deutschen Gesundheitswesens“ von Prof. Dr. Andreas Lehr und Dr. Ines Niehaus, veröffentlicht im Observer Gesundheit vom 3. Mai 2025, hat in der Fachwelt große Resonanz erzeugt. Neben Einschätzungen wie „interessant“ und „sehr aufschlussreich“ wurde insbesondere die Vielfalt der Perspektiven hervorgehoben – etwa der medienbezogene Blick über den institutionellen Rahmen des Gesundheitswesens hinaus.

Ein Anlass, das Thema Governance im Gesundheitswesen weiter zu vertiefen – gerade jetzt, zu Beginn der Amtszeit der neuen Bundesgesundheitsministerin Nina Warken. Den Auftakt macht heute Hartmut Reiners – langjähriger Beobachter und Analytiker der Gesundheitspolitik –, der sich selbst als Veteran des Feldes einordnet.

Wir rufen alle Interessierten auf: Beteiligen Sie sich! Bringen Sie Ihre Perspektiven ein! Die Gestaltung von Governance ist zu zentral, um sie dem Zufall oder Einzelinteressen zu überlassen.

 

Andreas Lehr und Ines Niehaus bescheinigen Karl Lauterbach in ihrer Analyse einen eigenwilligem Politikstil: „Sein Alleinstellungsmerkmal als Minister scheint zu sein, dass er nicht nur, wie schon davor, die Medien an sich gezogen hat, sondern zusätzlich auch noch Kompetenzen und damit Macht an das BMG bzw. an sich selbst.“

Darüber lässt sich streiten, denn Karl Lauterbach hat zwar versucht, seine Reformgesetze im Alleingang durchzuziehen, aber er damit hat politische Gestaltungskompetenz nur vorgetäuscht. Sein mediales Talent, politische Ab- und Ansichten in kurzen Statements plakativ zu verkünden, ist unbestritten. Aber genau dieses PR-Talent ist auch sein Problem, weil er laufend Reformen angekündigt hat, ohne einen Plan für deren Realisierung zu haben.

Gesundheitspolitik basiert zwar auf Reformideen, aber deren Umsetzung ist ein vielschichtiger Prozess mit etlichen politischen Fallstricken. Ein Bundesgesundheitsminister muss seine Gesetzesprojekte nicht nur durchs Kabinett und den Bundestag bringen, sondern meistens auch durch den Bundesrat. Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, der die exekutive Macht des BMG einschränkt: das Selbstverwaltungsprinzip des GKV-Systems. Die eh schon komplizierten Strukturen der Gesundheitspolitik werden im öffentlichen Diskurs noch überlagert von Mythen und faktenresistenten Dogmen. Diese Gemengelage erfordert für die Realisierung von Reformen im Gesundheitswesen nicht nur die Organisation von politischen Mehrheiten, sondern auch Einfühlungsvermögen in die Interessen und Handlungsoptionen der Akteure im Gesundheitswesen. Dieses Talent geht Karl Lauterbach offenkundig ab. 

 

Gesundheitspolitik im Föderalismus

Andreas Lehr und Ines Niehaus sehen in Karl Lauterbachs Politikstil Ähnlichkeiten mit dem seines Amtsvorgängers Jens Spahn. Auch der habe eine Politik der Alleingänge und Zentralisierung der Gestaltungsmacht im BMG betrieben. Das stimmt insofern, als beide Politiker ihre Gesetzgebungsprojekte so organisiert haben, dass sie keine Zustimmung des Bundesrates benötigten. Aber damit haben sie politische Effektivität nur vorgetäuscht. Die Gesundheitspolitik ist im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes und der Länder von einer Doppelzuständigkeit geprägt. Während die Finanzierung und Leistungen der GKV und der Pflegeversicherung vom Bundestag weitgehend ohne Zustimmung des Bundesrates gestaltet werden können, sind die Versorgungsstrukturen nur gemeinsam mit den Ländern gestaltbar.

Ein zusätzliches Problem ist dabei, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik nur selten die gleichen parteipolitischen Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat gegeben hat. Karl Lauterbachs Kernprojekt, die Krankenhausreform, hat zwar die Länderkammer passiert, aber wesentliche Teile, vor allem die Reform der DRG-Fallpauschalen, sind an Durchführungsverordnungen gebunden, denen die Länder zustimmen müssen. Daran geht kein Weg vorbei.

Strukturreformen, die diese Bezeichnung verdienen, sind im Gesundheitswesen nur realisierbar, wenn der Bund und die Länder an einem Strang ziehen. Hier drei Beispiele:

  • Das Ende 1992 verabschiedete Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) brachte eine längst überfällige Organisationsreform der GKV mit der Ablösung der berufsständischen Gliederung durch die freie Kassenwahl und der Einführung eines bundesweiten Risikostrukturausgleichs unter den Kassen. Die Protagonisten dieser Reform, der damalige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) und der SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler, haben das GSG gemeinsam mit den Ländern in straff organisierten Arbeitsklausuren in wenigen Wochen erarbeitet und in schneller Taktung durch das Gesetzgebungsverfahren gebracht. Die Lobby der Reformgegner hatte keine Chance.
  • Auch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) von 2003 war das gemeinsame Produkt einer großen Sachkoalition von Bund und Ländern. Es ist ein eher unterschätztes Gesetz, das mit dem Paradigma der evidenzbasierten Medizin eine neue Orientierung für den Leistungskatalog der GKV brachte. Sie wurde im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) von 2007 durch die Einführung von Kosten-Nutzen-Bewertungen medizinischer Innovationen ergänzt. Die Übertragung dieser Aufgaben an den neu gestalteten Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) war ein großer Fortschritt.
  • Der Gesundheitsminister der zweiten Merkel-GroKo Hermann Gröhe (CDU) erledigte seinen Job geräuschlos und auch deshalb effektiv. Er reformierte in enger Zusammenarbeit mit den Ländern und Fachleuten den Leistungskatalog der Gesetzlichen Pflegeversicherung (GPflV) nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit. Diese Reform wurde von der Fachwelt einhellig begrüßt.

Die Möglichkeiten, Bund-Länder-Koalitionen in der Gesundheitspolitik zu schmieden, sind seit den Wahlerfolgen der AfD zwar schwieriger, aber nicht unmöglich geworden. Jens Spahn und Karl Lauterbach haben mit gesetzgeberischen Tricksereien versucht, den Bundesrat außen vor zu halten und sind damit gescheitert. Spahns Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) vom Mai 2019 ist ein Omnibusgesetz mit einem Sammelsurium von Detailveränderungen, die an den für die wachsenden Versorgungsprobleme verantwortlichen Strukturen unseres Gesundheitswesens nichts geändert haben. Karl Lauterbach hat eine Reform nach der anderen angekündigt und einige davon auch ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht, ohne ihre Inhalte mit den Ländern abzustimmen, obwohl sie ohne deren Mitwirkung bzw. Zustimmung gar nicht realisiert werden können.

Anstatt die im BMG reichlich vorhandene gesundheitspolitische Expertise zu nutzen, hat er es vorgezogen, für die Konzipierung des Großprojekts einer Krankenhausreform eine vornehmlich aus Wissenschaftlern bestehende Regierungskommission einzusetzen. Deren nach und nach vorgelegten Arbeitsergebnisse hätten ihm seine Beamtinnen und Beamten innerhalb von zwei Wochen zusammenstellen können. Mit den Ländern hat er erst nach einem Jahr politische Gespräche geführt, die gleich zu Beginn seiner Amtszeit hätte stattfinden müssen. So wurde wertvolle Zeit verplempert.

Sicher kann man die Bundesregierungen der beiden letzten Jahrzehnte nicht allein für die Versäumnisse in der Gesundheitspolitik verantwortlich machen. Die Länder haben ihre eigenen Aufgaben im Gesundheitswesen in den vergangenen zwanzig Jahren sträflich vernachlässigt. Ihre im KHG vorgeschriebenen Fördermittel für die Krankenhäuser wurden halbiert, was nicht nur zu dem beklagten Investitionsstau geführt hat, sondern auch zu Lasten der Pflegekräfte und der Patientenbetreuung ging, deren Stellenpläne von Krankenhausbetreibern zusammengestrichen wurden. Auch der in der Verantwortung der Länder und Kommunen liegende Öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) wurde vernachlässigt, was in der Pandemie offenkundig wurde. 

 

Selbstverwaltungsprinzip

Die deutsche Gesundheitspolitik ist nicht nur wegen des Föderalismus so kompliziert, sondern auch wegen des Selbstverwaltungsprinzips im GKV-System. Es gibt den Akteuren in unserem Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen europäischen Systemen eine relativ große Unabhängigkeit vom Regierungsapparat. Die Verbände der Krankenkassen und der Leistungserbringer sind zwar Körperschaften des Öffentlichen Rechts oder wurden mit diesem Status beliehen und sind damit Teil der staatlichen Exekutive. Aber sie unterliegen nicht den Weisungen der Bundes- und Landesregierungen, sondern nur deren Rechtsaufsicht. Daraus ist ein besonderer Korporatismus entstanden, der vor allem in der ambulanten Versorgung zu einem Spannungsverhältnis mit der politischen Ebene geführt hat.

Während in der stationären Versorgung die Länder für die Bedarfsplanung und die Sicherstellung verantwortlich sind, haben diese Funktion in der ambulanten Versorgung seit dem Berliner Abkommen von 1913 die Verbände der Krankenkassen und der Ärzte. Damals wurde die Zahl der GKV-Mitglieder pro Vertragsarztpraxis in einer Region vertraglich geregelt und das System der Gesamtvergütung eingeführt mit einer von den Ärzteverbänden bzw. KVen geregelten Honorarverteilung auf die Arztpraxen. Dieser Korporatismus erhielt 1955 eine gesetzliche Grundlage. Wenn heute Ärztefunktionäre die Abschaffung der Budgetierung ihrer Vergütungen fordern, läuft das auf eine grundlegende Änderung des von ihnen selbst durchgesetzten Kollektivvertragssystem hinaus. Der Honorarverteilungsmaßstab und die Regelleistungsvolumina für Arztpraxen sind keine Erfindung von Politikern, sondern von Kassenarztfunktionären. Sie sollten sich an die eigene Nase fassen, wenn sie über die wachsenden Bürokratielasten klagen.

Das rechtliche Beziehungsgeflecht zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern hat sich vor allem in der vertragsärztlichen Versorgung zu einem kaum noch handhabbaren Regelwerk entwickelt. Die Sozialrechtler Ulrich Becker und Thorsten Kingreen kommen im Vorwort des von ihnen herausgegebenen Kommentars zum SGB V zu dem Ergebnis, dass sich Tendenzen zu einer „XXL-Gesetzgebung“ entwickelt haben, „die Normen produziert, die kaum noch lesbar sind und die Grenzen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebots austesten“. In dem Zusammenhang muss man wissen, dass die letzte große EBM-Reform im GKV-Modernisierungsgesetz von 2003 unter maßgeblicher Mitwirkung der KBV und der GKV-Verbände zustande gekommen ist.

Die teilweise groteske Detailversessenheit der §§ 87 ff. und 115 ff. SGB V ist das Ergebnis von Versuchen, den sich aus Konstruktionsfehlern unseres Gesundheitswesens ergebenden Fehlentwicklungen mit dem Add-on-Prinzip zu begegnen und in seitenlangen Bestimmungen alle Eventualitäten bei der Vertragsgestaltung zu berücksichtigen. In Lauterbachs Krankenhausreformgesetz werden diese Regelungen weiter verkompliziert. Diese Entwicklung ist die Folge der mangelnden Bereitschaft der Politik, wirkliche Strukturreformen im Gesundheitswesen anzugehen, mit denen Systemfehler wie die Mauer zwischen ambulanter und stationärer Versorgung beseitigt werden. Die neue Gesundheitsministerin Nina Warken sollte sich sofort nach ihrem Amtsantritt mit den Ländern zusammensetzen, um Karl Lauterbachs Gesetzentwurf zu entschlacken und praxisreif zu machen.

Der vor 20 Jahren neu aufgestellte Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) zeigt, wie das Selbstverwaltungsprinzip sachgerecht funktionieren kann. Er wird auch als „kleiner Gesetzgeber“ bezeichnet, weil er die im SGB V aus guten Gründen nur allgemein umrissenen Leistungen der GKV konkretisiert und bestimmt, welche neuen Behandlungsformen, Medizinprodukte und Medikamente ein kosteneffektiver Fortschritt sind und von den Kassen vergütet werden. Die politische Unabhängigkeit des G-BA war nicht nur Jens Spahn ein Dorn im Auge, der Versuche machte, dessen Entscheidungen durch das BMG zu kontrollieren. Sie wird auch vom medizinisch-industriellen Komplex angezweifelt mit dem Argument, der G-BA habe keine politische Legitimation für einen derart starken Einfluss auf die GKV-Leistungen. Darüber müssten die vom Volk gewählten Politiker entscheiden. Das ist pure Heuchelei, hinter der die Erfahrung steht, dass Interessenverbände auf Politiker mehr Einfluss ausüben können als auf Fachgremien wie den G-BA.

Im GMG von 2003 und im GKV-WSG von 2007 wurden die Aufgaben des entscheidungsschwachen früheren Bewertungsausschusses der Ärzte und Krankenkassen dem neu zusammengesetzten G-BA übertragen und auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt. Im Rahmen der Gesetzgebungsverfahren gab es die üblichen Gespräche mit Fachleuten. Ich erinnere mich an die Warnung des früheren KBV-Chefs Rainer Hess davor, die Entscheidung über Fragen einer evidenzbasierten Medizin in die Verantwortung des BMG zu stellen. Das würde den Einfluss der Lobbyverbände auf die Gesundheitspolitik stärken und die Entscheidungsprozesse über die Implementierung medizinischer Innovation in der Versorgung intransparenter machen. Außerdem habe das BMG gar nicht die personellen Ressourcen für diese Aufgabe. Das Argument überzeugte mich gerade als Ministerialbeamten. Das Selbstverwaltungsmodell des G-BA, dessen Entscheidungen öffentlich sind und vor Gerichten beklagt werden können, hat eine hohe fachliche und politische Legitimation. Parastaatlichen Institutionen wie dem G-BA kann man einklagbare Entscheidungsfristen setzen, Ministerien und Parlamenten aber nicht.  

 

Verschiebebahnhöfe und fragwürdige Dogmen

Die Gesundheits- und Sozialpolitik wird von fragwürdigen politökonomischen Dogmen wie der Steuer- und der Sozialabgabenbremse überlagert. Die Begrenzung der staatlichen Kreditaufnahme wurde sogar mit kleinteiligen Vorgaben ins Grundgesetz gehievt, wo sie nichts zu suchen hat. Derart konkrete und zudem umstrittene wirtschafts- und sozialpolitische Konzepte gehören, wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid als einer der Väter des Grundgesetzes seinerzeit im Parlamentarischen Rat betonte, in Regierungs- und Parteiprogramme, aber nicht in eine Verfassung. Das Gesundheitswesen hat sich bekanntlich zu einem riesigen Wirtschaftszweig entwickelt, in dem heute über sechs Millionen Menschen 13 Prozent des BIP erwirtschaften. Er wird zu etwa 80 Prozent aus Sozialabgaben und Steuern finanziert. Diese Quote ist europäischer Standard, selbst in dem weitgehend von privaten Anbietern dominierten US-Gesundheitswesen werden über 60 Prozent der Ausgaben vom Staat getragen. Entscheidungen über die Ressourcenverteilung werden politisch gefällt und damit von Interessenauseinandersetzungen geprägt.

Unser Sozialversicherungssystem speist sich weitgehend aus lohnbezogenen Sozialabgaben. Im Unterschied zur Rentenversicherung erhält die GKV aus dem Bundeshaushalt keine Zuschüsse, sondern nur Erstattungen für versicherungsfremde Leistungen, wie etwa zum Mutterschutz oder die medizinische Versorgung von Bürgergeldempfängern. Diese Transfers sind nicht kostendeckend und schonen den Bundeshaushalt zu Lasten der Krankenkassen. Auch die Länder entlasten sich auf Kosten der GKV, indem sie seit 25 Jahren ihre Verpflichtungen bei den Krankenhausinvestitionen halbiert haben mit der Folge, dass die Krankenhäuser versuchen, die fehlenden Mittel über die von den Krankenkassen gezahlten Vergütungen einzutreiben und ihre Leistungsmengen ausweiten. Das hat nicht nur den bekannten Investitionsstau bewirkt, sondern auch durch Kürzungen im Pflegebereich die Versorgungsqualität beeinträchtigt.

Bei dieser Verschiebebahnhofspolitik kommen sich die wirtschafts- und fiskalpolitischen Dogmen der Sozial- und der Schuldenbremse in die Quere. Beide Instrumente basieren auf umstrittenen akademischen Lehrmeinungen und haben keine nachweisbare Evidenz. Die vor allem von den Arbeitgeberverbänden geforderte Begrenzung der Sozialabgaben auf 40 Prozent des durchschnittlichen beitragspflichtigen Bruttolohns hat eine falsche Bezugsgröße. Zu den Arbeitskosten gehören nicht nur die Löhne, sondern auch die AU-Fälle, Sonderzahlungen, die Aus- und Weiterbildungskosten sowie betriebliche Sozialleistungen.

Unter Berücksichtigung dieser Faktoren kommt man auf einen Anteil der Lohnnebenkosten an den Arbeitskosten von ca. 27 Prozent, was dem EU-Durchschnitt entspricht. Außerdem sind nicht die Sozialabgaben für die globale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft relevant, sondern die gesamte Abgabenquote incl. Steuern. Dänemark z. B. hat eine gegen Null gehenden Sozialabgabenquote, aber eine im Vergleich zu uns hohe Steuerbelastung, die sich in hohen Konsumgüterpreisen niederschlägt. In der gesamten Abgabenlast liegt die deutsche Wirtschaft auf dem Level vergleichbarer Länder.

Die immer wieder auftauchenden Vorschläge, die GKV stärker aus Steuermitteln zu finanzieren, laufen auf ein Nullsummenspiel mit einem großen fiskalpolitischen Haken hinaus. Die Gesundheitsausgaben würden auch aus indirekten Steuern finanziert, was nicht nur die Einsparungen der Privathaushalte bei den Sozialabgaben auffressen, sondern auch die soziale Schieflage in der GKV-Finanzierung verstärken würde. Der Plan des früheren FDP-Gesundheitsministers Philipp Rösler (Wer erinnert sich noch an ihn?), den Sozialausgleich in der GKV aus dem Bundeshaushalt zu finanzieren, verschwand in der Ablage, als das Finanzministerium vorrechnete, dass so etwas ohne deutliche Anhebungen der Mehrwert- oder Einkommenssteuer nicht machbar ist.

Außerdem übersah er, dass seine eigene FDP-Klientel der Besserverdienenden dank der Beitragsbemessungsgrenze (BBG) von der einkommensbezogenen Beitragsgestaltung enorm profitiert. Wer mit seinem versicherungspflichtigen Einkommen über der BBG von zurzeit 5.512,50 Euro liegt und so klug ist, als freiwillig Versicherter in der GKV zu bleiben, zahlt mit wachsendem Einkommen einen sinkenden Beitragssatz. Der ist z. B. bei einem Monatsgehalt von 10.000 Euro nur halb so hoch wie bei Pflichtversicherten. Die Krankenversicherung der freiwillig Versicherten wird also von den unteren und mittleren Einkommensgruppen subventioniert. Ein wirklicher Sozialausgleich sieht anders aus.

Das Gesundheitswesen ist nicht nur wegen seiner ausgeprägten politischen Regulierung ein besonderer Wirtschaftszweig. Die seit fast 50 Jahren propagierte Orientierung der Gesundheitspolitik an stabilen Beitragssätzen in der GKV ist ein Holzweg, weil die Gesundheitsausgaben grundsätzlich stärker steigen als die Einkommen und das BIP. Eine einnahmeorientierte Ausgabenpolitik nach dem Rasenmäherprinzip führt daher zwangsläufig über kurz oder lang zu einer sich verschlechternden Versorgung für die Mehrzahl der Versicherten. Der US-Ökonom William Baumol bezeichnet das Phänomen der überproportional steigenden Gesundheitsausgaben als „cost disease“ und beschreibt es anhand eines Vergleichs der Preisentwicklung im US-Gesundheitswesen und bei Computern.[1] Aber dabei handelt es sich nicht um eine Krankheit, also einen abnormen Zustand, sondern um eine ökonomische Gesetzmäßigkeit.

Ärztliche und pflegerische Leistungen sind personenbezogene Dienste, die wegen ihrer geringeren Rationalisierbarkeit im Verhältnis zur industriellen Güterproduktion stetig teurer werden. Vor vierzig Jahren mussten Durchschnittsverdiener ein halbes Monatseinkommen für einen Farbfernseher bezahlen, heute bekommen sie ein weit besseres Gerät für einen halben Wochenlohn. Im selben Zeitraum stieg der durchschnittliche GKV-Beitragssatz von 11,7 auf 17,1 Prozent, die Zahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen nahm von 3,5 auf 6,1 Millionen zu. Dahinter stehen ein ökonomischer Strukturwandel und Verschiebungen in den Ausgaben der Privathaushalte, aber keine außer Kontrolle geratene Kostenexplosion.

Das heißt nicht, dass die Ausgabenentwicklung in unserem Gesundheitswesen normal und eigentlich kein Problem ist. In Deutschland waren die Gesundheitsausgaben 2022 pro Kopf und Jahr nach Angaben der OECD mit umgerechnet 8011 US-Dollar ($) deutlich höher als in Ländern mit einem vergleichbaren Versorgungsniveau wie den Niederlanden (6729 $), Frankreich (6630 $), Schweden (6438 $) oder Kanada (6319 $). Für dieses relativ hohe Ausgabenniveau sind vor allem zwei Strukturdefizite verantwortlich: die großen Mängel in der Koordination und Integration der Versorgungseinrichtungen und das duale System von Gesetzlicher und Privater Krankenversicherung (GKV, PKV).

Der Gesundheits-Sachverständigenrat (SVR-G) fordert seit Jahren die institutionelle Vernetzung von Arztpraxen, Krankenhäusern und Sozialstationen mit einer sektorenübergreifenden Bedarfsplanung. Seine vor allem im Gutachten 2009 dazu gemachten Vorschläge warten nach wie vor auf ihre Umsetzung. Die Folge sind jährlich über fünf Millionen stationäre Behandlungsfälle, die eigentlich ambulant versorgt werden könnten. Auch bei der Zahl der vermeidbaren Todesfälle pro 100.000 Einwohner steht Deutschland mit 171 schlechter da als vergleichbare Länder wie Frankreich (145), Italien (128) oder die Schweiz (115). Eine bessere Koordinierung der Versorgungsabläufe könnte unser Gesundheitswesen nicht nur effektiver, sondern auch kostengünstiger machen.

Deutschland hat als einziges Land in Europa ein duales Krankenversicherungssystem. Gut zehn Prozent der Bevölkerung haben eine private Vollversicherung, davon ist seltsamerweise etwa die Hälfte verbeamtet. Der Wirtschafts-Sachverständigenrat hat vor 20 Jahren, als er mit Bert Rürup ein im Gesundheitswesen sachkundiges Mitglied hatte, darauf hingewiesen, dass die Zweigleisigkeit von GKV und PKV ökonomisch nicht begründbar ist. Die durch die Wirtschaftspresse geisternde Behauptung, die PKV sei kosteneffizienter als die GKV und fördere den Wettbewerb im Gesundheitswesen, ist ein Märchen. Das Gegenteil ist der Fall. Die PKV gibt für die gleichen Leistungen pro versicherte Person etwa ein Drittel mehr aus als die GKV, wobei diese Mehrausgaben vor allem in der ambulanten Versorgung anfallen (2020: ärztliche Versorgung: + 52,4 %, Heilmittel / Physiotherapie: + 49,0 %). Die Verwaltungsausgaben der PKV sind pro versicherte Person doppelt so hoch wie in der GKV.

Von einer Förderung des Wettbewerbs kann auch keine Rede sein, weil es nur stark eingeschränkte Wechselmöglichkeiten zwischen der PKV und der GKV und auch innerhalb des PKV-Systems gibt. Hätten wir ein einheitliches soziales Krankenversicherungssystem und dort die in der Rentenversicherung geltende Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenzen, könnte rein rechnerisch der durchschnittliche GKV-Beitragssatz um drei Prozentpunkte niedriger sein als jetzt. Daher müssten die Arbeitgeberverbände eigentlich Anhänger einer Bürgerversicherung sein, weil die zu deutlich niedrigeren Sozialabgaben führen würde. Aber das lässt das ordnungspolitische Credo ihrer Funktionäre nicht zu, dass privatwirtschaftliche Systeme stets effektiver und effizienter sind als die öffentliche Wirtschaft. Es ist ein Beispiel für Irrwege, die man beschreitet, wenn man der eigenen Ideologie aufsitzt. 

 

Reformschwerpunkte

Nils Bandelow bringt gutes Regieren in Zusammenhang mit wissenschaftlicher Beratung: „Gesundheitspolitik braucht koordinierte Expertise“ (Observer vom 14.03. 2025). Allerdings gibt es keinen wirklichen Mangel an Erkenntnissen und validen Daten für effektive Reformen im Gesundheitswesen. In den 1970er Jahren traten Sozialwissenschaftler auf den Plan, die das Prinzip des politischen Durchwurstelns durch den Aufbau eines Systems von validen sozialen und ökonomischen Indikatoren überwinden wollten („Sozialindikatorenbewegung“). Dieser Initiative haben wir zum Beispiel das Sozioökonomische Panel (SOEP) zu verdanken, das laufend repräsentative Daten über soziale und ökonomische Entwicklungen aller Art liefern kann. Mittlerweile gibt es über den Gesundheitsfonds auch einen guten Überblick über die ökonomischen und morbiditätsbezogenen Strukturen der GKV. Der Gesundheits-Sachverständigenrat präsentiert seit Mitte der 1980er Jahre regelmäßig Expertisen zu Entwicklungen im Gesundheitswesen. Hinzu kommen Berichte von Krankenkassen über spezifische Probleme im Gesundheitswesen, insbesondere die WIdO-Reports zu verschiedenen Versorgungsbereichen und zur Arbeitsunfähigkeit.

Wir haben jedoch weniger eine wissenschaftsbasierte Politik als eine Politisierung der Wissenschaft, die sich u. a. darin äußert, dass entsprechende Beiräte und Sachverständigengremien nach politischem Proporz besetzt werden. Von den Auftragsarbeiten von, nun ja, Wissenschaftlern, die mit unseriösen Methoden Sonderinteressen zu Gemeinwohl veredeln wollen, soll hier gar nicht erst die Rede sein. Das Problem liegt in einer Scheu der politischen Klasse, sich den im Gesundheitswesen offen zutage liegenden Strukturproblemen zu widmen.

Der frühere Sozialminister Norbert Blüm verglich die Gesundheitspolitik vor 40 Jahren mit einem „Haifischbecken“, nachdem sein als „Jahrhundertreform“ angekündigtes Gesundheits-Reformgesetz (GRG) von der Lobby zerschossen worden war.[2] In der gesundheitspolitischen Arena muss man, um im Bild zu bleiben, die Zahl der Haie klein halten und sich auf wenige Reformschwerpunkte konzentrieren, für die man bereits im Vorfeld der Gesetzgebung politische Bündnisse schmieden sollte. Diese Erfahrung hat Karl Lauterbach ignoriert und ein Reformprojekt nach dem anderen in die Welt katapultiert, ohne sich um deren politische Rahmenbedingungen zu scheren. Das Ergebnis sind Reformruinen, der jetzt aufgeräumt werden müssen.

Dabei sollten zwei miteinander zusammenhängende und besonders dringliche Schwerpunkte im Vordergrund stehen: die Reform der stationären Versorgung und der Aufbau integrierter Versorgungsformen auf regionaler Ebene, die eine Reform der Notfallversorgung einschließt. Dieses komplexe Projekt wird alle Kraft in der Gesundheitspolitik brauchen und andere wichtige Vorhaben hintanstellen müssen, wie etwa die Reform der GKV-Struktur. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das duale System von GKV und PKV keine ökonomische und gesundheitspolitische Legitimation hat.

Aber seine Umwandlung in ein einheitliches Kranken- und Pflegeversicherungssystem (bitte nicht verwechseln mit einer Einheitsversicherung!) steht nicht nur vor großen politischen Hindernissen, sondern hat auch juristische Fallstricke. Einer solchen Bürgerversicherung steht zwar an sich verfassungsrechtlich nichts entgegen, aber schon die Frage, wem die Alterungsrückstellungen der PKV gehören, ist ungeklärt und wird beim Bundesverfassungsgericht landen. Aktuell kann es nur darum gehen, die GKV für die Beamtinnen und Beamte weiter zu öffnen.

Der oft beklagte Inkrementalismus in der Gesundheitspolitik ist kein Ausdruck von Politikversagen, sondern in demokratisch organisierten Politiksystemen unvermeidlich. Die Vorstellung, dass es einen für alle vernunftbegabten Menschen sichtbaren und einleuchtenden Leitstern des Gemeinwohls gibt, der der Politik den Weg weist, hat Joseph Schumpeter, der neben Keynes wohl bedeutendste Ökonom des 20. Jahrhunderts, schon vor 80 Jahren als Vorstellung aus der Welt „eines Eisenwarenhändlers des achtzehnten Jahrhunderts“ verspottet.

In der Gesundheitspolitik geht es nicht nur darum, eine für alle Einwohner zugängliche medizinische Versorgung bereitzustellen, wobei schon hier die Frage strittig ist, was darunter konkret zu verstehen ist. Es geht auch um unterschiedliche ökonomische Interessen in einem sehr besonderen Wirtschaftszweig, in dem über sechs Millionen Erwerbstätige anständig bezahlt werden wollen, es aber auch wie in keiner anderen Branche um humane und moralische Aspekte geht.

Wer angesichts der komplizierten politökonomischen Gemengelage im Gesundheitswesen eine große Reform fordert, die quasi auf einen Schlag die Strukturprobleme löst, zeigt damit politische Inkompetenz. Der Ruf nach dem starken Mann, der mal so richtig auf den Tisch haut und die politischen Akteure auf Trab bringt, war noch nie eine gute Idee. In der Gesundheitspolitik gilt in besonderem Maß das oft zitierte Postulat von Max Weber, dass in der Politik „ein starkes und langsames Bohren harter Bretter“ eine professionelle Tugend ist.

 

[1] Baumol, William: The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t. New Haven CT 2013 (Yale University Press)

[2] Sein für das Gesundheits-Reformgesetz von 1988 zuständiger Abteilungsleiter Karl Jung beschrieb diesen Sachverhalt so: „Das Gesundheits-Reformgesetz ist wie eine leckgeschlagene Yacht, die mit zerfetzten Segeln den Hafen erreicht hat.“ (Kölner Stadt-Anzeiger, 17. 12. 1988)

 

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Prof. Dr. Andreas Lehr, Dr. Ines Niehaus: „Kompendium der Governance des deutschen Gesundheitswesens“ , Observer Gesundheit, 3. Mai 2025. 


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